DIE EWIGKEIT DER TRAUER
"Tale of a Vampire"

Alex (Julian Sands)London, in einer großen alten Bibliothek. Ein geheimnisvoller trauriger Mann und eine Frau, die gerade ihren Freund verloren hat, treffen sich nicht ganz durch Zufall. Es wird sich herausstellen, daß er ein Untoter ist, ein Vampir, und daß jemand ihm mit Anne als nichtsahnendem Lockvogel eine tödliche Falle stellen will. Denn er ist, wie es sich für seine Art gehört, nicht ohne Vergangenheit, aber die Schatten dieser Vergangenheit und der Schmerz der Erinnerung suchen ihn mehr heim als er die Menschen. Schicksal und Fluch liegen in den Strom des Blutes geschrieben; sie trägt beides in sich, da sie die Reinkarnation der geliebten Frau ist, die er vor langer Zeit genommen wurde. Am Schluß verliert der Verlorene auf ein Neues das, was er nicht wiederzuerhalten geglaubt und doch versucht zu gewinnen hatte. Nur für ihn gibt es keine Erlösung.

"Tale Of A Vampire" ist nicht spektakulär, nicht laut, nicht plakativ brutal, und bietet noch nicht einmal die Softsex-Einlagen, die man bei einem Vampirfilm aus dem Jahr 1993 erwarten würde. Hingegen verfügt die japanisch/englische Coproduktion unter der Regie von Shimako Sato über eine videoclipartige, kahle und scharfe Ästhetik, wie sie später so beliebt wurde ("The Crow", "Dark City"). Die Story, klassisch und linear, dreht sich um altes Rollenspiel mit neuer Rollenverteilung. Der Regisseurin ist es gelungen, daraus etwas Besonderes zu machen. Julian Sands, großartig wie immer, zeichnet den melancholischen und sympathischen Blutsauger Alex. Er befindet sich in einem Zustand bläulichweiß glühender Einsamkeit, welche die stilisierten Bilder durchzieht und ihr Pendant in schneidenden Streichertönen findet, sobald der Vampir sich an Momente an frühere Momente des Schmerzes erinnert. Überall lauern die Erinnerungen auf ihn: Das Trinken des Blutes einer schwarzen Katze erinnert ihn an den Liebeskampf, den er mit seiner Geliebten auszufechten hat, als sie - auf ihrem Sterbebett liegend - sich vor dem Tode fürchtet und ihn bittet, sie ins Reich der Untoten zu holen. Das Bild einer rennenden Frau in einem Folioband der Bibliothek, die er tagsüber aufsucht, um Studien für ein Buch über Märtyrer zu treiben, läßt ihn an ihre langen schwarzen Haare denken. Überall warten diese Eindrücke scheinbar nur darauf, von Alex wahrgenommen zu werden, und er geht mit weit offenen Augen durch die Welt, ohne eine Gelegenheit zum Leiden auszulassen. Zur Verstärkung dieser Eindrücke werden die unsterblich sehnsüchtigen Textzeilen aus dem Gedicht "Annabel Lee" von Poe zitiert. Überhaupt ist "Tale of A Vampire" geradezu vom Geiste Poes besessen: Virginia (Alex' ehemalige Geliebte) war auch der Name des Mädchens, das Edgar Allan Poe heiratete (und wieder verlor), und das Schicksal der Vampirin Virginia ähnelt dem der Annabel Lee des Gedichtes in ihrem Grab an der See. Dem Vampir Alex gegenübergestellt ist - herkömmlichen Mustern entsprechend - das weibliche Opfer Anne, auf das er seinen Blick geworfen hat. Dennoch sind die Rollen vertauscht: Er ist der verwundbare und schwächere, sie der rationell denkende, abgeklärte Teil. Hier zeigt sich, daß "Tale Of A Vampire" ein durchaus modernes Märchen ist. Natürlich finden wir diese Rollen in unserer Welt wieder: Alex als Softie, Anne als selbstbewußte, vernunftbetonte Frau verkörpern gefallene und vertauschte Wertvorstellungen unserer Zeit. Alex hat an der Selbständigkeit der Frau zu kauen und somit seine überlegene Vampir-Potenz verloren. Auch Anne hat einen Verlust erlitten, verfällt aber nicht in Selbstmitleid wie Alex. Sie versucht, das Leben zu meistern. Diese Einstellung macht sie für den Zuschauer zunächst "hart", verglichen mit dem sensiblen Alex. Er ist es auch am Schluß, der ewig leidet, während Anne stirbt. In dieser Welt der getauschten Rollen ist es Anne, die den ersten Schritt auf den Mann zugeht, vor dem er zurückschreckt: "Wie viele Männer haben Sie auf diese Art verführt?" fragt er bei ihrem Annäherungsversuch.
Alex ist kein Verführer - anders als seine Artgenossen aus früheren Vampirfilmen. Anders als Graf Dracula geht er nicht auf Raub aus, um seinen Harem zu vergrößern, sondern nur, um seinen Hunger zu stillen. Seit dem Tod seiner Geliebten hat er keine Frau mehr gebissen, da dies für ihn eine Liebeshandlung darstellt; er ist ihr in ewiger Treue verbunden und nicht fähig zum Seitensprung. Wenn Alex auf die Jagd geht, bringt er die Adern der Opfer (eine Katze, Männer, ein Kind) zum Platzen und läßt sich das Blut über das Gesicht und in den Mund laufen.
Diese in ihrer unverblümten Rohheit für den japanischen Horrorfilm typischen Szenen sind im Kontext des Films selten und stehen in ihrer Kürze langen, statischen Einstellungen gegenüber. Der klassische Halsbiß ist für Alex seiner wahren Liebe vorbehalten - eine deutliche AIDS-Metaphorik. Die uns so ungewöhnlich scheinende Treue des Vampirs und seine Weigerung, Anne mit seinem Biß zu infizieren, stehen für die Angst vor der Ansteckung schlechthin. In den frühen Neunzigern, da Treue und starre Beziehungsmuster wieder zunehmend an Bedeutung gewannen, ist es auch für den Filmvampir logisch, treu zu sein. Dennoch werden in "Tale Of A Vampire" Ströme von Blut vergossen. Auf den schönen blassen Gesichtern der Hauptfiguren wirkt das samtene Burgunderrot des Blutes wie Bestandteil eines fremdartigen Makeup; es wird durch die stilisierte Ästhetik seines Schreckens beraubt. Farben spielen eine große Rolle; sie sind bewußt eingesetzte Vehikel für Stimmungs- und Bedeutungsinhalte. Wenn Alex in nächtlicher Einsamkeit umherstreift, herrschen eiskalte, neonblaue Farbtöne vor, die zu dem schneidenden Streicherton passen. In Annes Wohnung gibt es viel Rot: Weiche Sofas, Kissen, Wandbehänge symbolisieren eine weiblich-warme, sinnliche Atmosphäre. Anne stellt den Hort der Wärme, das einzig Lebendige in Alex' morbider Umgebung dar. Er muß er ihrer Verlockung erliegen. Anne trägt das Gesicht seiner toten Liebsten. Hier bedeutet Reinkarnation Schicksal - eine alte Metapher des Horrorfilms. Ihre Lieblingsgedichte, die niemand sonst in ihrem Bekanntenkreis kennt, kann Alex auswendig hersagen. Das kleine Lied, das sie beim Nachhausegehen singt und das ihn auf ihre Fährte lockt - er wird die ganze Nacht vor ihrem Fenster stehen und hineinstarren - hat er vor langer Zeit selbst schon einmal gesungen: Als ihm Virginia, ein fünfjähriges Kind, vor die Füße lief ist und sich nicht vor ihm fürchtete, obwohl er gerade eine Frau aussaugte. Er nahm Virginia zu sich, zog sie groß und vermittelte ihr sein Wissen. Sie wurden Freunde "für alle Vampir-LiebeEwigkeit". Dennoch heiratet Virginia einen Sterblichen. Der Treueeid der ewigen Freundschaft besteht weiter, Alex erinnert sich daran und besucht sie auf ihrem Sterbebett, um sie zu sich in die Ewigkeit zu nehmen.
Auch an dieser Stelle ist "Tale Of A Vampire" ein recht modernes Märchen. Wo in den früheren Vampirfilmen das Beißen (als Penetration) dem männlichen Vampir vorbehalten war, der seiner auserwählten Braut das eigene "befruchtende" Blut beispielsweise auf dem Zeigefinger kredenzt, sehen wir hier einen gleichberechtigten Liebesbiß. Virginia schlägt ihre Zähne gierig in Alex' Hals, der sich mit ekstatischem Gesicht über sie beugt. Diese Szene ist im übrigen besonders schön aufgebaut und ausgeleuchtet. Ein rosiges, aprikosenfarbenes Licht umgibt die beiden auf dem Sterbelager hingegossenen Gestalten. Der gegenseitige Biß ist, obgleich keinerlei nacktes Fleisch zu sehen ist, sehr erotisch in Szene gesetzt. Anne und Alex lernen sich nicht durch Zufall kennen. Ein "alter Bekannter" mischt sich in den Verlauf der Dinge ein, tötet Annes Liebhaber und verschafft ihr einen Job in der Bibliothek, die Alex täglich aufsucht. Der Fremde (Edgar = Poe?) ist ein zwar hochkultivierter, mit Geschmack und Geist ausgestatteter, aber dennoch unangenehmer Mann, und wir fragen uns, warum er den armen Alex nicht in Ruhe läßt und was er von ihm will. Er scheint dem Horrorfilm-Archetyp des "ewigen van Helsing" als Feind des Vampirs zu entsprechen, aber seine Annäherungen an Anne, die ihm mit Mißtrauen begegnet, wirken merkwürdig und unorthodox. Eine Klimax wird erreicht, als Edgar, um den Verdacht auf Alex zu lenken, einen alten Mann in der Bibliothek tötet. Aber Anne ist schon längst mißtrauisch gegen Alex. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen und fürchtet sich zugleich; sein Verhalten befremdet sie; er kommt weinend an ihre Tür und erregt gleichzeitig Verdacht und Mitgefühl.
"Wir können den Schmerz der anderen nicht lindern, aber wir können uns gegenseitig Trost spenden", sagt Anne. Als sie Alex küßt, aktiviert sie das Raubtier ihn ihm, er versucht sie in den Hals zu beißen. Bezeichnenderweise verläßt er jedoch sofort die Wohnung, als sie ihn entrüstet von sich stößt.
Einen "impotenteren" Vampir kann man sich wohl schwerlich vorstellen. Er hat davon geträumt, sich Anne zu eigen zu machen, sie an den Haaren zu packen und niederzuschleudern, ihr Kleid zu zerreißen und sich auf sie zu werfen. Ein irreführendes Moment, da der Traum erst zum Schluß der Szene als solcher definiert wird. Aber wir ahnen, daß in dem sanften Alex, der in seinem viel zu weiten Mantel aussieht wie ein neurotischer großer Junge, auch noch eine zweite Seite steckt, das vampirische Element, das keine Probleme mit dem brutalen Töten hat.
Julian Sands scheint auf die Rolle des großen neurotischen Jungen abonniert zu sein. Ebenso wie in "Boxing Helena" aus dem gleichen Jahr gelingt ihm die Darstellung mit brillanter Glaubwürdigkeit. Obwohl er auch gänzlich andere Charaktere gemimt hat (und das nicht weniger glaubwürdig), scheint diese Art von Rolle ihm maßgerecht auf den Leib geschneidert. Aber nicht nur Mr. Sands, sondern auch die anderen Darsteller des Films fallen positiv auf. Vielleicht ist "Tale of A Vampire" in seiner Stimmungsschilderung und dem schwarzromantischen Grundtenor von Anne Rices Vampirtrilogie beeinflußt worden. Der Vampir wird uns hier nicht als gefräßiges Sexmonster präsentiert, sondern als sehr menschliches Wesen. Alex besitzt keine übernatürlichen Kräfte, außer daß er den Regen riechen kann und Gewehrkugeln ihn nicht verletzen. Er kann sich weder in eine Fledermaus noch in einen Wolf verwandeln, fürchtet nicht das Sonnenlicht und braucht nicht in einem Sarg zu schlafen. Nur sein Domizil, eine verlassene alte Fabrik, erinnert in ihrer düsteren Verfallenheit mit wallenden Nebeln und düster tropfenden Wassern und ihren "phallischen" Schornsteinen an das klassische Schloß oder die entweihte Kirche Draculas.
Anne betritt mit dem Wunsch, Alex zu vernichten, mutig diese unheilvolle Kulisse. Ihre Suche in dem stockdunklen Raum ist ein Vortasten in die unbekannten und mysteriösen Gefilde von Tod und Sex. In Alex' Schlafzimmer gibt es Pfeiler mit halbmodellierten weiblichen Torsi, die in Stein gefangenen Geistern ähneln - Sinnbilder für den in der unerwünschten Ewigkeit gefangenen Untoten und die todlos begrabene Virginia. Alex will, daß Anne ihn tötet. Aber sie kann es nicht; der Pflock entfällt ihrer Hand. Die Stimmung schlägt ins Gegenteilige um. Als sie ihn bittet, sie zum Vampir zu machen, und er sich weigert, geht sie beleidigt aus dem Haus. Dies ist das letzte Mal, daß Alex sie lebendig zu Gesicht bekommt.Die Ewigkeit der Trauer...In der ergreifenden Schlußszene wird Alex sich, umgeben von einem bitterscharfen, grellweißen Licht, behutsam auf ihrer Leiche zur Ruhe betten. Anders als bei Coppolas Film "Bram Stoker's Dracula", dessen Grundtenor ebenfalls aus einer AIDS-bedingten "Treue-und-ewige-Liebe-Botschaft" besteht, ist dem Bemitleidenswerten am Ende keine Erlösung sicher. Er bleibt, wo alle um ihn her verwelken und vergehen.
Ewige Trauer und ewiges Leid sind für den, der die Regeln übertritt und seine Mitmenschen mit sich in den Abgrund reißt, die in unserer Zeit einzig vorstellbare Strafe. Religiöse Verdammnis hat ihren Schrecken verloren, stattdessen gilt als schlimmste Strafe die unstillbare Sehnsucht nach Liebe, die "Single-Einsamkeit" des modernen Zivilisationsmenschen.

M. Angerhuber (1996)

Daten zum Film:
Japan / GB 1993
93 Minuten Laufzeit
Buch und Regie: Shimako Sato
Darsteller: Julian Sands (Alex), Suzanna Hamilton (Anne/Virginia), Kenneth Granham (Edgar)
Kamera: Zubin Mistry
Musik: Julian Joseph
Special Effects: David Watkins

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