Wer ist Lorna Green?
Jess Francos "Necronomicon - Geträumte Sünden"

Es ist die seltsame Geschichte der Lorna Green (Janine Reynaud), die in einer Bar in Lissabon mit einer bizarren erotischen Performance auftritt, deren Höhepunkt die scheinbare Ermordung ihrer Bühnen-Gespielen ist. In der Realität lebt Lorna glücklich mit ihrem Geliebten und Manager William Mulligan (Jack Taylor) zusammen, doch in ihren Träumen beginnen die Illusionen ihrer Bühnenshow fortzuleben und ein Eigenleben zu entwickeln.
Surreale Streifzüge führen sie durch die Gassen der Lissaboner Altstadt, in ein geheimnisvolles altes Schloß, in einen obskuren Nachtclub, und jedes dieser Traumbilder endet - gleich den morbiden Bühneninszenierungen - mit dem Tod des jeweiligen Objekts ihrer Begierde. Die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart beginnen sich für Lorna aufzulösen, ja ihre eigene Identität wird für sie in Frage gestellt, während sie sich Schritt für Schritt weiter in einer von Eros und Tod dominierten Traumwelt verliert und zugleich realisiert, daß all diese Morde Wirklichkeit sind.

Ein mysteriöser Fremder (Michel Lemoine), der in ihren Träumen ebenso wie in der Realität präsent ist, scheint das sie umgebende dunkle Geheimnis zu kennen und ihr Schicksal zu lenken. Ist sie tatsächlich ein vom Teufel gesandter Sukkubus, ein schöner Dämon, der mit seinen Reizen die Menschen verführen und vernichten soll? Alle Männer und Frauen, die ihr verfallen, müssen mit ihrem Leben zahlen. Lornas Weg führt schließlich von Lissabon nach Berlin, wo Mulligan ihr letztes Opfer wird.
Am Ende bringt der Fremde sie zurück zu ihrem "Traumschloß" - ihrem wirklichen Heim...?

Necronomicon - Geträumte Sünden entstand 1967 und war die immerhin schon 20. Regiearbeit des Spaniers Jesus Franco Manera - besser bekannt als Jess Franco -, der zu dieser Zeit jedoch noch weit von dem Massenoutput späterer Jahre entfernt war. Inzwischen hat Franco (oft unter Pseudonym) über 180 Filme gedreht und kaum ein Genre ausgelassen, die Qualitätsskala reicht dabei von künstlerisch einfallsreichen Produktionen über unterhaltsamen Eurotrash bis hin zu wirklichem Müll. Der "seriösen" Kritik gilt dieser ausgesprochen kreative Filmemacher seit langem als Persona non grata und abschreckender Schundfilmer, was nicht zuletzt auch auf seine zahlreichen Arbeiten auf dem Pornographiesektor zurückzuführen ist. Doch allen unqualifizierten Pauschalverurteilungen zum Trotz, gibt es im Oeuvre Francos zahlreiche Perlen zu entdecken und Necronomicon ist sicherlich eine der schillerndsten.

Fritz Lang (der normalerweise aus seiner Abneigung gegen erotische Filme keinen Hehl machte) bezeichnete Necronomicon als "ein wunderschönes Stück Kino" und übertrieb damit durchaus nicht, handelt es sich hierbei doch um einen der besten und zugleich eigenwilligsten Filme in Francos inzwischen kaum noch überschaubarer Filmographie.
Gewiß ist Necronomicon mehr ein surrealer, optisch durchstilisierter Bilderbogen als eine konventionell erzählte Story und dürfte so manchen Zuschauer ratlos und überanstrengt zurücklassen. Jess Franco war hier nicht im mindesten an einer herkömmlichen Erzählweise und Dramaturgie interessiert und ignorierte diese Konventionen vollkommen. Das - wenn man es denn so nennen will - Defizit an logischer Handlung wird um ein vielfaches aufgewogen von der unwirklichen und poetischen Atmosphäre, von den beeindruckenden Bildern, die der Regisseur hier wie ein Maler entwirft. In Lissabon dominieren leuchtende, geradezu lebende Farben (so scheint Janine Reynauds blutrote Robe während der ersten Fahrt zum Schloß schier zu glühen), die stets perfekt aufeinander abgestimmt sind. Die grobkörnigen, hochbelichteten und oft auch weichzeichnerverfremdeten Bilder lassen diese Szenen wie einen einzigen Traum erscheinen: Alles wirkt vollkommen und doch befremdlich irreal zugleich, und konfrontiert den Betrachter mit einer Fülle von Details, deren ganzes Ausmaß sich erst beim wiederholten Anschauen des Films erschließt. Optisch kontrastierend dazu stehen in der zweiten Hälfte des Films die Szenen in Berlin. Die damalige Mauerstadt präsentiert sich in einer graugetönten Schlechtwetter-Tristesse; aus dem fahrenden Auto aufgenommene, verwischte Bilder lassen die Realität als anonym anmutende Impressionen vorbeisausen; auch hier bleibt die Gedanken- und Traumwelt der eigentliche Schauplatz.
Für die exzellente Kameraarbeit waren Jorge Herrero (der bereits in Orson Welles' Falstaff-Verfilmung Campanadas a medianoche und der Agentenkomödie Lucky, el intrépido mit Franco zusammengearbeitet hatte) und Franz Xaver Lederle verantwortlich. Immer wieder überrascht der Film mit einfallsreich arrangierten Bildkompositionen und ungewöhnlichen Blickwinkeln und Perspektiven. Nichts wirkt hier billig oder "trashig" und vergeblich sucht man die delirierenden Zooms, die typisch für viele von Francos späteren Werken sind.
Doch auch die Besetzung trägt zum Gelingen von Necronomicon bei: Mit der Französin Janine Reynaud besitzt der Film eine Hauptdarstellerin, die glaubhaft die von Lorna Green ausgehende mesmerisierende Faszination verkörpert. Reynaud besitzt eine sehr eigene, "herbe" Schönheit jenseits der gängigen Norm und strahlte zugleich Stil und Klasse aus, wie man sie man bei späteren Franco-Starlets vergeblich sucht. Im folgenden Jahr spielte sie unter Francos Regie noch in den Horrorsatiren El Caso de las dos bellezas (Rote Lippen) und Bésame Monstruo (Küss mich Monster) mit, Genrefans wird auch ihr Auftritt in Sergio Martinos Giallo La Coda dello scorpione ein Begriff sein. Ihr zur Seite stehen einige Darsteller, die heute aus der europäischen B-Picture-Historie nicht mehr wegzudenken sind: Jack Taylor und der großartige Howard Vernon - beide spielten in zahlreichen Filmen Francos mit, Vernon brachte es bis 1988 sogar auf über 30 Auftritte - sowie Adrian Hoven, der auch als Regisseur und Produzent tätig war (u. a. produzierte er den berüchtigten Witchploitationklassiker Hexen bis aufs Blut gequält).

Ausgestattet mit Kostümen eines damals relativ unbekannten Designers namens Karl Lagerfeld und vor einem musikalischen Background aus Friedrich Guldas klassischen Themen und dem glamourösen Jazz Jerry van Rooyens, präsentiert sich der Film als eine elegant gefilmte und einfallsreich geschnittene komplexe Collage surrealer Szenarios. Neben zahlreichen Anspielungen auf die abendländische Kunst- und Kulturgeschichte läßt der Cinemane Franco in Necronomicon auch seine mannigfachen filmischen Inspirationen Revue passieren. Und so vereinigen sich hier - neben vielen anderen - Reminszenzen an Freud, de Sade, Buñuel und Hitchcock in einem Reigen skurriler Szenen zu einem somnambulen Trip ins Unter-Ich: So spielt bei Lornas erstem Besuch in dem geheimnisvollen Schloß ein Pianist vor einem Notenblatt, das mit Diagrammen und mathematischen Formeln versehen ist. Später trifft sie in einer Bar ihren von Howard Vernon dargestellten (Traum-)Liebhaber Admiral Kapp: Während ein halbnackter Barkeeper einen Drink mixt, zaubert Vernon Kieselsteine aus seinem Zylinder hervor und inszeniert mit Reynaud eine Art verbalen Rorschach-Test, bei dem er die Fragen stellt und sie die Antworten geben muß: "Morgen?" "Inferno..." "Das Unbewußte?" "De Sade..." "Religion?" "Gomorrha...". Die letzte Antwort kann in diesem bizarren Assoziationsspiel natürlich nur sein eigener Tod sein. Unvergeßlich bleibt auch die Inszenierung einer dekadenten Party, die schließlich zu einer Orgie ausartet: Adrian Hoven in der Rolle eines Psychiaters referiert smart lächelnd über Sex und Unterbewußtsein, während ein zwergwüchsiger Butler offensichtlich LSD-imprägnierte Zuckerwürfel in einer travestierten Zeremonie gleich Hostien an die schillernde Gesellschaft verabreicht, die sich in der Folge gebährdet wie die Irrenhaus-Insassen in Poes The System of Professor Tarr and Dr. Fether. In einer anderen Sequenz lockt Lorna eine junge Frau (Nathalie Nort) in ein verlassenes Schloß, wo sich deren Schicksal in einem Saal voller lebendig werdender Schaufensterpuppen erfüllt - eine wunderschön realisierte Szene, die durchaus an Mario Bavas vier Jahre später entstandenen Kunsthorror-Klassiker Lisa e il diavolo denken läßt.

Necronomicon
ist eine faszinierende Melange aus Surrealismus und Psychedelia und führt eindrucksvoll vor Augen, welches kreative Potential damals in Jess Franco steckte und wozu der Regisseur in der Lage war, wenn er ausreichend Zeit sowie eine gute Crew und Besetzung zur Verfügung hatte. Der im Film enthaltene (heutzutage harmlos erscheinende) Anteil an nackter Haut und die sadomasochistischen Themenbezüge waren für eine Produktion der 60er Jahre durchaus gewagt, dennoch wurde Necronomicon einer von Francos finanziell erfolgreichsten Filmen und seinerzeit sogar bei der Berlinale nominiert. Der Erfolg führte übrigens geradewegs zur Zusammenarbeit mit dem geschäftstüchtigen britischen Produzenten Harry Alan Towers, für den Franco u. a. zwei Fu Manchu-Verfilmungen mit Christopher Lee, die de Sade-Adaption Justine und den psychedelischen Horrorthriller Paroxismus (aka Venus In Furs) drehte, der in seinen Stilmitteln stark an Necronomicon erinnert.

© Thomas Wagner

Daten zum Film:

NECRONOMICON - GETRÄUMTE SÜNDEN
(weitere Titel: SUCCUBUS, NECRONOMICON - DREAMT SIN)
Deutschland/Spanien 1967, Farbe, ca. 76 min
Regie: Jess Franco
Buch: Pier A. Caminnecci, Jess Franco
Kamera: Jorge Herrero, Franz Xaver Lederle
Schnitt: Frizzi Schmidt
Musik: Jerry van Rooyen, Friedrich Gulda
Darsteller: Janine Reynaud (Lorna Green), Jack Taylor (William Mulligan), Adrian Hoven (Ralf Drawes), Howard Vernon (Admiral Kapp), Nathalie Nort (Olga), Michel Lemoine (Pierce), Pier A. Caminnecci (Hermann)

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