| DIE FARBE DER ANGST
Die Welt von Dario Argento - Teil 2: 1977-1997
 Es
war Thomas de Quinceys 1845 erschienenes Buch Suspiria de profundis, das Dario
Argento zu seinen zwei nächsten Filmen inspirierte. In dem Essay Levana And
Our Ladys Of Sorrow beschreibt de Quincey darin den Mythos der drei "Mütter
der Schmerzen": Mater Lachrymarum, die Mutter der Tränen; Mater Suspiriorum,
die Mutter der Seufzer und Mater Tenebrarum, die Mutter der Finsternis. Basierend
auf diesen Gestalten und der Vorstellung, daß deren dunkles, verborgenes
Wirken seit Urzeiten die Geschicke der Menschen lenkt, machte sich Argento zusammen
mit Daria Nicolodi 1977 daran, das Drehbuch für einen "magischen Thriller"
zu schreiben, es entstand SUSPIRIA : Die Amerikanerin Suzy Banyon (Jessica Harper)
kommt nach Freiburg, um dort an einer Akademie Ballett zu studieren. Schon ihre
Ankunft in einer stürmischen Regennacht gestaltet sich mysteriös und
unheimlich: Eine Studentin flieht in Panik aus der Akademie, doch zuvor kann Suzy
von ihr noch eine rätselhafte Bemerkung über eine "blaue Iris"
aufschnappen - noch in der gleichen Nacht wird diese junge Frau zusammen mit einer
Freundin Opfer eines bestialischen Mordes werden - und der verwirrten Suzy Banyon
wird der Einlaß verwehrt. Als sie am nächsten Morgen erneut die Akademie
aufsucht, wird sie zwar freundlich von der Direktorin Madame Blanc (Joan Bennett)
empfangen, doch schon bald gerät der Aufenthalt für sie zu einem Trip
in einen eskalierenden Alptraum, der schließlich hinter einer - durch eine
blaue Iris gekennzeichnete - Geheimtür das Böse offenbart: Hinter der
gediegenen Fassade der Akademie öffnet sich Suzy ein grauenvoller Abgrund
aus schwarzer Magie und den geheimen Aktivitäten einer Hexengilde, an deren
Spitze die seit über 70 Jahren totgeglaubte
Elena Marcos steht, die "schwarze Königin" - Mater Suspiriorum...?
De Quinceys opiuminspirierte Ladys Of Sorrow standen zwar für das Grundkonzept
von SUSPIRIA Pate, die meisten Ideen zur Handlung kamen allerdings von Daria Nicolodi.
Das verfilmte Ergebnis dieser Kollaboration wurde eines der erfolgreichsten und
zugleich schönsten Werke Dario Argentos: SUSPIRIA präsentiert sich als
atemberaubende psychedelische Farborgie in Rot und Blau, in der der optische Ästhetizismus
über der "logischen" Handlung dominiert; ein Trip durch einen Reigen
abgelichteter Opiumträume - und wie diese, so lädt auch die illusorische
Welt SUSPIRIAS zum Verweilen ein und verzaubert den Betrachter mit ihrer Schönheit,
unter der gleichzeitig auch das Böse lauert. Die Musik des Films wurde von
The Goblin in Zusammenarbeit mit Argento vor Beginn der Dreharbeiten aufgenommen
und zur Stimulation den Schauspielern während der Dreharbeiten vorgespielt.
Tatsächlich wirkt das Agieren der Akteure dann auch oft nahezu choreographisch
abgestimmt mit dem immer wiederkehrenden, hypnotischen Suspiria -Thema, was eine
seltsam traumwandlerische Stimmung in weiten Teilen des Films zur Folge hat. "Magie
ist überall" wird in SUSPIRIA einmal gesagt, Magie ist so auch in allen
Bildern dieses Films: Bilder voll von einer eigenartig schmerzlichen Ästhetik,
die in einer märchenhaften Welt aus Jugendstil und Neoklassizismus Gestalt
annehmen - teils so fragil wie die mädchenhaften Gestalten der Protagonistinnen,
dann wieder von einer opernhaft berauschenden, sinnlichen Grausamkeit, und noch
nie zuvor war das Sterben in Argentos Filmen so intensiv und schockierend inszeniert
worden.
Die
Ermordung der beiden Studentinnen zu Beginn des Films gerät zu einem perfekt
durchchoreographiertem Theater der Grausamkeit, dessen Bühne ein irrwitzig
ausgeleuchtetes Jugendstilhaus ist. Diese Sequenz ist legendär geworden und
veranlaßte bei der damaligen Premiere in Rom tatsächlich einige Zuschauer
dazu, schreiend aus dem Kino zu rennen. Doch der gewaltsame Tod entbehrt hier
völlig der Plakativität oder Komik eines konventionellen Splatterfilms,
vielmehr wird er ein schöpferischer Akt, eine Form der Kunst, genau wie das
Ballett, die Musik oder eben auch die phantastische Architektur, die dieses blutrote
Märchenland kennzeichnet.
In der Gestalt Suzy Banyons findet sich hier auch erstmals in Argentos Filmen
ein weiblicher Charakter als zentrale (Bezugs-)Figur. Traten die Frauen in seinen
früheren Filmen vorwiegend nur als rächende Killer aktiv auf den Plan
und nahmen sonst eher eine Randfunktion (eine frühere Ausnahme ist die Reporterin
Gianna Brezzi in PROFONDO ROSSO) ein, so sollten sie in seinen späteren Filmen
immer eine besondere Rolle spielen - ob als (oft etwas seltsame)
Heldinnen, Mörderinnen oder kunstvoll dahingemordete Opfer der immer wiederkehrenden
schwarzen Handschuhe. Letzteres wurde ihm von selbsternannten Hütern der
Political Correctness oft genug als praktizierte Frauenfeindlichkeit ausgelegt.
Nun scheint es eigentlich offensichtlich, daß die meisten Waschmittelwerbespots
sexistischer sind, als Argentos Filme; nichtsdestotrotz sei auch hier einmal mehr
des Maestros vielzitiertes Statement zu diesem Thema erwähnt: "Ich mag
Frauen, vor allem schöne. Wenn sie gute Gesichter und Figuren haben, würde
ich lieber zuschauen wie sie ermordet werden, als wenn es eine häßliche
Frau oder ein Mann wäre..."
Innerhalb von 15 Wochen wurde SUSPIRIA in Italien und in München fertiggedreht.
Dieser erste Ausflug in rein phantastische Gefilde wurde sein bis heute immer
noch erfolgreichster Film und machte Argento schlagartig auch über die Grenzen
seiner Heimat hinaus berühmt.
Bis zu Argentos nächstem eigenen Film sollte einige Zeit vergehen; zunächst
entstand 1978 George A. Romeros DAWN OF THE DEAD (ZOMBI / ZOMBIE), an dem Dario
Argento als Coproduzent sowie am Drehbuch und dem von The Goblin verfassten Soundtrack
beteiligt war.
Gleichzeitig
begann er an einem Drehbuch für die Fortsetzung des "Drei Mütter"-Zyklus
zu arbeiten und 1980 begannen schleißlich die Dreharbeiten zu INFERNO (HORROR
INFERNAL / FEUERTANZ DER ZOMBIES) : Dem dümmlichen deutschen Verleihtitel
z um
Trotz gibt es in INFERNO keinen einzigen feuertanzenden Zombie - dies nur vorweg
gesagt. Die Schriftstellerin Rose Elliot (Irene Miracle) lebt in New York in einem
neogothischen Apartmenthaus, das von dem Architekten und Okkultismusexperten Varelli
erbaut wurde, der vor Jahren auf mysteriöse Art spurlos verschwand. Eines
Tages ersteht sie bei dem Antiquitätenhändler Kazanian (Sacha Pitoeff)
das von Varelli verfasste Buch "Die drei Mütter", in welchem der
Architekt schildert wie er den legendären drei Müttern begegnete und
drei Häuser an drei Orten der Welt für sie entwarf und baute: Eines
in Rom, eines in Freiburg und eines in New York... Sie schreibt davon ihrem Bruder
Mark (Leigh McCloskey), der an einem Konservatorium in Rom Musik studiert, doch
schon bald eskalieren die Dinge: Eine Kommilitonin Marks, die ebenfalls an ein
Exemplar des Buches gerät, wird von einer schwarzgekleideten Gestalt ermordet;
ebenso ergeht es bald darauf Rose. Im weiteren Verlauf wird auch der ahnungslose
Mark Elliot, der nach New York zurückkehrt, um seine Schwester zu besuchen,
in die rätselhaften Vorgänge um Varellis Haus verstrickt. Jeder, der
dem dunklen Geheimnis des Hauses auf die Spur zu kommen droht, scheint dem Tode
geweiht, und erste ein Fragment aus Roses Brief erweist sich für Mark als
Schlüssel zur schrecklichen Wahrheit: Im Finale, bevor das Haus in einem
Flammenmeer einstürzt, steht er Mater Tenebrarum gegenüber, die sich
ihm als der Tod offenbahrt...
Noch stärker als mit SUSPIRIA brach Argento bei INFERNO mit den Traditionen
des klassischen Erzählkinos, und so wurde der Film denn auch von der konservativen
Kritik zerrissen und stellt für Verfechter einer konventionellen Dramaturgie
auch heute noch ein, im wahrsten Sinn des Wortes, rotes Tuch dar. Argentos Vision
des Kinos ist eine auf einer außersprachlichen Ebene funktionierende, von
Fritz Lang und vom Experimentalfilm inspirierte Form, in der der Stil immerwichtiger
ist als die zu erzählende Geschichte - auch wenn dies den filmischen Konventionen
widerspricht. Und so wird auch in INFERNO keine abgeschlossene, nachvollziehbare
Geschichte erzählt: Vielmehr wird der Mythos um die drei Mütter, ihre
höllischen Häuser und Varellis Buch hier zum adäquaten Rahmen für
eine Aneinanderreihung episodenartiger Szenenfolgen, in denen die Protagonisten
nichts weiter sind, als Schachfiguren im Spiel einer überirdischen Macht.
Zu schnell erfüllt sich ihr Schicksal, als daß eine -
im konventionellen Kino vorausgesetzte - Identifikation des Zuschauers mit ihnen
erfolgen könnte, und diese ist auch nicht gewollt, ebenso wenig wie Logik
oder nachvollziehbare Motivation in INFERNO eine Rolle spielen. Der eigentliche
Star des Films ist das phantastische Haus Varellis, das hinter seiner neogothischen
Fassade einen labyrinthischen Mikrokosmos aus verzweigten Fluren, geheimen Gängen
unter dem Boden und verborgenen Zimmern birgt, eine verborgene Welt, dominiert
von einem tiefen, alles durchdringenden Rot. Die Architektur wird hier auf einmalige
Weise zum Bindeglied zwischen der Realität und der "anderen" Seite,
und parallel zu diesem Spukschloß der Moderne sind es die Dinge, die alltäglichen
Gegenstände, die in INFERNO von Bedeutung sind - ein Schlüssel, ein
Bild, ein Türknauf, ein Messer... Unter Argentos Regie erlangen sie eine
neue Bedeutung, werden neben den Menschen zu gleichberechtigten Akteuren. "Die
Dinge waren vor dem Menschen da", bemerkte Norbert Stresau (N. Stresau: Der
Horror-Film, Heyne-Filmbibliothek) hierzu, "sie sind sich selbst genug, besitzen
vielleicht sogar ein Eigenleben... Das Böse ist mit den Dingen liiert, zwischen
beiden existiert eine natürlich Affinität, die umso tödlicher wird,
je näher die Dinge dem Menschen stehen..." Der Anfang des Films führt
diesen Zauber der Dinge besonders beeinduckend vor Augen: Im Keller des Hauses
entdeckt Rose ein Loch
im Boden, das zu einem unüberschaubaren, völlig überfluteten Raum
führt. Als sie sich über das Loch beugt, löst sich ihre Brosche
und fällt in das Wasser. Vergeblich versucht sie das Schmuckstück zu
erreichen und steigt schließlich durch das Loch hinab. Als sie der immer
tiefer hinabschwebenden Brosche hinterhertaucht, eröffnet sich ihr der überflutete
Raum als versunkene kleine Welt. Ein Kronleuchter, Teppiche, Möbel und ein
verwaschenes Bild mit der Aufschrift Mater Tenebrarum befinden sich dort, seltsame
Artefakte eines vergessenen (oder geheimen?) Lebens. Als sich plötzlich eine
Tür öffnet wird Rose erstmals mit dem Grauen konfrontiert; halbverweste
Leichen schweben von dort hervor und sie taucht in Panik nach oben. Bei der Flucht
aus dem Keller vergißt sie ihr Feuerzeug (ein weiteres Ding!), das kurz
darauf von einem Fremden mit schwarzen Handschuhen aufgehoben wird... Diese wunderschöne
Sequenz, die wie ein abgefilmter Alptraum erscheint ist symptomatisch für
den ganzen Film: Nichts wird erklärt, die Magie des Traumes ist und bleibt
für den Betrachter die einzige Realität und das Unglaubliche muß
geglaubt werden. Für die Realisation der Unterwasserszene war der Regisseur,
Kameramann und Spezialeffekt-Experte Mario Bava verantwortlich, der dafür
spezielle Glasmalereien anfertigte. Es war dies die letzte Arbeit Bavas, der noch
im gleichen Jahr starb. Auch Daria Nicolodi (die hier die drogensüchtige
Elise, eine Nachbarin Roses, verkörpert) war nach eigenen Angaben maßgeblich
an der Entstehung des Films beteiligt; sie wirkte an der Dialoggestaltung sowie
an dem Entwurf der "esoterischen" Szenen mit, wurde diesbezüglich
jedoch nie in
den Credits erwähnt. Für Dario Argento selbst ist INFERNO ein mit vielen
schlechten Erinnerungen verbundener Punkt in seiner Karriere, über den er
selbst sagte: "Ich erinnere mich an diesen Film, wie an eine schlimme Krankheit."
Während der Arbeit an dem Drehbuch litt er an einer Schreibblockade, für
Monate isolierte er sich total, lebte in einer mönchischen selbstgewählten
Askese und entfremdete sich dadurch vielen seiner Freunde - diese extreme Arbeitsmentalität,
die bis über die Grenzen der Selbstaufgabe geht, ist typisch für Argento:
"Ich schließe mich selbst monatelang ein... Wenn mir nichts einfällt,
bestrafe ich ich selbst, verweigere mir alles... Aus diesen Gründen kommen
meineFilme aus dem Herzen, und ich glaube, das sieht man... Inferno war die allerschlimmste
Erfahrung, da ich viel opfern mußte, um diesen Film zu machen, und ich darüber
viele Freunde verloren habe. Das Filmemachen ist für mich wichtiger als alles
andere." Während der Dreharbeiten erkrankte Argento ernsthaft an Hepatitis
und auch nach der Fertigstellung des Films rissen die Probleme noch lange nicht
ab. Die für den internationalen Verleih zuständige 20th Century Fox
blockierte aufgrund eines Managementwechsels den Film, und so war INFERNO außerhalb
Italiens in kaum einem Kino zu sehen. Argentos Versuche die Rechte an dem Film
zurückzukaufen mißlangen, und als schließlich Jahre später
die US-Premiere in New York stattfand, war die amerikanische Fassung von den eigentlichen
107 Minuten Laufzeit auf gerade einmal 83 Minuten gekürzt worden. Es hatte
achtzehn Monate Drehzeit und ein Budget von 3 Mio. $ gekostet, INFERNO zu drehen,
doch das Publikum konnte offenbar wenig mit Argentos experimentellem Bilderrausch
anfangen, und der Film wurde ein finanzieller Reinfall. Heute gilt er als einer
der visuell herausragendsten Vertreter des neuen Horrorkinos.
Ungeachtet
des kommerziellen Mißerfolgs von INFERNO wuchs gleichzeitig der Kreis von
Argentos enthusiastischen Bewunderern, die nichts mit mehr Spannung entgegensahen
als dem abschließenden dritten Teil der Drei Mütter-Trilogie.
Als Argento 1982 TENEBRE (TENEBRAE - DER KALTE HAUCH DES TODES / THE UNSANE) präsentierte,
war die Überraschung groß, denn dieser Film hatte nichts mit den beiden
Vorgängern zu tun, sondern war vielmehr ansatzweise eine Rückkehr zu
Argentos Giallo-Wurzeln: Im Mittelpunkt des Geschehens steht der amerikanische
Krimiautor Peter Neal (Anthony Franciosa), der zu einer Publicity-Tour für
seinen neuen Bestseller Tenebrae nach Rom reist. Zeitgleich ereignet sich dort
eine Serie völlig sinnloser, erschreckend brutaler Morde, die alle eindeutig
auf den in Tenebrae geschilderten Geschehnissen
zu basieren scheinen. Für Peter Neal, der sich auf die Suche nach dem Mörder
macht, beginnt ein Abstieg in vergessen und verdrängt geglaubte Abgründe
und Obsessionen, an dessen Ende er sich selbst im Zentrum des Wahnsinns wiederfindet
- der zivilisierte Schriftsteller, der scheinbar seine kreative Phantasie stets
strikt von der Realität trennen kann, entdeckt sich selbst als frauenhassenden
Psychopathen und seelischen Krüppel und muß daran zugrundegehen.
"Grundlos zu töten - das ist der heutige Horror", beschreibt Argento
die Grundintention zu TENEBRE, dessen Inspirationen er auf Erlebnisse während
eines Urlaubs in Los Angeles zurückführt: "Ein Fan hatte die Telefonnummer
meines Zimmers herausgefunden und begann mit immer bedrohlicher werdenden Morddrohungen...
Es erscheint mir symptomatisch für diese Stadt zu sein - die Heimat des sinnlosen
Verbrechens. Ich wollte diese Atmosphäre in Tenebre hineinbringen. Für
nichts zu morden, das sagt alles. Wenn du für Geld oder um irgendein Ziel
zu erreichen tötest, so verstehe ich das, auch wenn ich es nicht entschuldigen
kann. Aber wenn diese Handlung keinen Sinn hat, dann ist das abstoßender
als alles andere... Als wir im Hilton wohnten, kamen drei Männer in die Lobby
und erschossen einen japanischen Touristen... Warum? Vielleicht hat diese Art
Gewalt ja irgendeinen verdrehten Anlaß. Aber man stelle sich vor, wenn nicht..."
Eingebettet
in die eher in den Hintergrund tretende giallo -Rahmenhandlung werden hier insgesamt
zwölf Morde als technisch perfekt inszenierte Spektakel präsentiert,
so ließ Argento zu einer ausgedehnten Fahrt die Kamera eine Hauswand emporklettern,
über das Dach gleiten, um an der anderen Wand wieder hinunterzufahren, bis
schließlich die Hände des Mörders ins Bild kommen; diese filmische
Umrundung eines Bauwerks war in der Kinogeschichte einmalig. Gleichzeitig wird
der betrachter in TENEBRE immer wieder zu einem Trip in die verdrängten Erinnerungen
des Killers eingeladen: Rückblenden führen an einen unwirklich-traumhaft
erscheinenden Strand, wo eine junge Frau mit roten Schuhen (dargestellt von der
Transsexuellen Eva Robins) eine Gruppe junger Männer provoziert. Diese Szenen
strahlen eine eigenartige, untergründige sexuelle Unruhe aus und gestalten
sich visuell als verblichene surreale Traumbilder aus Weiß und Rot; ein
optischer Effekt, der durch die Verwendung spezieller neuer Scheinwerfer zustande
kam, und der auch in den anderen Teilen des Films Anwendung findet. Es war Argentos
Absicht, die Welt von TENEBRE (die ja eigentlich eine moderne, "reale"
ist) irgendwie anders wirken zu lassen, gleich einer parallelen Realität
zu der uns umgebenden - eine Intention, die er auch noch bei seinem nächsten
Projekt PHENOMENA verfolgen sollte: "TENEBRE spielt in einer Welt, die von
weniger Menschen bewohnt wird, was zur Folge hat, daß die Verbliebenen wohlhabender
sind und weniger gedrängt leben... Irgendetwas geschah, damit es so werden
konnte, aber niemand kann oder will sich erinnern." TENEBRE rief mit der
graphischen Intensität der Gewaltdarstellungen moralisch bewegte Mitmenschen
und Zensoren gleichermaßen auf den Plan, was in einigen Ländern - so
auch in Deutschland - zu seiner Beschlagnahmung führte.
Im
Juni 1984 begannen in der Schweiz die Dreharbeiten zu PHENOMENA (PHENOMENA / CREEPERS)
: Die fünfzehnjährige Amerikanerin Jennifer Corvino (Jennifer Connelly)
kommt in ein idyllisch in den Schweizer Alpen gelegenes Mädchen-Internat;
zur gleichen Zeit fallen mehrere der Schülerinnen einem offenbar geisteskranken
Mörder zum Opfer. Jennifer ist ein seltsames Kind: Sie leidet an Somnambulismus
und besitzt eine merkwürdige Affinität zu Insekten, die sich
darin äußert, daß sie mittels Telepathie fähig ist, mit
ihnen zu kommunizieren. Schon in der ersten Nacht im Internat beginnt sie wieder
zu schlafwandeln und wird bei ihrem unfreiwilligen nächtlichen Ausflug Zeugin
eines neuen Mordes. Später lernt sie den an den Rollstuhl gefesselten Entomologen
John MacGregor (Donald Pleasence) kennen, der mit seiner zahmen Schimpansin Inge
zusammen in einem einsam gelegenen Haus lebt, und zwischen den beiden Insektenfreunden
entwickelt sich schnell eine Freundschaft. Als wieder ein Mädchen ermordet
wird, soll eine merkwürdige Hinterlassenschaft am Tatort schließlich
auf die Spur des Killers führen: Maden des Großen Sarkophagus, einer
Fliegenart, die sich bevorzugt von Leichen ernährt...
Mit einer völlig verrückten Story (die man eigentlich nicht nacherzählen
kann, sondern sehen muß), einem mißgestalteten Kind als Killer und
einem Finale mit einer rasiermesserschwingenden Schimpansin bietet PHENOMENA Kritikern
ein ideales Verrißobjekt, doch Argento stört das wenig: Nach wie vor
bezeichnet er PHENOMENA als einen seiner persönlichsten und liebsten Filme.
Und tatsächlich ist ihm damit - trotz einiger Schwächen (so ist der
kindliche Killer tatsächlich eher lächerlich als erschreckend) - ein
wunderschönes und irgendwie eigenartig verspielt-verträumtes kleines
Meisterwerk gelungen, eine skurrile Sympathieerklärung an alle Außenseiter
dieser Welt... Eine mitreißende Mixtur aus poppiger Videoclip-Ästhetik
und versponnener Märchenromantik läßt jegliche
fehlende Logik vergessen und lädt zu einem genüßlichen Eintauchen
in PHENOMENA ein, in dem die damals gerade einmal 15 Jahre alte Hauptdarstellerin
Jennifer Connelly bei ihren nächtlichen Ausflügen wie eine argentoeske
Alice im Wunderland erscheint und der großartige Donald Pleasance endlich
wieder einmal seinem Talent als Charakterdarsteller gerecht werden konnte. PHENOMENA
war der erste Film, den Argento in englisch drehte und wurde in den Schweizer
Alpen und in Zürich aufgenommen. Die kühlen, beinahe verblichen und
ausgewaschen wirkenden wirkenden Farben des Films, kamen durch ein spezielles
Filmmaterial zustande, das in Verbindung mit der von Technicolor entwickelten
Entwicklungstechnik ENR funktioniert, welche eine 50%ige Reduktion der Farben
vom Originalnegativ zur Folge hat. Diese nachträgliche Farbumwandlung mußte
natürlich auch schon während der Dreharbeiten bedacht werden; so wurden
überwiegend Kleidungsstücke in schwarz, weiß und grau verwendet
und auch innerhalb des Produktionsdesigns die Elementarfarben auf ein Minimum
reduziert. Das kühle Grün der Alpenlandschaft wurde als stechender Kontrast
zu dem Beinahe-Schwarzweiß-Flair des restlichen Films erhalten.
1985
rief Argento seine eigene Produktionsfirma ins Leben - hauptsächlich allerdings
mit dem Ziel sich selbst, bzw. die Projekte einiger Freunde, zu denen er die Drehbücher
lieferte, zu produzieren sowie auch die Dokumentationen DARIO ARGENTO'S WORLD
OF HORROR (1985, Regie: Michele Soavi) und DARIO ARGENTO - MASTER OF HORROR (1990,
Regie: Luigi Cozzi). Seine erste diesbezügliche Arbeit war 1985 das Splatterspektakel
DEMONI (DEMONS / DÄMONEN) unter der Regie von Lamberto Bava, dem ein Jahr
darauf schon die betreffende Fortsetzung DEMONI 2 ... L'INCUBO RITORNA (DEMONS
2 / DÄMONEN 2) folgte, letzterer ein seelen- und anspruchsloser Aufguß
des Vorläufers, wie er überflüssiger kaum sein konnte. Wesentlich
interessanter sind in dieser Hinsicht die von Argento produzierten Arbeiten Michele
Soavis, nämlich LA CHIESA (THE CHURCH) von 1989 und LA SETTA (THE SECT) von
1990. Soavi (der erstmals als Regieassistent bei PHENOMENA mit Argento zusammenarbeitete)
gilt inzwischen, ebenso wie sein einstiger Mentor, als herausragende Ausnahmeerscheinung
unter den neuen Horrorregisseuren.
Doch
wenden wir uns wieder Argentos Regiearbeiten zu: Im Verlauf des Jahres 1985 bot
das Management des Sferisterio-Theaters in Macerata Argento an, bei der Aufführung
von Giuseppe Verdis Rigoletto Regie zu führen; begeistert von dieser Aussicht
machte er sich an die Vorbereitungen, doch aufgrund der heftigen Proteste konservativer
Opernpuristen wurde das Angebot wieder zurückgezogen. Die Eindrücke,
die Argento während der Vorbereitungsphase an der Oper jedoch bereits sammeln
konnte, ließen ihn nicht los inspirierten ihn zu seinem nächsten Projekt.
Vorher widmete er sich allerdings noch einer gänzlich anderen Materie, nämlich
der Haute Couture, und inszenierte 1986 in Mailand eine Modenschau für Nicola
Trussardi: Vor dem Bühnenhintergrund einer sturmgepeitschten Regennacht wurden
die mit den neuesten Tussardi-Kreationen ausstaffierten Models dabei mit Messern
attackiert und anschließend, eine elegante Spur von Kunstblut hinter sich
lassend, in durchsichtigen Plastiksäcken von der Bühne getragen. Der
30minütige Videomitschnitt der Show wurde auch im italienischen Fernsehen
ausgestrahlt, was eine Welle von Protesten nach sich zog... Am 25. Mai 1986 begannen
dann in Parma, im Teatro Regio, die Dreharbeiten zu OPERA (TERROR AT THE OPERA
/ TERROR IN DER OPER) : Der Regisseur Marco (Ian Charleson) probt an der Mailänder
Scala eine bombastische, moderne Inszenierung von Guiseppe Verdis Macbeth, bei
der auch lebende Raben auf der Bühne eingesetzt werden sollen. Als die Stardiva
durch einen Unfall ausfällt, erhält die junge, unbekannte Sängerin
Betty (Christina Marsillach) die Hauptrolle der Lady Macbeth. Ihr Auftritt gerät
zu einem glänzenden Erfolg, doch der Mord an einem Opernangestellten überschattet
die Premiere, und Betty ahnt noch nicht, daß sie das eigentliche Ziel des
Killers: Als sie die Nacht bei ihrem Freund Stefano verbringen will, dringt der
maskierte Fremde in die Wohnung ein, überwältigt und fesselt Betty und
befestigt mit Klebeband eine Reihe von Nadeln unter ihren Augen. Unfähig,
die Augen zu schließen oder den Blick abzuwenden, muß sie mit ansehen,
wie Stefano von dem Killer abgeschlachtet wird. Anschließend schneidet er
Bettys Fesseln durch und verschwindet - nur, um wenig später das makabre
Spiel zu wiederholen...
Mit
seinem 8-Mio-$-Budget wurde OPERA Argentos bislang aufwendigster Film, eine wahre
visuelle Orgie für alle Argentophilen und Freunde innovativer Kameraführung:
Vom Anfang bis zum Ende des Films scheint die Kamera niemals stillzustehen, zieht
den Betrachter mit sich zu rasanten Fahrten durch Opernflure, gleitet in das Zwielicht
unheimlicher Traumbilder oder - ein Höhepunkt des Films - schlüpft in
die Perspektive der durch das Theater fliegenden Raben: Für diese Sequenz
wurde extra ein Kamerakran unterhalb der Decke des Teatro Regio installiert, der
es möglich machte im Finale des Films den kreisenden Sturzflug der freigelassenen
Vögel zu simulieren (die "Generalprobe" für diese Aufnahme
absolvierte Argento übrigens in einem vorher entstandenen Werbespot
für FIAT). Doch die faszinierenden Bilder sind nur eine Facette, die OPERA
zu einer bleibenden Erinnerung werden läßt, denn inmitten der verschwenderischen
Farbenflut lauert als monochromes Vakuum der wahrscheinlich Perverseste in Argentos
schwarzmaskierter, handschuhtragender Psychopathengalerie. Sein Angriff auf Bettys
Augen ist gleichzeitig ein offener Affront gegen eine ungeschriebene Kinokonvention,
eine Attacke auf das Publikum, wie Argento auch selbst schildert: "Jahrelang
habe ich mich über die Leute geärgert, die sich bei den blutigen Szenen
in meinen Filmen die Augen zuhalten. Ich filme diese Bilder, weil ich will, daß
die Leute sie sehen, und nicht damit sie diese positive Konfrontation mit ihren
Ängsten vermeiden und wegschauen. Also dachte ich mir: Wie wäre es möglich,
das zu erreichen und jemanden zu zwingen, sich die grausamsten Morde anzusehen,
ohne, daß er seine Augen abwenden kann..." Das Experiment gelang, und
- wie für Argento typisch - ist es weniger die (gleichwohl vorhandene) offen
sichtbare blutige Gewalt, die unter die Haut geht, als vielmehr der Blick auf
die andere Seite der menschlichen Psyche, ein tiefschwarzer Abgrund, der sich
hier anhand der Gestalt des Mörders Santini auftut. Santini war einst der
Liebhaber von Bettys Mutter (auch eine Opernsängerin, wie angedeutet wird),
und gleichzeitig das ausführende Werkzeug ihrer selbsterdachten, immer extremer
werdenden sadomasochistischen Spielchen. In deren Verlauf wurde er allmählich
selbst zum Sklaven seiner masochistischen Geliebten und mußte, während
sie ihm gefesselt zusah, vor ihren Augen töten, bis sie eines Tages selbst
zu seinem (willigen?) Opfer wurde. Die junge Betty ist für ihn eine Reinkarnation
ihrer Mutter, eine Obsession, der er nur durch blutigen Terror seine Liebe zeigen
kann. Betty selbst - die als Kind Zeuge der Geschehnisse wurde, diese jedoch aus
ihrem Gedächtnis verdrängte - wird in immer wiederkehrenden Träumen
mit der Vorgeschichte konfrontiert und erfährt erst im Finale des Films die
Wahrheit. Wenn sie am Schluß beteuert, nicht wie ihre Mutter zu sein, klingt
dies schon fast mehr wie ein verzweifelter und doch hoffnungsloser Versuch, ein
vorbestimmtes Schicksal zu verneinen und hinterläßt den Eindruck eines
beunruhigenden Open Ends.
Zwar wurde OPERA von Argentos Fans als neuer Kultfilm gefeiert, auf dem Kinomarkt
war dem Film jedoch wenig Glück beschieden: Bei seiner Uraufführung
in Rom, 1987, war OPERA noch ab 18 Jahren freigegeben. Eine darauf folgende, erheblich
geschnittene und ab 14 Jahren freigegebene Version, stieß beim Publikum
auf breites Desinteresse und wurde ein finanzielles Desaster. Auf der ein Jahr
darauf folgenden Aufführung in Cannes floppte OPERA aufgrund der mißlungenen
englischen Synchronisation und wurde anschließend neu synchronisiert und
mit dem reißerischen Titel TERROR AT THE OPERA versehen auf den Markt gebracht.
Der Originalversion mit 105 Minuten Laufzeit dürften noch die Videoveröffentlichungen
in Italien (103 Minuten) und den Niederlanden (runde 100 Minuten - es fehlt ausgerechnet
eine ausgedehnte Kamerafahrt...) am nächsten kommen, die in Deutschland erschienene
Fassung wurde auf 88 Minuten zusammengekürzt.
Im
Anschluß an OPERA produzierte Argento für den italienischen TV-Sender
RAI die von 1987 bis 1988 ausgestrahlte Serie GIALLO, eine Mixtur aus Horrornews,
Minithriller und Gameshow, bei der das Publikum den Täter erraten konnte.
Die leidenschaftliche Verehrung für die Werke Edgar Allen Poes bildete die
Basis für Argentos nächstes großes Projekt, das er in Kollaboration
mit George A. Romero 1989 in den USA drehte: TWO EVIL EYES / DUE OCCHI DIABOLICI
beinhaltet zwei (durch Poe inspirierte) Filme von jeweils einer knappen Stunde
Laufzeit: George A. Romero (mit dessen Beitrag TWO EVIL EYES beginnt) verarbeitete
The Facts In The Case Of M. Valdemar ; heraus kam ein recht mäßiges,
eher am US-Mainstreamniveau orientiertes Filmchen. Eine gänzlich andere Dimension
an Qualität lieferte allerdings Argentos Adaption der Erzählung The
Black Cat, die hier ins heutige New York verlegt wird: Rod Usher (Harvey Keitel)
ist ein Starfotograf, der seine Kunst dem Tod und dem Makabren widmet, so gehört
die Dokumentation abartiger Verbrechen zu seinen favorisierten Gebieten. Doch
allmählich scheint das dokumentierte Böse auch von ihm Besitz zu ergreifen:
Als seine Freundin Annabel (Madeleine Potter) eine schwarze Katze findet und in
das Haus bringt, empfindet Usher von Anfang an einen irrationalen Haß gegen
das Tier... The Black Cat bietet die Rahmenhandlung in der gleichzeitig mehrere
Hommagen an Poes Werk erscheinen, The Pit And The Pendulum, Berenice oder Annabel
Lee sind nur einige der vorhandenen Reminiszenen. Trotz des modernen Umfelds gelang
es Argento beeindruckend den Geist und die Atmosphäre von Poes Werken einzufangen;
der mobide, (selbst)zerstörerische Seelentrip, den die Erzählung The
Black Cat gewährt, wird hier filmisch wie auch darstellerisch glänzend
realisiert. Harvey Keitel stellte als Anhänger des Method Acting mit seinen
spontanen Improvisationen für Argento keinen leicht zu handhabenden Akteur
dar, doch sein Rod Usher ist - neben den Auftritten von Vincent Price in Roger
Cormans Klassikern - wohl eine der besten und überzeugendsten Film-Personifizierungen
poeschen Wahnsinns. Im Zwang zum Inszenieren äußert sich hier dieser
Wahn - als er an einem Tatort eine von einem Pendel durchtrennte Leiche fotografieren
soll, setzt Usher vor dem Schnappschuß zum Entsetzen der Polizei die Maschinerie
in Gang, um so das "perfekte Bild" zu bekommen. Die grauenvollste Inszenierung
schließlich, das dokumentierte Töten (von Annabels Katze), ist der
Auftakt zum endgültigen Fall von Rod Usher...
Auch
Argentos nächstes Projekt war wieder in den USA angesiedelt. Im Sommer 1992
begannen in Minneapolis die Dreharbeiten zu TRAUMA (AURA / TRAUMA) : Die junge
Aura Petrescu (Asia Argento) findet, nachdem sie aus einer Nervenklinik ausgebrochen
ist, und ihre Eltern ermordet wurden, bei dem Grafiker David ( Christopher
Rydell) Unterschlupf. Während David noch versucht, Auras Verhalten zu ergründen
- sie leidet an Anorexie und wird von rätselhaften Alpträumen heimgesucht
- gibt es erneute Berichte über einen offensichtlich wahnsinnigen Serienkiller,
der seine Opfer mit einer Drahtsäge enthauptet, und dem auch Auras Eltern
zum Opfer fielen. Um ihr zu helfen, beschließt David auf eigene Faust Nachforschungen
anzustellen. Die Spur führt schließlich zu Auras scheinbar toter Mutter
Adriana (Piper Laurie)... TRAUMA gestaltet sich als optisch durchgestylte und
mit vielen Querverweisen versehene Hommage des "italienischen Hitchcock"
an sein großes Vorbild: Die erste Begegnung zwischen Aura und David (er
bewahrt sie auf einer Brücke vor einem Selbstmordversuch), ist eine mehr
als deutliche Anspielung auf VERTIGO; der kleine Gabriel, der aus seinem Fenster
die Wohnung des Mörders beobachtet erscheint wie eine kindliche Entsprechung
des Voyeurs in REAR WINDOW, und in der Gestalt Adrianas findet sich schließlich
auch noch die dominierende und tödliche (Über)Mutter, die im Zentrum
des mörderischen Enigmas steht. Und wie der Übervater Alfred, so ist
auch dessen geistiger Sprößling Dario faszinie rt
vom Spiel mit Freud, der Psychoanalyse und all ihren Krankheitsbildern, und jongliert
mit allen möglichen Spielarten derselben - die Anorexie, die Magersucht als
körperlich-seelische Reaktion auf unterdrückte sexuelle Ängste
und elterlicher Oppression, dient als roter Faden in diesem komplexen freudianischen
Bilderbogen. Die hier erzählte Story dominiert in diesem erstaunlich unblutigen
Psychokrimi deutlich vor den eher zurückhaltenden Spezialeffekten, die Charaktere
sind erstaunlich einfühlsam und realistisch in Szene gesetzt und erstmals
seit PROFONDO ROSSO gab es auch einmal wieder eine Romanze in einem Argentofilm
- eine ungewöhnliche natürlich, denn die minderjährige, magersüchtige
Aura und der Ex-Junkie David sind alles andere als das Hollywood-Vorzeigepärchen.
Argentos Tochter Asia (die hier ihre erste Hauptrolle bekam) war mit ihrer ganzen
Körpersprache und ihrem interessanten, einprägsamen Gesicht, das so
erfrischend anti-hollywoodlike wirkt, eine optimale Besetzung für den fragilen,
in sich zerrissenen Charakter Auras. Darüberhinaus bietet TRAUMA natürlich
die gewohnte technische Qualitätsarbeit, dennoch stieß der Film bei
der Kritik auf wenig Gegenliebe und wurde auch vom Umsatz her ein katastrophaler
Flop: In den USA kam TRAUMA nie in die Kinos und wurde als reine Videoveröffentlichung
(von 106 auf 86 Minuten gekürzt) verheizt. In Europa begegnete man Argento
mit dem Vorwurf, zu viele Kompromisse an den US-Mainstream gemacht zu haben, dem
unumgänglichen "harten" Horrorfandom war der Film schlicht und
einfach zu unblutig. Die einschlägige Fachpresse schien ebenfalls vergessen
zu haben, wen sie noch vor wenigen Jahren als Genie umjubelt hatte, doch Totgesagte
leben ja bekanntlich länger...
Das
nächste Projekt führte Argento nach Florenz, genauer gesagt in die Uffizien,
jenem 1560 erbauten Verwaltungskomplex, der heute eine der berühmtesten Kunstsammlungen
der Welt beherbergt. Als erster Regisseur erhielt Dario Argento die Erlaubnis,
dort einen Spielfilm zu drehen (eine Entscheidung, die in der italienischen Presse
für entsprechenden Wirbel sorgte) und am 17. Juni 1995 begannen in Raum 16
der Uffizien die Dreharbeiten zu LA SINDROME DI STENDHAL (THE STENDHAL SYNDROME)
: Die Polizistin Anna Manni (Asia Argento) wird auf die Spur eines Frauenmörders
(Thomas Kretschmann) angesetzt, der in Florenz sein Unwesen treibt. Während
eines Besuchs in den Uffizien erleidet sie einen seltsamen Ohnmachtsanfall; am
gleichen Abend gerät sie in die Gewalt des Mörders. Er tötet vor
ihren Augen, er vergewaltigt sie mehrmals - doch er läßt Anna am Leben
und droht ihr, wiederzukommen...
Technisch
setzte Argento sich mit LA SINDROME ... selbst einen neuen Meilenstein. und offeriert
dem Betrachter Bilder von einer oft irritierenden Perfektion: Mal dreht sich die
Kamera um 360 Grad um Anna, um dann plötzlich in ihren Mund hinabzutauchen,
dann folgt sie einer abgefeuerten Kugel auf ihrer Bahn durch das Opfer und ein
andermal begleitet sie sogar zwei Pillen auf ihrem Weg vom Mund bis zum Magen,
wo diese sich auflösen. Erstmals setzte Argento auch Computeranimationen
in einem Film ein, und so werden die Bilder von Botticeli und Breughel zu lebendigen
Bestandteilen in Annas Träumen, Rembrandts Nachtwache beginnt zu wispern
und zu atmen, und ein Graffiti steigt von der Wand ihres Gefängnisses zu
ihr herab. Doch abseits der optischen Raffinesse ist LA SINDROME ... der bislang
wahrscheinlich beunruhigendste und grausamste Film in Argentos Karriere, und das
obwohl er erstaunlich wenig "typische" Horrorelemente beinhaltet. Vielmehr
bietet sich hier ein beklemmender, unter die Haut gehender Horrortrip durch die
schwärzesten Seiten der menschlichen Psyche. Das titelgebende Stendhal-Syndrom
ist ein tatsächlich existierendes Krankheitsbild, das durch eine Übersensibilisierung
während der Konfrontation mit visueller Kunst zu Tage tritt, und sich in
einem schockartigen Ohnmachtsanfall äußert - benannt wurde dieses Leiden
nach dem ersten populären Fall, dem französischen Schriftsteller Marie
Henri Beyle, besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal. Argento ließ
sich hier durch die psychoanalytischen Motive in Alfred Hitchcocks SPELLBOUND
und vor allem durch das Buch La sindrome di Stendhal der Psychiaterin
Grazielle Magherini inspirieren, in dem diese u. a. erwähnt, daß im
größten Krankenhaus von Florenz tatsächlich immer drei Betten
für Leute freigehalten werden, die in den Uffizien einen solchen "Kunstschock"
erleiden. Argento verknüpfte dieses Phänomen mit der beunruhigenden
Vorstellung von einer (Über)Macht der Bilder, von einem, sich der menschlichen
Ratio entziehenden, Eigenleben der Kunst: "Du schaust auf ein Gemälde
und deine Seele ändert sich. Du betrachtest ein Meisterwerk und es ist unmöglich,
danach noch dieselbe Person zu sein. In einem Winkel kannst du in einem kleinen
Detail etwas Böses entdecken, von dem du weißt, daß es den Künstler
vor Ewigkeiten gequält hat..." Auch die im Zentrum der Story stehende
Polizistin Anna (eine in ihrer Intensität unter die Haut gehende Performance
Asia Argentos)
leidet am Stendhal-Syndrom, und auch sie wird erstmals in den Uffizien damit konfrontiert,
bevor sie zum Objekt in dem sadistischen Katz-und-Maus-Spiel des Killers Alfredo
wird. Es ist nicht eine explizite grafische Darstellung der ihr zugefügten
Torturen - denn Argento begibt sich hier keinesfalls in plakative Exploitationgefilde
- sondern vielmehr deren Auswirkung auf Annas Psyche, die den Horror von LA SINDROME
... ausmacht. Nach dem Überfall in Florenz ist Anna unfähig ihr bisheriges
Leben fortzuführen: Sie verändert ihr Äußeres, macht mit
ihrem Freund Schluß, begibt sich in psychiatrische Behandlung - vergeblich,
alle Versuche, das Erlebte zu überwinden oder zu kompensieren scheitern,
und überall verfolgt sie die unsichtbare Bedrohung durch Alfredo, der allmählich
zu einem ständig präsenten Faktor ihrer Existenz wird. Als sie schließlich
noch einmal von ihm entführt und in einem Kellerraum gefangen gehalten wird,
eskalieren die Dinge. Zwar kann sie sich befreien und ihn töten - eine der
wenigen visuell brutalen Szenen des Films - doch damit endet der Alptraum, der
sich in Annas Geist längst verselbständigt hat, nicht. Alfredo ist zu
einem Teil von ihr geworden, der schließlich seinen Tribut fordert. In einer
gereiften und zugleich intensivierten Form führt Argento hier den bereits
bei L'UCCELLO ... begonnenen Themenkreis der Opfer-/Täter-Identifizierung
(abermals in ihrer Geschlechtergrenzen überschreitenden Form) und des "Kunstschocks"
zu einem völlig desillusionierten Ende. Die langjährige Obsession mit
der "tödlichen Kunst" hat in LA SINDROME ... endgültig Gestalt
angenommen.
Zusammen mit dem Horrorveteranen Lucio Fulci entwarf Argento 1996 das auf einer
Erzählung von Gaston Leroux basierende Drehbuch zu LA MASCHERA DI CERA (WAX
MASK), einem Projekt, das von Argento zugleich coproduziert wurde und bei dem
Fulci die Regie übernehmen sollte. Während der Produktionsvorbereitungen
verstarb Fulci jedoch und Argentos langjähriger Special Effect-Experte Sergio
Stivaletti bekam somit die Chance seine erste Regiearbeit zu absolvieren. Das
Ergebnis wurde ein hübscher, handwerklich solide gemachter Horrorfilm, der
zwar ein wenig der zu erwartenden visuellen Kraft und Eigenheit entbehrt, doch
nichtsdestotrotz bestens unterhält.
Dieser Ausflug in klassische Kostümhorror-Gefilde dürfte für Argento
zugleich ein Vorgeschmack auf sein nächstes eigenes Projekt gewesen sein,
das ebenfalls auf einer Novelle Gaston Leroux' basiert: 1997 begannen die Dreharbeiten
zu seinem neuesten Film IL FANTASMA DELL' OPERA (DAS PHANTOM DER OPER / THE PHANTOM
OF THE OPERA).
"Die Farbe der Angst ist Silber" lautete einst eine Ankündigung
zu LA SINDROME DI STENDHAL - ein hübsches Wortspiel, das die eingangs gestellte
Frage beantwortet, denn das italienische Wort für Silber ist argento.
© Thomas Wagner
Nachtrag: Dieser Artikel wurde Anfang 1999 fertiggestellt; in der Zwischenzeit
entstanden die Gaston Leroux-Verfilmung IL FANTASMA DELL' OPERA (1999) und NON
HO SONNO (2000), ein Thriller, mit dem Argento offensichtlich wieder zu seinen
Giallowurzeln zurückgekehrt ist.
Lesenswertes zu Dario Argento:
- Mondo Argento (Alan Jones, Midnight Media Publishing, 1996)
- Broken Mirrors/Broken Minds (Matland McDonagh, Citadel Press
1994)
- "The Gallery Murders" (Peter Blumenstock in Giallo Pages Special Issue , 1996)
- "Dario Argento And Visual Displeasure" (Ray Guins in Necronomicon
Book One , Creation Books, 1996)
- Interviews mit Argento in SPLATTING IMAGE # 16 u. 26
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