DIE FARBE DER ANGST
Die Welt von Dario Argento - Teil 2: 1977-1997

SUSPIRIASUSPIRIAEs war Thomas de Quinceys 1845 erschienenes Buch Suspiria de profundis, das Dario Argento zu seinen zwei nächsten Filmen inspirierte. In dem Essay Levana And Our Ladys Of Sorrow beschreibt de Quincey darin den Mythos der drei "Mütter der Schmerzen": Mater Lachrymarum, die Mutter der Tränen; Mater Suspiriorum, die Mutter der Seufzer und Mater Tenebrarum, die Mutter der Finsternis. Basierend auf diesen Gestalten und der Vorstellung, daß deren dunkles, verborgenes Wirken seit Urzeiten die Geschicke der Menschen lenkt, machte sich Argento zusammen mit Daria Nicolodi 1977 daran, das Drehbuch für einen "magischen Thriller" zu schreiben, es entstand SUSPIRIA : Die Amerikanerin Suzy Banyon (Jessica Harper) kommt nach Freiburg, um dort an einer Akademie Ballett zu studieren. Schon ihre Ankunft in einer stürmischen Regennacht gestaltet sich mysteriös und unheimlich: Eine Studentin flieht in Panik aus der Akademie, doch zuvor kann Suzy von ihr noch eine rätselhafte Bemerkung über eine "blaue Iris" aufschnappen - noch in der gleichen Nacht wird diese junge Frau zusammen mit einer Freundin Opfer eines bestialischen Mordes werden - und der verwirrten Suzy Banyon wird der Einlaß verwehrt. Als sie am nächsten Morgen erneut die Akademie aufsucht, wird sie zwar freundlich von der Direktorin Madame Blanc (Joan Bennett) empfangen, doch schon bald gerät der Aufenthalt für sie zu einem Trip in einen eskalierenden Alptraum, der schließlich hinter einer - durch eine blaue Iris gekennzeichnete - Geheimtür das Böse offenbart: Hinter der gediegenen Fassade der Akademie öffnet sich Suzy ein grauenvoller Abgrund aus schwarzer Magie und den geheimen Aktivitäten einer Hexengilde, an deren Spitze die seit über 70 Jahren SUSPIRIAtotgeglaubte Elena Marcos steht, die "schwarze Königin" - Mater Suspiriorum...? De Quinceys opiuminspirierte Ladys Of Sorrow standen zwar für das Grundkonzept von SUSPIRIA Pate, die meisten Ideen zur Handlung kamen allerdings von Daria Nicolodi. Das verfilmte Ergebnis dieser Kollaboration wurde eines der erfolgreichsten und zugleich schönsten Werke Dario Argentos: SUSPIRIA präsentiert sich als atemberaubende psychedelische Farborgie in Rot und Blau, in der der optische Ästhetizismus über der "logischen" Handlung dominiert; ein Trip durch einen Reigen abgelichteter Opiumträume - und wie diese, so lädt auch die illusorische Welt SUSPIRIAS zum Verweilen ein und verzaubert den Betrachter mit ihrer Schönheit, unter der gleichzeitig auch das Böse lauert. Die Musik des Films wurde von The Goblin in Zusammenarbeit mit Argento vor Beginn der Dreharbeiten aufgenommen und zur Stimulation den Schauspielern während der Dreharbeiten vorgespielt. Tatsächlich wirkt das Agieren der Akteure dann auch oft nahezu choreographisch abgestimmt mit dem immer wiederkehrenden, hypnotischen Suspiria -Thema, was eine seltsam traumwandlerische Stimmung in weiten Teilen des Films zur Folge hat. "Magie ist überall" wird in SUSPIRIA einmal gesagt, Magie ist so auch in allen Bildern dieses Films: Bilder voll von einer eigenartig schmerzlichen Ästhetik, die in einer märchenhaften Welt aus Jugendstil und Neoklassizismus Gestalt annehmen - teils so fragil wie die mädchenhaften Gestalten der Protagonistinnen, dann wieder von einer opernhaft berauschenden, sinnlichen Grausamkeit, und noch nie zuvor war das Sterben in Argentos Filmen so intensiv und schockierend inszeniert worden.

SUSPIRIADie Ermordung der beiden Studentinnen zu Beginn des Films gerät zu einem perfekt durchchoreographiertem Theater der Grausamkeit, dessen Bühne ein irrwitzig ausgeleuchtetes Jugendstilhaus ist. Diese Sequenz ist legendär geworden und veranlaßte bei der damaligen Premiere in Rom tatsächlich einige Zuschauer dazu, schreiend aus dem Kino zu rennen. Doch der gewaltsame Tod entbehrt hier völlig der Plakativität oder Komik eines konventionellen Splatterfilms, vielmehr wird er ein schöpferischer Akt, eine Form der Kunst, genau wie das Ballett, die Musik oder eben auch die phantastische Architektur, die dieses blutrote Märchenland kennzeichnet.
In der Gestalt Suzy Banyons findet sich hier auch erstmals in Argentos Filmen ein weiblicher Charakter als zentrale (Bezugs-)Figur. Traten die Frauen in seinen früheren Filmen vorwiegend nur als rächende Killer aktiv auf den Plan und nahmen sonst eher eine Randfunktion (eine frühere Ausnahme ist die Reporterin Gianna Brezzi in PROFONDO ROSSO) ein, so sollten sie in seinen späteren Filmen immer eine besondere Rolle spielen - ob als (oft etwas SUSPIRIAseltsame) Heldinnen, Mörderinnen oder kunstvoll dahingemordete Opfer der immer wiederkehrenden schwarzen Handschuhe. Letzteres wurde ihm von selbsternannten Hütern der Political Correctness oft genug als praktizierte Frauenfeindlichkeit ausgelegt. Nun scheint es eigentlich offensichtlich, daß die meisten Waschmittelwerbespots sexistischer sind, als Argentos Filme; nichtsdestotrotz sei auch hier einmal mehr des Maestros vielzitiertes Statement zu diesem Thema erwähnt: "Ich mag Frauen, vor allem schöne. Wenn sie gute Gesichter und Figuren haben, würde ich lieber zuschauen wie sie ermordet werden, als wenn es eine häßliche Frau oder ein Mann wäre..."
Innerhalb von 15 Wochen wurde SUSPIRIA in Italien und in München fertiggedreht. Dieser erste Ausflug in rein phantastische Gefilde wurde sein bis heute immer noch erfolgreichster Film und machte Argento schlagartig auch über die Grenzen seiner Heimat hinaus berühmt.
Bis zu Argentos nächstem eigenen Film sollte einige Zeit vergehen; zunächst entstand 1978 George A. Romeros DAWN OF THE DEAD (ZOMBI / ZOMBIE), an dem Dario Argento als Coproduzent sowie am Drehbuch und dem von The Goblin verfassten Soundtrack beteiligt war.

INFERNOGleichzeitig begann er an einem Drehbuch für die Fortsetzung des "Drei Mütter"-Zyklus zu arbeiten und 1980 begannen schleißlich die Dreharbeiten zu INFERNO (HORROR INFERNAL / FEUERTANZ DER ZOMBIES) : Dem dümmlichen deutschen Verleihtitel zINFERNOum Trotz gibt es in INFERNO keinen einzigen feuertanzenden Zombie - dies nur vorweg gesagt. Die Schriftstellerin Rose Elliot (Irene Miracle) lebt in New York in einem neogothischen Apartmenthaus, das von dem Architekten und Okkultismusexperten Varelli erbaut wurde, der vor Jahren auf mysteriöse Art spurlos verschwand. Eines Tages ersteht sie bei dem Antiquitätenhändler Kazanian (Sacha Pitoeff) das von Varelli verfasste Buch "Die drei Mütter", in welchem der Architekt schildert wie er den legendären drei Müttern begegnete und drei Häuser an drei Orten der Welt für sie entwarf und baute: Eines in Rom, eines in Freiburg und eines in New York... Sie schreibt davon ihrem Bruder Mark (Leigh McCloskey), der an einem Konservatorium in Rom Musik studiert, doch schon bald eskalieren die Dinge: Eine Kommilitonin Marks, die ebenfalls an ein Exemplar des Buches gerät, wird von einer schwarzgekleideten Gestalt ermordet; ebenso ergeht es bald darauf Rose. Im weiteren Verlauf wird auch der ahnungslose Mark Elliot, der nach New York zurückkehrt, um seine Schwester zu besuchen, in die rätselhaften Vorgänge um Varellis Haus verstrickt. Jeder, der dem dunklen Geheimnis des Hauses auf die Spur zu kommen droht, scheint dem Tode geweiht, und erste ein Fragment aus Roses Brief erweist sich für Mark als Schlüssel zur schrecklichen Wahrheit: Im Finale, bevor das Haus in einem Flammenmeer einstürzt, steht er Mater Tenebrarum gegenüber, die sich ihm als der Tod offenbahrt...INFERNO
Noch stärker als mit SUSPIRIA brach Argento bei INFERNO mit den Traditionen des klassischen Erzählkinos, und so wurde der Film denn auch von der konservativen Kritik zerrissen und stellt für Verfechter einer konventionellen Dramaturgie auch heute noch ein, im wahrsten Sinn des Wortes, rotes Tuch dar. Argentos Vision des Kinos ist eine auf einer außersprachlichen Ebene funktionierende, von Fritz Lang und vom Experimentalfilm inspirierte Form, in der der Stil immerwichtiger ist als die zu erzählende Geschichte - auch wenn dies den filmischen Konventionen widerspricht. Und so wird auch in INFERNO keine abgeschlossene, nachvollziehbare Geschichte erzählt: Vielmehr wird der Mythos um die drei Mütter, ihre höllischen Häuser und Varellis Buch hier zum adäquaten Rahmen für eine Aneinanderreihung episodenartiger Szenenfolgen, in denen die Protagonisten nichts weiter sind, als Schachfiguren im Spiel einer überirdischen Macht. Zu schnell erfüllt sich ihr Schicksal, als daß eine INFERNO- im konventionellen Kino vorausgesetzte - Identifikation des Zuschauers mit ihnen erfolgen könnte, und diese ist auch nicht gewollt, ebenso wenig wie Logik oder nachvollziehbare Motivation in INFERNO eine Rolle spielen. Der eigentliche Star des Films ist das phantastische Haus Varellis, das hinter seiner neogothischen Fassade einen labyrinthischen Mikrokosmos aus verzweigten Fluren, geheimen Gängen unter dem Boden und verborgenen Zimmern birgt, eine verborgene Welt, dominiert von einem tiefen, alles durchdringenden Rot. Die Architektur wird hier auf einmalige Weise zum Bindeglied zwischen der Realität und der "anderen" Seite, und parallel zu diesem Spukschloß der Moderne sind es die Dinge, die alltäglichen Gegenstände, die in INFERNO von Bedeutung sind - ein Schlüssel, ein Bild, ein Türknauf, ein Messer... Unter Argentos Regie erlangen sie eine neue Bedeutung, werden neben den Menschen zu gleichberechtigten Akteuren. "Die Dinge waren vor dem Menschen da", bemerkte Norbert Stresau (N. Stresau: Der Horror-Film, Heyne-Filmbibliothek) hierzu, "sie sind sich selbst genug, besitzen vielleicht sogar ein Eigenleben... Das Böse ist mit den Dingen liiert, zwischen beiden existiert eine natürlich Affinität, die umso tödlicher wird, je näher die Dinge dem Menschen stehen..." Der Anfang des Films führt diesen Zauber der Dinge besonders beeinduckend vor Augen: Im Keller des Hauses entdeckt Rose ein INFERNOLoch im Boden, das zu einem unüberschaubaren, völlig überfluteten Raum führt. Als sie sich über das Loch beugt, löst sich ihre Brosche und fällt in das Wasser. Vergeblich versucht sie das Schmuckstück zu erreichen und steigt schließlich durch das Loch hinab. Als sie der immer tiefer hinabschwebenden Brosche hinterhertaucht, eröffnet sich ihr der überflutete Raum als versunkene kleine Welt. Ein Kronleuchter, Teppiche, Möbel und ein verwaschenes Bild mit der Aufschrift Mater Tenebrarum befinden sich dort, seltsame Artefakte eines vergessenen (oder geheimen?) Lebens. Als sich plötzlich eine Tür öffnet wird Rose erstmals mit dem Grauen konfrontiert; halbverweste Leichen schweben von dort hervor und sie taucht in Panik nach oben. Bei der Flucht aus dem Keller vergißt sie ihr Feuerzeug (ein weiteres Ding!), das kurz darauf von einem Fremden mit schwarzen Handschuhen aufgehoben wird... Diese wunderschöne Sequenz, die wie ein abgefilmter Alptraum erscheint ist symptomatisch für den ganzen Film: Nichts wird erklärt, die Magie des Traumes ist und bleibt für den Betrachter die einzige Realität und das Unglaubliche muß geglaubt werden. Für die Realisation der Unterwasserszene war der Regisseur, Kameramann und Spezialeffekt-Experte Mario Bava verantwortlich, der dafür spezielle Glasmalereien anfertigte. Es war dies die letzte Arbeit Bavas, der noch im gleichen Jahr starb. Auch Daria Nicolodi (die hier die drogensüchtige Elise, eine Nachbarin Roses, verkörpert) war nach eigenen Angaben maßgeblich an der Entstehung des Films beteiligt; sie wirkte an der Dialoggestaltung sowie an dem Entwurf der "esoterischen" Szenen mit, wurde diesbezüglich jedoch nie INFERNOin den Credits erwähnt. Für Dario Argento selbst ist INFERNO ein mit vielen schlechten Erinnerungen verbundener Punkt in seiner Karriere, über den er selbst sagte: "Ich erinnere mich an diesen Film, wie an eine schlimme Krankheit." Während der Arbeit an dem Drehbuch litt er an einer Schreibblockade, für Monate isolierte er sich total, lebte in einer mönchischen selbstgewählten Askese und entfremdete sich dadurch vielen seiner Freunde - diese extreme Arbeitsmentalität, die bis über die Grenzen der Selbstaufgabe geht, ist typisch für Argento: "Ich schließe mich selbst monatelang ein... Wenn mir nichts einfällt, bestrafe ich ich selbst, verweigere mir alles... Aus diesen Gründen kommen meineFilme aus dem Herzen, und ich glaube, das sieht man... Inferno war die allerschlimmste Erfahrung, da ich viel opfern mußte, um diesen Film zu machen, und ich darüber viele Freunde verloren habe. Das Filmemachen ist für mich wichtiger als alles andere." Während der Dreharbeiten erkrankte Argento ernsthaft an Hepatitis und auch nach der Fertigstellung des Films rissen die Probleme noch lange nicht ab. Die für den internationalen Verleih zuständige 20th Century Fox blockierte aufgrund eines Managementwechsels den Film, und so war INFERNO außerhalb Italiens in kaum einem Kino zu sehen. Argentos Versuche die Rechte an dem Film zurückzukaufen mißlangen, und als schließlich Jahre später die US-Premiere in New York stattfand, war die amerikanische Fassung von den eigentlichen 107 Minuten Laufzeit auf gerade einmal 83 Minuten gekürzt worden. Es hatte achtzehn Monate Drehzeit und ein Budget von 3 Mio. $ gekostet, INFERNO zu drehen, doch das Publikum konnte offenbar wenig mit Argentos experimentellem Bilderrausch anfangen, und der Film wurde ein finanzieller Reinfall. Heute gilt er als einer der visuell herausragendsten Vertreter des neuen Horrorkinos.

TENEBREUngeachtet des kommerziellen Mißerfolgs von INFERNO wuchs gleichzeitig der Kreis von Argentos enthusiastischen Bewunderern, die nichts mit mehr Spannung entgegensahen als dem abschließenden dritten Teil der Drei Mütter-Trilogie.
Als Argento 1982 TENEBRE (TENEBRAE - DER KALTE HAUCH DES TODES / THE UNSANE) präsentierte, war die Überraschung groß, denn dieser Film hatte nichts mit den beiden Vorgängern zu tun, sondern war vielmehr ansatzweise eine Rückkehr zu Argentos Giallo-Wurzeln: Im Mittelpunkt des Geschehens steht der amerikanische Krimiautor Peter Neal (Anthony Franciosa), der zu einer Publicity-Tour für seinen neuen Bestseller Tenebrae nach Rom reist. Zeitgleich ereignet sich dort eine Serie völlig sinnloser, erschreckend brutaler Morde, die alle eindeutig auf den in Tenebrae geschilderten TENEBREGeschehnissen zu basieren scheinen. Für Peter Neal, der sich auf die Suche nach dem Mörder macht, beginnt ein Abstieg in vergessen und verdrängt geglaubte Abgründe und Obsessionen, an dessen Ende er sich selbst im Zentrum des Wahnsinns wiederfindet - der zivilisierte Schriftsteller, der scheinbar seine kreative Phantasie stets strikt von der Realität trennen kann, entdeckt sich selbst als frauenhassenden Psychopathen und seelischen Krüppel und muß daran zugrundegehen.
"Grundlos zu töten - das ist der heutige Horror", beschreibt Argento die Grundintention zu TENEBRE, dessen Inspirationen er auf Erlebnisse während eines Urlaubs in Los Angeles zurückführt: "Ein Fan hatte die Telefonnummer meines Zimmers herausgefunden und begann mit immer bedrohlicher werdenden Morddrohungen... Es erscheint mir symptomatisch für diese Stadt zu sein - die Heimat des sinnlosen Verbrechens. Ich wollte diese Atmosphäre in Tenebre hineinbringen. Für nichts zu morden, das sagt alles. Wenn du für Geld oder um irgendein Ziel zu erreichen tötest, so verstehe ich das, auch wenn ich es nicht entschuldigen kann. Aber wenn diese Handlung keinen Sinn hat, dann ist das abstoßender als alles andere... Als wir im Hilton wohnten, kamen drei Männer in die Lobby und erschossen einen japanischen Touristen... Warum? Vielleicht hat diese Art Gewalt ja irgendeinen verdrehten Anlaß. Aber man stelle sich vor, wenn nicht..."
TENEBREEingebettet in die eher in den Hintergrund tretende giallo -Rahmenhandlung werden hier insgesamt zwölf Morde als technisch perfekt inszenierte Spektakel präsentiert, so ließ Argento zu einer ausgedehnten Fahrt die Kamera eine Hauswand emporklettern, über das Dach gleiten, um an der anderen Wand wieder hinunterzufahren, bis schließlich die Hände des Mörders ins Bild kommen; diese filmische Umrundung eines Bauwerks war in der Kinogeschichte einmalig. Gleichzeitig wird der betrachter in TENEBRE immer wieder zu einem Trip in die verdrängten Erinnerungen des Killers eingeladen: Rückblenden führen an einen unwirklich-traumhaft erscheinenden Strand, wo eine junge Frau mit roten Schuhen (dargestellt von der Transsexuellen Eva Robins) eine Gruppe junger Männer provoziert. Diese Szenen strahlen eine eigenartige, untergründige sexuelle Unruhe aus und gestalten sich visuell als verblichene surreale Traumbilder aus Weiß und Rot; ein optischer Effekt, der durch die Verwendung spezieller neuer Scheinwerfer zustande kam, und der auch in den anderen Teilen des Films Anwendung findet. Es war Argentos Absicht, die Welt von TENEBRE (die ja eigentlich eine moderne, "reale" ist) irgendwie anders wirken zu lassen, gleich einer parallelen Realität zu der uns umgebenden - eine Intention, die er auch noch bei seinem nächsten Projekt PHENOMENA verfolgen sollte: "TENEBRE spielt in einer Welt, die von weniger Menschen bewohnt wird, was zur Folge hat, daß die Verbliebenen wohlhabender sind und weniger gedrängt leben... Irgendetwas geschah, damit es so werden konnte, aber niemand kann oder will sich erinnern." TENEBRE rief mit der graphischen Intensität der Gewaltdarstellungen moralisch bewegte Mitmenschen und Zensoren gleichermaßen auf den Plan, was in einigen Ländern - so auch in Deutschland - zu seiner Beschlagnahmung führte.

PHENOMENAIm Juni 1984 begannen in der Schweiz die Dreharbeiten zu PHENOMENA (PHENOMENA / CREEPERS) : Die fünfzehnjährige Amerikanerin Jennifer Corvino (Jennifer Connelly) kommt in ein idyllisch in den Schweizer Alpen gelegenes Mädchen-Internat; zur gleichen Zeit fallen mehrere der Schülerinnen einem offenbar geisteskranken Mörder zum Opfer. Jennifer ist ein seltsames Kind: Sie leidet an Somnambulismus und besitzt eine merkwürdige Affinität zu Insekten, die PHENOMENAsich darin äußert, daß sie mittels Telepathie fähig ist, mit ihnen zu kommunizieren. Schon in der ersten Nacht im Internat beginnt sie wieder zu schlafwandeln und wird bei ihrem unfreiwilligen nächtlichen Ausflug Zeugin eines neuen Mordes. Später lernt sie den an den Rollstuhl gefesselten Entomologen John MacGregor (Donald Pleasence) kennen, der mit seiner zahmen Schimpansin Inge zusammen in einem einsam gelegenen Haus lebt, und zwischen den beiden Insektenfreunden entwickelt sich schnell eine Freundschaft. Als wieder ein Mädchen ermordet wird, soll eine merkwürdige Hinterlassenschaft am Tatort schließlich auf die Spur des Killers führen: Maden des Großen Sarkophagus, einer Fliegenart, die sich bevorzugt von Leichen ernährt...
Mit einer völlig verrückten Story (die man eigentlich nicht nacherzählen kann, sondern sehen muß), einem mißgestalteten Kind als Killer und einem Finale mit einer rasiermesserschwingenden Schimpansin bietet PHENOMENA Kritikern ein ideales Verrißobjekt, doch Argento stört das wenig: Nach wie vor bezeichnet er PHENOMENA als einen seiner persönlichsten und liebsten Filme. Und tatsächlich ist ihm damit - trotz einiger Schwächen (so ist der kindliche Killer tatsächlich eher lächerlich als erschreckend) - ein wunderschönes und irgendwie eigenartig verspielt-verträumtes kleines Meisterwerk gelungen, eine skurrile Sympathieerklärung an alle Außenseiter dieser Welt... Eine mitreißende Mixtur aus poppiger Videoclip-Ästhetik und versponnener Märchenromantik läßt PHENOMENAjegliche fehlende Logik vergessen und lädt zu einem genüßlichen Eintauchen in PHENOMENA ein, in dem die damals gerade einmal 15 Jahre alte Hauptdarstellerin Jennifer Connelly bei ihren nächtlichen Ausflügen wie eine argentoeske Alice im Wunderland erscheint und der großartige Donald Pleasance endlich wieder einmal seinem Talent als Charakterdarsteller gerecht werden konnte. PHENOMENA war der erste Film, den Argento in englisch drehte und wurde in den Schweizer Alpen und in Zürich aufgenommen. Die kühlen, beinahe verblichen und ausgewaschen wirkenden wirkenden Farben des Films, kamen durch ein spezielles Filmmaterial zustande, das in Verbindung mit der von Technicolor entwickelten Entwicklungstechnik ENR funktioniert, welche eine 50%ige Reduktion der Farben vom Originalnegativ zur Folge hat. Diese nachträgliche Farbumwandlung mußte natürlich auch schon während der Dreharbeiten bedacht werden; so wurden überwiegend Kleidungsstücke in schwarz, weiß und grau verwendet und auch innerhalb des Produktionsdesigns die Elementarfarben auf ein Minimum reduziert. Das kühle Grün der Alpenlandschaft wurde als stechender Kontrast zu dem Beinahe-Schwarzweiß-Flair des restlichen Films erhalten.

OPERA1985 rief Argento seine eigene Produktionsfirma ins Leben - hauptsächlich allerdings mit dem Ziel sich selbst, bzw. die Projekte einiger Freunde, zu denen er die Drehbücher lieferte, zu produzieren sowie auch die Dokumentationen DARIO ARGENTO'S WORLD OF HORROR (1985, Regie: Michele Soavi) und DARIO ARGENTO - MASTER OF HORROR (1990, Regie: Luigi Cozzi). Seine erste diesbezügliche Arbeit war 1985 das Splatterspektakel DEMONI (DEMONS / DÄMONEN) unter der Regie von Lamberto Bava, dem ein Jahr darauf schon die betreffende Fortsetzung DEMONI 2 ... L'INCUBO RITORNA (DEMONS 2 / DÄMONEN 2) folgte, letzterer ein seelen- und anspruchsloser Aufguß des Vorläufers, wie er überflüssiger kaum sein konnte. Wesentlich interessanter sind in dieser Hinsicht die von Argento produzierten Arbeiten Michele Soavis, nämlich LA CHIESA (THE CHURCH) von 1989 und LA SETTA (THE SECT) von 1990. Soavi (der erstmals als Regieassistent bei PHENOMENA mit Argento zusammenarbeitete) gilt inzwischen, ebenso wie sein einstiger Mentor, als herausragende Ausnahmeerscheinung unter den neuen Horrorregisseuren.
OPERADoch wenden wir uns wieder Argentos Regiearbeiten zu: Im Verlauf des Jahres 1985 bot das Management des Sferisterio-Theaters in Macerata Argento an, bei der Aufführung von Giuseppe Verdis Rigoletto Regie zu führen; begeistert von dieser Aussicht machte er sich an die Vorbereitungen, doch aufgrund der heftigen Proteste konservativer Opernpuristen wurde das Angebot wieder zurückgezogen. Die Eindrücke, die Argento während der Vorbereitungsphase an der Oper jedoch bereits sammeln konnte, ließen ihn nicht los inspirierten ihn zu seinem nächsten Projekt. Vorher widmete er sich allerdings noch einer gänzlich anderen Materie, nämlich der Haute Couture, und inszenierte 1986 in Mailand eine Modenschau für Nicola Trussardi: Vor dem Bühnenhintergrund einer sturmgepeitschten Regennacht wurden die mit den neuesten Tussardi-Kreationen ausstaffierten Models dabei mit Messern attackiert und anschließend, eine elegante Spur von Kunstblut hinter sich lassend, in durchsichtigen Plastiksäcken von der Bühne getragen. Der 30minütige Videomitschnitt der Show wurde auch im italienischen Fernsehen ausgestrahlt, was eine Welle von Protesten nach sich zog... Am 25. Mai 1986 begannen dann in Parma, im Teatro Regio, die Dreharbeiten zu OPERA (TERROR AT THE OPERA / TERROR IN DER OPER) : Der Regisseur Marco (Ian Charleson) probt an der Mailänder Scala eine bombastische, moderne Inszenierung von Guiseppe Verdis Macbeth, bei der auch lebende Raben auf der Bühne eingesetzt werden sollen. Als die Stardiva durch einen Unfall ausfällt, erhält die junge, unbekannte Sängerin Betty (Christina Marsillach) die Hauptrolle der Lady Macbeth. Ihr Auftritt gerät zu einem glänzenden Erfolg, doch der Mord an einem Opernangestellten überschattet die Premiere, und Betty ahnt noch nicht, daß sie das eigentliche Ziel des Killers: Als sie die Nacht bei ihrem Freund Stefano verbringen will, dringt der maskierte Fremde in die Wohnung ein, überwältigt und fesselt Betty und befestigt mit Klebeband eine Reihe von Nadeln unter ihren Augen. Unfähig, die Augen zu schließen oder den Blick abzuwenden, muß sie mit ansehen, wie Stefano von dem Killer abgeschlachtet wird. Anschließend schneidet er Bettys Fesseln durch und verschwindet - nur, um wenig später das makabre Spiel zu wiederholen...
OPERAMit seinem 8-Mio-$-Budget wurde OPERA Argentos bislang aufwendigster Film, eine wahre visuelle Orgie für alle Argentophilen und Freunde innovativer Kameraführung: Vom Anfang bis zum Ende des Films scheint die Kamera niemals stillzustehen, zieht den Betrachter mit sich zu rasanten Fahrten durch Opernflure, gleitet in das Zwielicht unheimlicher Traumbilder oder - ein Höhepunkt des Films - schlüpft in die Perspektive der durch das Theater fliegenden Raben: Für diese Sequenz wurde extra ein Kamerakran unterhalb der Decke des Teatro Regio installiert, der es möglich machte im Finale des Films den kreisenden Sturzflug der freigelassenen Vögel zu simulieren (die "Generalprobe" für diese Aufnahme absolvierte Argento übrigens in einem vorher entstandenen OPERAWerbespot für FIAT). Doch die faszinierenden Bilder sind nur eine Facette, die OPERA zu einer bleibenden Erinnerung werden läßt, denn inmitten der verschwenderischen Farbenflut lauert als monochromes Vakuum der wahrscheinlich Perverseste in Argentos schwarzmaskierter, handschuhtragender Psychopathengalerie. Sein Angriff auf Bettys Augen ist gleichzeitig ein offener Affront gegen eine ungeschriebene Kinokonvention, eine Attacke auf das Publikum, wie Argento auch selbst schildert: "Jahrelang habe ich mich über die Leute geärgert, die sich bei den blutigen Szenen in meinen Filmen die Augen zuhalten. Ich filme diese Bilder, weil ich will, daß die Leute sie sehen, und nicht damit sie diese positive Konfrontation mit ihren Ängsten vermeiden und wegschauen. Also dachte ich mir: Wie wäre es möglich, das zu erreichen und jemanden zu zwingen, sich die grausamsten Morde anzusehen, ohne, daß er seine Augen abwenden kann..." Das Experiment gelang, und - wie für Argento typisch - ist es weniger die (gleichwohl vorhandene) offen sichtbare blutige Gewalt, die unter die Haut geht, als vielmehr der Blick auf die andere Seite der menschlichen Psyche, ein tiefschwarzer Abgrund, der sich hier anhand der Gestalt des Mörders Santini auftut. Santini war einst der Liebhaber von Bettys Mutter (auch eine Opernsängerin, wie angedeutet wird), und gleichzeitig das ausführende Werkzeug ihrer selbsterdachten, immer extremer werdenden sadomasochistischen Spielchen. In deren Verlauf wurde er allmählich selbst zum Sklaven seiner masochistischen Geliebten und mußte, während sie ihm gefesselt zusah, vor ihren Augen töten, bis sie eines Tages selbst zu seinem (willigen?) Opfer wurde. Die junge Betty ist für ihn eine Reinkarnation ihrer Mutter, eine Obsession, der er nur durch blutigen Terror seine Liebe zeigen kann. Betty selbst - die als Kind Zeuge der Geschehnisse wurde, diese jedoch aus ihrem Gedächtnis verdrängte - wird in immer wiederkehrenden Träumen mit der Vorgeschichte konfrontiert und erfährt erst im Finale des Films die Wahrheit. Wenn sie am Schluß beteuert, nicht wie ihre Mutter zu sein, klingt dies schon fast mehr wie ein verzweifelter und doch hoffnungsloser Versuch, ein vorbestimmtes Schicksal zu verneinen und hinterläßt den Eindruck eines beunruhigenden Open Ends.
Zwar wurde OPERA von Argentos Fans als neuer Kultfilm gefeiert, auf dem Kinomarkt war dem Film jedoch wenig Glück beschieden: Bei seiner Uraufführung in Rom, 1987, war OPERA noch ab 18 Jahren freigegeben. Eine darauf folgende, erheblich geschnittene und ab 14 Jahren freigegebene Version, stieß beim Publikum auf breites Desinteresse und wurde ein finanzielles Desaster. Auf der ein Jahr darauf folgenden Aufführung in Cannes floppte OPERA aufgrund der mißlungenen englischen Synchronisation und wurde anschließend neu synchronisiert und mit dem reißerischen Titel TERROR AT THE OPERA versehen auf den Markt gebracht. Der Originalversion mit 105 Minuten Laufzeit dürften noch die Videoveröffentlichungen in Italien (103 Minuten) und den Niederlanden (runde 100 Minuten - es fehlt ausgerechnet eine ausgedehnte Kamerafahrt...) am nächsten kommen, die in Deutschland erschienene Fassung wurde auf 88 Minuten zusammengekürzt.

TWO EVIL EYES / DUE OCCHI DIABOLICIIm Anschluß an OPERA produzierte Argento für den italienischen TV-Sender RAI die von 1987 bis 1988 ausgestrahlte Serie GIALLO, eine Mixtur aus Horrornews, Minithriller und Gameshow, bei der das Publikum den Täter erraten konnte. Die leidenschaftliche Verehrung für die Werke Edgar Allen Poes bildete die Basis für Argentos nächstes großes Projekt, das er in Kollaboration mit George A. Romero 1989 in den USA drehte: TWO EVIL EYES / DUE OCCHI DIABOLICI beinhaltet zwei (durch Poe inspirierte) Filme von jeweils einer knappen Stunde Laufzeit: George A. Romero (mit dessen Beitrag TWO EVIL EYES beginnt) verarbeitete The Facts In The Case Of M. Valdemar ; heraus kam ein recht mäßiges, eher am US-Mainstreamniveau orientiertes Filmchen. Eine gänzlich andere Dimension an Qualität lieferte allerdings Argentos Adaption der Erzählung The Black Cat, die hier ins heutige New York verlegt wird: Rod Usher (Harvey Keitel) ist ein Starfotograf, der seine Kunst dem Tod und dem Makabren widmet, so gehört die Dokumentation abartiger Verbrechen zu seinen favorisierten Gebieten. Doch allmählich scheint das dokumentierte Böse auch von ihm Besitz zu ergreifen: Als seine Freundin Annabel (Madeleine Potter) eine schwarze Katze findet und in das Haus bringt, empfindet Usher von Anfang an einen irrationalen Haß gegen das Tier... The Black Cat bietet die Rahmenhandlung in der gleichzeitig mehrere Hommagen an Poes Werk erscheinen, The Pit And The Pendulum, Berenice oder Annabel Lee sind nur einige der vorhandenen Reminiszenen. Trotz des modernen Umfelds gelang es Argento beeindruckend den Geist und die Atmosphäre von Poes Werken einzufangen; der mobide, (selbst)zerstörerische Seelentrip, den die Erzählung The Black Cat gewährt, wird hier filmisch wie auch darstellerisch glänzend realisiert. Harvey Keitel stellte als Anhänger des Method Acting mit seinen spontanen Improvisationen für Argento keinen leicht zu handhabenden Akteur dar, doch sein Rod Usher ist - neben den Auftritten von Vincent Price in Roger Cormans Klassikern - wohl eine der besten und überzeugendsten Film-Personifizierungen poeschen Wahnsinns. Im Zwang zum Inszenieren äußert sich hier dieser Wahn - als er an einem Tatort eine von einem Pendel durchtrennte Leiche fotografieren soll, setzt Usher vor dem Schnappschuß zum Entsetzen der Polizei die Maschinerie in Gang, um so das "perfekte Bild" zu bekommen. Die grauenvollste Inszenierung schließlich, das dokumentierte Töten (von Annabels Katze), ist der Auftakt zum endgültigen Fall von Rod Usher...

TRAUMAAuch Argentos nächstes Projekt war wieder in den USA angesiedelt. Im Sommer 1992 begannen in Minneapolis die Dreharbeiten zu TRAUMA (AURA / TRAUMA) : Die junge Aura Petrescu (Asia Argento) findet, nachdem sie aus einer Nervenklinik ausgebrochen ist, und ihre Eltern ermordet wurden, bei dem Grafiker David (TRAUMAChristopher Rydell) Unterschlupf. Während David noch versucht, Auras Verhalten zu ergründen - sie leidet an Anorexie und wird von rätselhaften Alpträumen heimgesucht - gibt es erneute Berichte über einen offensichtlich wahnsinnigen Serienkiller, der seine Opfer mit einer Drahtsäge enthauptet, und dem auch Auras Eltern zum Opfer fielen. Um ihr zu helfen, beschließt David auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Die Spur führt schließlich zu Auras scheinbar toter Mutter Adriana (Piper Laurie)... TRAUMA gestaltet sich als optisch durchgestylte und mit vielen Querverweisen versehene Hommage des "italienischen Hitchcock" an sein großes Vorbild: Die erste Begegnung zwischen Aura und David (er bewahrt sie auf einer Brücke vor einem Selbstmordversuch), ist eine mehr als deutliche Anspielung auf VERTIGO; der kleine Gabriel, der aus seinem Fenster die Wohnung des Mörders beobachtet erscheint wie eine kindliche Entsprechung des Voyeurs in REAR WINDOW, und in der Gestalt Adrianas findet sich schließlich auch noch die dominierende und tödliche (Über)Mutter, die im Zentrum des mörderischen Enigmas steht. Und wie der Übervater Alfred, so ist auch dessen geistiger Sprößling Dario faszinieTRAUMArt vom Spiel mit Freud, der Psychoanalyse und all ihren Krankheitsbildern, und jongliert mit allen möglichen Spielarten derselben - die Anorexie, die Magersucht als körperlich-seelische Reaktion auf unterdrückte sexuelle Ängste und elterlicher Oppression, dient als roter Faden in diesem komplexen freudianischen Bilderbogen. Die hier erzählte Story dominiert in diesem erstaunlich unblutigen Psychokrimi deutlich vor den eher zurückhaltenden Spezialeffekten, die Charaktere sind erstaunlich einfühlsam und realistisch in Szene gesetzt und erstmals seit PROFONDO ROSSO gab es auch einmal wieder eine Romanze in einem Argentofilm - eine ungewöhnliche natürlich, denn die minderjährige, magersüchtige Aura und der Ex-Junkie David sind alles andere als das Hollywood-Vorzeigepärchen. Argentos Tochter Asia (die hier ihre erste Hauptrolle bekam) war mit ihrer ganzen Körpersprache und ihrem interessanten, einprägsamen Gesicht, das so erfrischend anti-hollywoodlike wirkt, eine optimale Besetzung für den fragilen, in sich zerrissenen Charakter Auras. Darüberhinaus bietet TRAUMA natürlich die gewohnte technische Qualitätsarbeit, dennoch stieß der Film bei der Kritik auf wenig Gegenliebe und wurde auch vom Umsatz her ein katastrophaler Flop: In den USA kam TRAUMA nie in die Kinos und wurde als reine Videoveröffentlichung (von 106 auf 86 Minuten gekürzt) verheizt. In Europa begegnete man Argento mit dem Vorwurf, zu viele Kompromisse an den US-Mainstream gemacht zu haben, dem unumgänglichen "harten" Horrorfandom war der Film schlicht und einfach zu unblutig. Die einschlägige Fachpresse schien ebenfalls vergessen zu haben, wen sie noch vor wenigen Jahren als Genie umjubelt hatte, doch Totgesagte leben ja bekanntlich länger...

LA SINDROME DI STENDHALDas nächste Projekt führte Argento nach Florenz, genauer gesagt in die Uffizien, jenem 1560 erbauten Verwaltungskomplex, der heute eine der berühmtesten Kunstsammlungen der Welt beherbergt. Als erster Regisseur erhielt Dario Argento die Erlaubnis, dort einen Spielfilm zu drehen (eine Entscheidung, die in der italienischen Presse für entsprechenden Wirbel sorgte) und am 17. Juni 1995 begannen in Raum 16 der Uffizien die Dreharbeiten zu LA SINDROME DI STENDHAL (THE STENDHAL SYNDROME) : Die Polizistin Anna Manni (Asia Argento) wird auf die Spur eines Frauenmörders (Thomas Kretschmann) angesetzt, der in Florenz sein Unwesen treibt. Während eines Besuchs in den Uffizien erleidet sie einen seltsamen Ohnmachtsanfall; am gleichen Abend gerät sie in die Gewalt des Mörders. Er tötet vor ihren Augen, er vergewaltigt sie mehrmals - doch er läßt Anna am Leben und droht ihr, wiederzukommen...
LA SINDROME DI STENDHALTechnisch setzte Argento sich mit LA SINDROME ... selbst einen neuen Meilenstein. und offeriert dem Betrachter Bilder von einer oft irritierenden Perfektion: Mal dreht sich die Kamera um 360 Grad um Anna, um dann plötzlich in ihren Mund hinabzutauchen, dann folgt sie einer abgefeuerten Kugel auf ihrer Bahn durch das Opfer und ein andermal begleitet sie sogar zwei Pillen auf ihrem Weg vom Mund bis zum Magen, wo diese sich auflösen. Erstmals setzte Argento auch Computeranimationen in einem Film ein, und so werden die Bilder von Botticeli und Breughel zu lebendigen Bestandteilen in Annas Träumen, Rembrandts Nachtwache beginnt zu wispern und zu atmen, und ein Graffiti steigt von der Wand ihres Gefängnisses zu ihr herab. Doch abseits der optischen Raffinesse ist LA SINDROME ... der bislang wahrscheinlich beunruhigendste und grausamste Film in Argentos Karriere, und das obwohl er erstaunlich wenig "typische" Horrorelemente beinhaltet. Vielmehr bietet sich hier ein beklemmender, unter die Haut gehender Horrortrip durch die schwärzesten Seiten der menschlichen Psyche. Das titelgebende Stendhal-Syndrom ist ein tatsächlich existierendes Krankheitsbild, das durch eine Übersensibilisierung während der Konfrontation mit visueller Kunst zu Tage tritt, und sich in einem schockartigen Ohnmachtsanfall äußert - benannt wurde dieses Leiden nach dem ersten populären Fall, dem französischen Schriftsteller Marie Henri Beyle, besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal. Argento ließ sich hier durch die psychoanalytischen Motive in Alfred Hitchcocks SPELLBOUND und vor allem durch das Buch La sindrome di Stendhal der LA SINDROME DI STENDHALPsychiaterin Grazielle Magherini inspirieren, in dem diese u. a. erwähnt, daß im größten Krankenhaus von Florenz tatsächlich immer drei Betten für Leute freigehalten werden, die in den Uffizien einen solchen "Kunstschock" erleiden. Argento verknüpfte dieses Phänomen mit der beunruhigenden Vorstellung von einer (Über)Macht der Bilder, von einem, sich der menschlichen Ratio entziehenden, Eigenleben der Kunst: "Du schaust auf ein Gemälde und deine Seele ändert sich. Du betrachtest ein Meisterwerk und es ist unmöglich, danach noch dieselbe Person zu sein. In einem Winkel kannst du in einem kleinen Detail etwas Böses entdecken, von dem du weißt, daß es den Künstler vor Ewigkeiten gequält hat..." Auch die im Zentrum der Story stehende Polizistin Anna (eine in ihrer Intensität unter die Haut gehende Performance Asia LA SINDROME DI STENDHALArgentos) leidet am Stendhal-Syndrom, und auch sie wird erstmals in den Uffizien damit konfrontiert, bevor sie zum Objekt in dem sadistischen Katz-und-Maus-Spiel des Killers Alfredo wird. Es ist nicht eine explizite grafische Darstellung der ihr zugefügten Torturen - denn Argento begibt sich hier keinesfalls in plakative Exploitationgefilde - sondern vielmehr deren Auswirkung auf Annas Psyche, die den Horror von LA SINDROME ... ausmacht. Nach dem Überfall in Florenz ist Anna unfähig ihr bisheriges Leben fortzuführen: Sie verändert ihr Äußeres, macht mit ihrem Freund Schluß, begibt sich in psychiatrische Behandlung - vergeblich, alle Versuche, das Erlebte zu überwinden oder zu kompensieren scheitern, und überall verfolgt sie die unsichtbare Bedrohung durch Alfredo, der allmählich zu einem ständig präsenten Faktor ihrer Existenz wird. Als sie schließlich noch einmal von ihm entführt und in einem Kellerraum gefangen gehalten wird, eskalieren die Dinge. Zwar kann sie sich befreien und ihn töten - eine der wenigen visuell brutalen Szenen des Films - doch damit endet der Alptraum, der sich in Annas Geist längst verselbständigt hat, nicht. Alfredo ist zu einem Teil von ihr geworden, der schließlich seinen Tribut fordert. In einer gereiften und zugleich intensivierten Form führt Argento hier den bereits bei L'UCCELLO ... begonnenen Themenkreis der Opfer-/Täter-Identifizierung (abermals in ihrer Geschlechtergrenzen überschreitenden Form) und des "Kunstschocks" zu einem völlig desillusionierten Ende. Die langjährige Obsession mit der "tödlichen Kunst" hat in LA SINDROME ... endgültig Gestalt angenommen.

Zusammen mit dem Horrorveteranen Lucio Fulci entwarf Argento 1996 das auf einer Erzählung von Gaston Leroux basierende Drehbuch zu LA MASCHERA DI CERA (WAX MASK), einem Projekt, das von Argento zugleich coproduziert wurde und bei dem Fulci die Regie übernehmen sollte. Während der Produktionsvorbereitungen verstarb Fulci jedoch und Argentos langjähriger Special Effect-Experte Sergio Stivaletti bekam somit die Chance seine erste Regiearbeit zu absolvieren. Das Ergebnis wurde ein hübscher, handwerklich solide gemachter Horrorfilm, der zwar ein wenig der zu erwartenden visuellen Kraft und Eigenheit entbehrt, doch nichtsdestotrotz bestens unterhält.
Dieser Ausflug in klassische Kostümhorror-Gefilde dürfte für Argento zugleich ein Vorgeschmack auf sein nächstes eigenes Projekt gewesen sein, das ebenfalls auf einer Novelle Gaston Leroux' basiert: 1997 begannen die Dreharbeiten zu seinem neuesten Film IL FANTASMA DELL' OPERA (DAS PHANTOM DER OPER / THE PHANTOM OF THE OPERA).

"Die Farbe der Angst ist Silber" lautete einst eine Ankündigung zu LA SINDROME DI STENDHAL - ein hübsches Wortspiel, das die eingangs gestellte Frage beantwortet, denn das italienische Wort für Silber ist argento.

© Thomas Wagner


Nachtrag: Dieser Artikel wurde Anfang 1999 fertiggestellt; in der Zwischenzeit entstanden die Gaston Leroux-Verfilmung IL FANTASMA DELL' OPERA (1999) und NON HO SONNO (2000), ein Thriller, mit dem Argento offensichtlich wieder zu seinen Giallowurzeln zurückgekehrt ist.


Lesenswertes zu Dario Argento:

- Mondo Argento (Alan Jones, Midnight Media Publishing, 1996)
- Broken Mirrors/Broken Minds (Matland McDonagh, Citadel Press 1994)
- "The Gallery Murders" (Peter Blumenstock in Giallo Pages Special Issue , 1996)
- "Dario Argento And Visual Displeasure" (Ray Guins in Necronomicon Book One , Creation Books, 1996)
- Interviews mit Argento in SPLATTING IMAGE # 16 u. 26

Bitte beachten Sie das Copyright! Alle Texte auf dieser Website dürfen nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Autoren abgedruckt oder wiederverwendet werden (dies gilt auch für Veröffentlichungen im Internet)!


zurück zu Teil 1 | Home | zurück zu La Maschera