DAS STIEFKIND DER UNIVERSAL
Bela Lugosi in "Murders in the Rue Morgue"

Schwermütig sinniert Dr. MirakleDas sogenannte "Golden Age" der Horrorklassiker, die dreißiger Jahre, hat viele berühmte Filme hervorgebracht. Zu den größten zählen FRANKENSTEIN, DRACULA und ihre Sequels. Darunter befinden sich auch einige weniger gut bekannte, heute fast vergessene. MURDERS IN THE RUE MORGUE muß man leider zu den zweiteren zählen. Ich schreibe leider, denn wie ich finde, nicht zu Recht. Es ist dem Film vorgeworfen worden, daß er nicht den Charme der anderen Klassiker besäße, die sich mit einer buchstäblich ewigwährenden Lovestory (THE MUMMY), einem erotischen Mythos (DRACULA) oder einem ans Herz greifenden Monster (FRANKENSTEIN) die Liebe des Publikums errangen. Es ist wahr, MURDERS ... besitzt vielleicht wirklich etwas weniger romantischen Charme als die anderen. Sein Hintergrund ist kein lang gewachsener Mythos, sondern eine Detektivgeschichte von Edgar Allan Poe. Als eine solche angelegt, aber von den Drehbuchautoren der Universal-Studios nach gewohnter Manier auf den Kopf gestellt und umgedichtet, blieb ihm nichts von der Spannung, die Poe hineingeschrieben hat, dafür jedoch viel von der erschreckenden Brutalität der Vorlage. Dieselbe Story ist übrigens zum ersten Mal in Dänemark verfilmt worden, im Jahre 1908, unter dem Titel SHERLOCK HOLMES IN THE GREAT MURDER MYSTERY.
Ich möchte hier die durchaus vorhandenen Vorzüge von MURDERS ... hervorheben und ihm den Rang unter den anderen Großen des Genres zugestehen, der ihm lang verwehrt worden ist.

Die Geschichte nimmt ihren Anfang am 19.10.1931, als mit den Dreharbeiten begonnen wird. Robert Florey, der damals 31jährige französische Emigrant, wird für die Regie zuständig sein und damit für 4 Wochen Herr über das Treiben auf den Universal-Sets sein. Kurz zuvor war ihm die Regieführung für FRANKENSTEIN versprochen worden, bis James Whale ihm den Rang ablief. Florey hatte sogar schon Probeaufnahmen gedreht - mit Bela Lugosi in der Monster-Rolle, welcher nunmehr in MURDERS ... den Hauptpart spielen sollte. Er hatte sich gegen das Monster entschieden, angeblich, weil ihm der Part zu wenig Dialog enthielt. Wahrscheinlich die schwerste Mißentscheidung seines Lebens, sollte doch Boris Karloff in dieser Rolle über Nacht berühmt werden, während Lugosis Laufbahn von den Höhen des Starruhms der dreißiger Jahre bis zu Sucht und Armut in den Fünfzigern absinken sollte.
Als mit den Dreharbeiten zu MURDERS ... begonnen wurde, ahnte noch niemand von all dem. Es war ein Oktober in einem miesen Jahr in der Depression, das Budget nicht allzu hoch (aber auch nicht allzu niedrig), die Dreharbeiten sollten alles in allem 190.099,45 $ kosten, das Geschäft mit dem frischgebackenen Horrorzyklus lief, und man war guter Dinge. Die Universal-Studios machten in gewohnter Manier mit großen Worten Werbung für ihr neues Projekt: "HIS CRAZED MIND PLANNED THE MOST AMAZING WEDDING THE WORLD HAD EVER KNOWN ..."
Der Drehstab bestand aus einem Star - Lugosi - und mehreren Debütanten, die sich später von dem "mißratenen Film" distanzieren würden. Sidney Fox, die Heldin von MURDERS ..., sollte gute zehn Jahre später in ihrem Haus an einer Überdosis Tabletten sterben. Sie war schauspielerisch ein recht unbeschriebenes Blatt, als Florey ihr die Rolle der Camille l'Espanaye gab, und wurde dennoch im Vorspann an erster Stelle - noch vor Lugosi - aufgeführt. Man munkelte, daß sie zu diesem Ruhm dadurch gekommen sei, weil sie die Geliebte von Universal-Boss Laemmle jr. war. Der gute junge Held, Pierre Dupin alias Leon Waycoff, war hier sogar erstmalig auf der Leinwand zu sehen. So verwundert es nicht, daß die Nebenparts in der dominierenden Präsenz Bela Lugosis etwas fade wirken. Sein Name, wohlbekannt aus dem vorjährigen Erfolg DRACULA, sollte das Zugpferd für den Film sein und das Publikum in die Kinos locken. Eine Rechnung, die sicher aufgegangen wäre, wenn nicht das Schicksal es anders gewollt hätte. Kurz nach der Fertigstellung von MURDERS ... hatte FRANKENSTEIN am 04.12.1931 wie eine Bombe eingeschlagen und war zu einem überwältigenden Erfolg geworden, mit dem niemand gerechnet hatte. Der Name Boris Karloff hatte auf einmal Starrang, und MURDERS ... - so atmosphärisch und gruselig der Film auch war - konnte gegen diesen Erfolg nicht ankommen.

FilmplakatAber zurück zu unserem Film, den ich nun genauer vorstellen will. Ich beginne mit dem Anfang, mit den Opening Credits, mit Sidney Fox an erster Stelle und Bela Lugosi an ihrer Seite, in weißer Schrift über wunderhübsch schräge, expressionistisch gemalte Titelbilder gelegt, während im Hintergrund die unvermeidlichen Takte von "Schwanensee" erklingen, die das damalige Publikum mit Lugosis Person identifizierte.
Paris, 1845 (4 Jahre vor Poes Tod) ... die nächtlich glitzernde Seine und die Brücken des alten Paris bilden die erste Szene. Gleich darauf fährt Karl Freunds mobile Kamera in getragener Langsamkeit über die Köpfe einer wuselnden Menschenmenge hinweg, durch die engen Zeltgassengänge einer Kirmes. Eine Schaukel schwingt seitlich ins Bild; sie wird eine Entsprechung in einer späteren Szene finden. Arabische Bauchtänzerinnen, "echte Indianer" (die Anlaß zu einem witzigen Vergleich mit den Pariser Apachen bieten) und ähnliches Schaustellervolk zeigen ihre Seltsamkeiten. Zwei junge Pärchen fallen uns auf: Camille und Pierre, sein dicker, "lustiger" Studentenfreund und seine Freundin. Sie scherzen, trinken und lassen es sich gut gehen. Ein Zelt mit einem gigantischen Affenbild als Eingang lockt sie. Drinnen steht seitlich am Eingang ein großer dünner Mann mit einem knotigen Stock, der Camille unaufgefordert den guten Rat gibt, sich ganz vorne hinzusetzen, damit sie alles sehen kann. "What a funny looking man", witzelt Camille. "He's a show in himself!" Sie soll recht behalten - wie sehr, kann sie nicht ahnen, nur der Zuschauer weiß schon ganz genau, daß der ältere Herr mit dem seltsamen Akzent wieder einmal verantwortlich für alles denkbar Böse sein wird.
Der Herr tritt auf die Bühne, stellt sich als Dr. Mirakle vor und beginnt dem staunenden Publikum eine mitreißende Rede über seine Auslegung des Darwinismus zu halten und über den ersten Menschen, den er in seinem Käfig hat. "Behold - the first man!" jubelt Lugosi/Mirakle. Mit seinem Knotenstock zeigt er auf den verdeckten Käfig, das Tuch fällt, und in einer geschickt gemachten Einstellung sieht der Zuschauer aus der Perspektive des Käfiginsassen heraus das erschreckt aufschreiende Publikum. Ein Affe sitzt im Käfig. Es ist im wirklichen Leben ein Filipino namens Charles Gemora im Gorillakostüm, im Verlauf der Geschichte jedoch "lonely Erik", das Schmusetier Dr. Mirakles und Ahnvater der von ihm geplanten neuen Rasse.
(Im Jahre 1954 ist die Geschichte übrigens noch einmal verfilmt worden - in 3-D, mit Karl Malden in der Hauptrolle und Charles Gemora im Affenkostüm!)
Als die Kamera uns dem Affen näher bringt, sehen wir hineinmontierte Closeups eines Schimpansen, der hinter seinen Gitterstäben schmatzt und schnattert. Auf diese Art hat Florey es vermieden, uns den Filipino im Haarkleid aus schonungsloser Nähe zu zeigen, wie es leider so oft in den späteren Billigsequels der großen Klassiker geschah. Leider sind die Closeups des Schimpansen etwas heller als der Rest, so daß der gewollte Effekt etwas leidet; beim ersten Ansehen wirkt es jedoch immer noch erstaunlich.
Dr. Mirakle läßt es sich nicht nehmen, eine Ansprache Eriks aus der Affensprache ins Englische zu übersetzen. In dieser Sequenz zerstört die Lächerlichkeit der Sätze, die man Lugosi in den Mund gelegt hat, die bedrohlich-dominante Wirkung, die er in den ersten Szenen aufbaute. Wir sehen einen onkelhaft-liebenswürdigen älteren Herrn, der sein Käfigtier liebkost und in Baby-Sprache mit ihm redet. Bei der unbekannten Sprache, die Lugosi von sich gibt, soll es sich um Rumänisch gehandelt haben. Ungarisch jedenfalls - Lugosis Muttersprache - war es wohl eindeutig nicht!
Was im Anschluß an diese krude Szene folgt, ist einer der feinsten Momente Lugosis und der Beweis für seine große Wandelbarkeit. Das Publikum, durch die respektlosen Theorien des Doktors verärgert, zischt und schimpft, und es fällt das Wort "Häresie". Für Mirakle das Stichwort, eine flammende Ansprache für die Wissenschaft und wider die Engstirnigkeit der Unwissenden zu halten, die ihn auf den gleichen Sockel mit Dr. Frankenstein und Dr. Moreau heben wird.
In Sekundenbruchteilen, während er seine vielleicht schönste Rede hält, ändert Lugosi seinen Ausdruck von ironischem Humor über Zorn bis hin zu lohendem Irrsinn. "Heresy? Do you still burn men for heresy?" (Erstaunt, mit gehobenen Brauen.) "Then burn me, Monsieur. Light the fire." (Lächelnd, freundlichen Tons, jedoch mit einer versteckten Drohung.) "Do you think your little candle ..." (anfangs humorig, plötzlich jedoch runzelt er die Stirn, und seine Stimme wird hart) "... will outshine the flame of truth?" (Jetzt bricht er aus:) "My life is consecrated to great experiment!" (Nahaufnahme, Lugosi mit glühenden Augen, mühsam die Worte hervorstoßend. Dann, nachdem er so seine Macht präsentiert hat, läßt er den Wahnsinn durchscheinen:) "I tell you I will proooove - your kinship - with the ape!" Lugosis Theatralik ist oft zu Recht gerügt worden und hat auch viel Anlaß für Dummköpfe geboten, ihn einen schlechten Schauspieler zu nennen. Er war jedoch durchaus in der Lage, feine Nuancen, ja Sanftheit darzustellen. Er hat die Übertreibung jedoch kultiviert. Man könnte fast sagen, er habe seine eigene Kunstform daraus erschaffen. Seine Übertreibungen waren todernst gemeint und von großer Intensität. Offenbar glaubte er selbst daran - und das macht den Zuschauer ebenfalls gläubig. Er empfindet solche Szenen weniger als gespielt denn vielmehr als erlebt. Hierin liegt der Zauber, die sprichwörtliche Lugosi-Magie.
Nachdem die Menge Dr. Mirakle angegafft und der Häresie bezichtigt Der gute Onkel Doktor hat, würde sie ihn jetzt vielleicht sogar steinigen - bei Gelegenheit. Er jedoch ist arrogant und stolz genug auf seine Andersartigkeit, um sich ihnen überlegen zu fühlen. Keine Minute lang läßt er uns im Zweifel darüber, daß er seine Zeit lieber in Gesellschaft seines Affen verbringen würde, als sich mit diesen Dummköpfen zu umgeben, die er ihrer Ignoranz wegen verachtet. Lugosi hat hier ein Standardmodell für den Mad Scientist erschaffen, das später oft variiert wurde. Lugosis Auslegung wurde zu einem Klischee: älterer Mann, der einsames asketisches Leben führt, Genius und Wahnsinn in sich paart, im Namen der Wissenschaft kaltblütig mordet. Er gehört nicht mehr zur menschlichen Gesellschaft, der er sich überlegen fühlt.
Die Szene im Jahrmarktszelt kommt zu einem ebenso merkwürdigen Ende, wie ihr Anfang war: das beleidigte Publikum geht, nur unsere vier jungen Leute bleiben. Mirakle lädt Camille ein, die Bekanntschaft des Affen zu machen: "Erik is only human - he has an eye for beauty!" Solcherart geschmeichelt, gibt sie dem Gorilla ihr Hütchen, nach dem er bittend greift. Aber der Affe zerreißt das Hütchen und würgt Pierre, der es ihm entreißen will. Nur durch Mirakles Einschreiten kommt er mit heiler Haut davon. Der Doktor, liebenswürdig wie immer, möchte Camille einen neuen Hut schenken - aber Pierre Dupin achtet darauf, daß er ihre Adresse nicht bekommt. Was Mirakle nicht davon abhält, seinen Diener Janos "The Black" auf Erkundungsgang zu schicken.
In der nächsten Einstellung sehen wir eine klare Nacht, eine Straße, auf der eine Kutsche vorfährt, in welcher Mirakle und Erik sitzen. Der Doktor belauscht eine ziemlich gezuckerte Liebeserklärung, die Pierre Camille auf dem Balkon macht. So nichtssagend und überflüssig diese Szene auch sein mag; hier fallen uns die wunderschönen Kulissen ins Auge, die Charles Hall für MURDERS ... gebaut hat. Sie erinnern an den expressionistischen deutschen Stummfilm, an CALIGARI und den GOLEM. Windschiefe, in spitzen Winkeln aufsteigende Dächer, bei denen nicht einmal die rauchenden Schornsteine vergessen wurden, ragen in den mit Wolkenfetzen übersäten Himmel. Die Aufnahme ist von einer so erstaunlichen Klarheit, daß die Gesichter der beiden Liebenden auf dem Balkon wie aus Porzellan wirken.
Dr. Mirakle hat genug gesehen und fährt mit seiner Kutsche weiter. Sein Diener Janos kutschiert. Er ist kein anderer als der farbige Schauspieler Noble Johnson, den man in ein sehr sonderbar wirkendes weißes Makeup gesteckt hat, das ihn wie einen verwachsenen Albino wirken läßt. Noble Johnson hat später noch in anderen Horrorfilmen mitgewirkt, darunter solch berühmte Größen wie KING KONG, THE MUMMY und THE MOST DANGEROUS GAME.
Die Kutsche fährt nun plötzlich durch dichten Nebel - der Wetterumschwung erklärt sich dadurch, daß die Szenenfolge nachträglich verändert wurde. Ursprünglich stand die folgende Szene am Anfang des Filmes: Auf einer Brücke kämpfen zwei Männer miteinander um eine Halbweltdame, die kreischend dabeisteht. Nachdem der eine tot ist, steigt aus der Kutsche - durch Karl Freunds Kamera und die Beleuchtung äußerst vorteilhaft ins Bild gesetzt - Dr. Mirakle und nähert sich bedrohlich langsam der weinenden Frau. Als sein Gesicht sich in Großaufnahme ins Licht schiebt, verzieht er die starkgeschminkten Lippen zu einem genießerischen Lächeln: "A lady - in distress?" (Diese Phrase ist der pure Hohn, denn er drückt nichts anderes damit aus, als daß die Lady später noch in viel mehr "distress" geraten wird.) Die Frau geht mit ihm, nachdem er sie mit einer draculesken Geste in seinen Mantel gehüllt hat.
Schon bei den Anfangsszenen im Zelt, aber auch in dieser Szene sticht das vorzügliche Makeup von Jack Pierce (der auch für Karloffs Frankensteinmonster-Outfit verantwortlich war) besonders ins Auge. Lugosi, zu jener Zeit im Besitz einer für ihn ungewohnt hageren Statur, wirkt mit dem kruden Makeup unheimlicher denn je und dabei auch noch erstaunlich attraktiv: tiefe Falten schneiden in seine schlaffe Wangenhaut, die Brauen sind zu einem dicken schwarzen Strich zusammengezogen, und eine dunkle Lockenperücke wirkt wie eine Travestie der jugendlichen Lockenpracht Dupins. Böse und durchbohrend starren Lugosis helle Augen unter dieser Masse von Schwarz hervor, wenn er sie auf die Dame seiner Wahl richtet. (Eine ähnlich unheimliche Wirkung hat Lugosi nur noch in WHITE ZOMBIE erreicht, wo ebenfalls Pierce für das Makeup verantwortlich war.) Er geleitet die Dame zu seiner Kutsche, wo sie offenbar des wartenden Affen ansichtig wird, denn sie stößt ein hysterisches Lachen aus ...
Schon in der nächsten Einstellung wird uns deutlich vor Augen geführt, wie weit es mit der Hilfsbereitschaft des guten Onkel Doktor her ist. Ein markerschütternder Schrei ertönt, und als Schattenriß sehen wir an einer roh verputzten Wand den Körper des in zerrissenen Unterkleidern und Knöpfstiefeletten dastehenden Straßenmädchens, an ein riesiges X-Kreuz gefesselt, und die unverwechselbare Silhouette Mirakles vor ihr. Brutal nimmt er ihr Blut ab, um im Bildvordergrund zwischen alchimistisch wirkenden Gefäßen zu experimentieren, während wir die gemarterte Frau im Hintergrund am Kreuz hängen sehen."A lady - in distress?"
Über diese Laborszenen ist gesagt worden, daß sie die besten und gleichzeitig geschmacklosesten des ganzen Films seien. Die besten - vielleicht; das zweitere - nun ja; auch heute noch geht einem die unmenschliche Rohheit, mit der Mirakle die Sterbende mißhandelt, an die Nieren. Auch das nervenzermürbende Schluchzen im Hintergrund trägt zur Scheußlichkeit der Szene bei. Kein Tropfen Blut ist zu sehen, und doch dreht sich das ganze Geschehen um das rote Elixier: Mirakle hat vor, das Blut des Affen mit dem der Frau zu mischen, um sie zu miteinander zu "paaren". (Obwohl er ständige vom Mischen des Blutes faselt, ist uns längst klar, was er eigentlich will: eine menschliche Braut für seinen armen "lonely Erik", an der auch er selbst Gefallen findet, um die beiden dann bei ihren possierlichen Liebesspielen zu beobachten.)
Etwas einfältig wirkt, daß Mirakle, der doch ein Mann von Welt sein sollte, erst jetzt unter dem Mikroskop bemerkt (woran eigentlich?), daß die Frau eine Prostituierte ist. "Rotten! Your blood is rotten, black as your sins!" wütet er, diverse Erlenmeyerkolben zertrümmernd. Während er fluchend die Faust ballt, stirbt sein Opfer. Was nun folgt, ist eine der perversesten und absonderlichsten religiösen Szenen der Filmgeschichte: Mirakle, ihres Todes bewußt geworden, ändert seinen Gesichtsausdruck von Zorn zu maßloser Frustration, und - die Hände wie im Gebet gefaltet - sinkt er traurig vor ihr in die Knie. Eine geschickte Kameraeinstellung läßt das herabgeneigte Gesicht der Toten wie das des gekreuzigten Christus wirken. Im nächsten Augenblick gewinnt jedoch wieder die Manie die Oberhand über Mirakle, und er befiehlt Janos, die Leiche zu beseitigen. Durch eine Falltür wird sie in den Fluß befördert.
Am nächsten Morgen fischt die Polizei sie aus dem Wasser, unter den philosophischen und ironischen Bemerkungen einiger Clochards. Im Leichenschauhaus wird nichts Auffälliges an der Leiche entdeckt, bis Dupin, der Medizin studiert, auftaucht und sich für sie interessiert. Er entdeckt die Lanzettschnitte an ihrem Arm, wo Mirakle Blut abgezapft hat, und bittet den Beamten um eine Probe desselben.
Auch die Szenen im Leichenhaus entbehren nicht einer gewissen kranken Komik und düsteren, gediegen-altmodischen Atmosphäre. Auffällig auch hier die guten Nebendarsteller in diversen Kleinrollen, z.B. D'Arcy Corrigan als Beamter. Man könnte sich fragen, warum die Kleinrollen so gut besetzt wurden und die der Camille, des Dupin und (vor allem) die des witzig-dicklichen Freundes Paul nicht. Wenn man sich vorstellt, daß die damals noch völlig unbekannte Bette Davis für die Rolle der Camille vorgesprochen hat, man sich aber gegen sie entschied ...
In Dupins Studentenbude gibt es noch ein paar "witzige" Szenen mit Paul, der gerade das Mittagessen kocht, und dem zu Besuch kommenden Leichenhausbeamten, der etwas abhaben möchte, aber nichts bekommt. Das vielleicht Beste an der ganzen Szene ist die pittoreske Mansardenkulisse mit dem riesigen Fenster, den auf die Wände gemalten Skizzen und dem mitten im Zimmer stehenden Kanonenofen, dessen schiefes Rohr durch den ganzen Raum ragt. Hier wie auch bei anderen Kulissen sieht man deutlich, wie angestrengt man sich um eine authentische Pariser Atmosphäre bemühte. Auch die Bücher, in denen Dupin liest, könnten auf dem Horrorfan-Schwarzmarkt einiges wert sein: handgemalte Illustrationen der abenteuerlichsten Blutkörperchen, darunter glücklicherweise auch Gorillablut - sehr zum Vorteil für Dupin. Er stellt fest, daß die bislang 3 toten Frauen nicht ertrunken sind, sondern durch ein seltsames Gift starben, das ihnen injiziert wurde ...
Die nächste Einstellung zeigt eine Hutschachtel, aus der Camille ein neues Hütchen entnimmt, das ihr zugesandt worden ist. Ihre sehr jung aussehende Mutter kommt sich das Ganze ansehen und hat die Idee, die in der Schachtel liegende Karte zu lesen. Sie stammt von Dr. Mirakle, dem "funny old man", der Camille für den Abend zur Kirmes bittet, da für sie große Dinge in den Sternen stehen. Auch Erik läßt galante Grüße ausrichten.
Die folgenden Szenen sind ein Zugeständnis an den herrschenden dreißiger Jahre-Hollywoodgeschmack: süßliche Operettenwechselgesänge zwischen Camille auf dem Balkon und ihren Freunden, die unten auf Eseln reiten, leiten über zu einem Picknick im Grünen nach impressionistischer Manier. Viele junge Pärchen lagern romantisch zwischen Büschen und Gras und schäkern auf recht frech-französische Art miteinander. Camille sitzt auf einer Schaukel und prahlt mit dem neuen Hut vor Dupin. Als er erfährt, daß der Hut von Dr. Mirakle ist, warnt er sie eindringlich, nicht zu der Verabredung zu erscheinen. Die Schaukelszene bietet dem aufmerksamen Zuschauer ein weiteres visuelles Gimmick aus der Trickkiste des Kamerazauberers Karl Freund. Die Kamera schwingt an der Schaukel befestigt mit, verleiht dem Bild eine ungewöhnliche räumliche Tiefe, die einem 3-D-Effekt nahekommt. Denselben Trick soll Freund schon in dem deutschen Stummfilm VARIETE verwendet haben. Seltsamerweise habe ich in der Fachliteratur entweder gar keine Erwähnung dieser Aufnahmen gefunden oder eine ablehnende Meinung. Die Kamera sei "zu eitel", würde zu sehr vom Geschehen ablenken, das Ganze sei im besten Falle überflüssig. Sonderbar, da uns beim ersten Betrachten gerade dieser Effekt sehr erfrischend ins Auge sprang!
Am Abend begibt sich Dupin zu Dr. Mirakle auf die Kirmes. Dort wird gerade abgebaut, denn man reist am nächsten Morgen weiter. Mirakle sitzt finster brütend in seinem Zelt und heißt Dupin nicht gerade begeistert willkommen. Daß Camille nicht zum Rendezvous erscheint, trifft ihn sichtbar; er wirft den jungen Mann hinaus. Dupin erfährt draußen von den Arbeitern, daß der Doktor nicht mitreisen wird, sondern in Paris bleibt.
Die wohlbekannte Kutsche bringt Mirakle und seinen Affen zu einem archaisch-golemhaft aussehenden Haus im ältesten Stadtteil. Dupin fährt als blinder Passagier mit und belauscht die "Gespräche" Mirakles und Eriks.
Am nächsten Tag erzählt er Camille auf dem Balkon von seinen Beobachtungen. Unten an der Straßenecke beobachtet währenddessen Mirakle, wie sie sich küssen und verabschieden. Dupin geht, und Mirakle schleicht sich per Nachschlüssel in Camilles Haus ein. Zunächst clever, verstellt er seine Stimme und verlangt Einlaß an ihrer Tür; aber schon verläßt ihn die Schlauheit auch wieder, und er fängt im Wahn an zu monologisieren, womit er sie nicht zum Mitkommen überreden kann. Camille wirft ihm die Tür vor der Nase zu, und Mirakle - fast in Tränen - verläßt mit verzerrtem Gesicht das Haus. Er hat jedoch noch einen Trumpf im Ärmel: Erik, der keine Türen und Treppen braucht, wartet im Wagen. Er soll Camille aus ihrem Zimmer holen.
In der Zwischenzeit entdeckt Dupin im vorhin beschriebenen Buch das Vorhandensein des Gorillablutes und erkennt, daß die Frauen an einer Gorillainjektion gestorben sind.
Erik klettert an der Fassade des Hauses empor und dringt in die Wohnung ein, wo Camille schreiend in Ohnmacht fällt. Die herzueilende Mutter wird von dem Affen massakriert; wie in der Originalgeschichte von Poe dringen ihre markerschütternden Schreie durch die Straße und locken die Nachbarn herbei. Erik stopft die Leiche in den Kamin und verläßt mit Camille durch das Fenster das Zimmer.
Weil die Szenen, in denen der Affe die Leiche in den Kamin stopft, so nicht gezeigt werden konnten - bei der Universal ging man davon aus, daß sie der Zensur zum Opfer fallen würden -, entschied man sich für eine Methode, die eine äußerst zwiespältige Wirkung zeitigte: das Geschehen wird nur als Schattenriß sichtbar bzw. durch Schreie aus dem Off signalisiert. Man gewinnt jedoch in den kurzen Szenenausrissen, die sichtbar sind (echter Schimpanse wiegt sich zähnefletschend) den Eindruck, daß der Affe brutal die Mutter vergewaltigt. Ob diese Wirkung vom Studio vorgesehen war?
Als die Tür aufgebrochen wird, ist niemand mehr zu sehen. Dupin gerät in Verdacht und muß sich vor dem Polizeipräfekten verantworten, der auch noch andere Zeugen befragt. Hier bekommt der geneigte Zuschauer endlich ein bißchen "echten Poe" zu sehen: die babylonische Sprachverwirrung, die unter den Zeugen herrscht, und die Stimmen, die sie gehört zu haben glauben, sind eng an die Originalgeschichte angelehnt. Ein Deutscher glaubt, Italienisch gehört zu haben. Ein Italiener glaubt, Dänisch gehört zu haben, und ein Däne glaubt, Deutsch gehört zu haben. Dies wird natürlich auch zum Anlaß genommen, ein bißchen zeitgenössischen Humor einzubringen; jedoch wirkt der gewollte Witz (der ja oftmals gar nicht lustig ist) bei dieser Szene nicht so störend wie bei anderen, was wahrscheinlich an den guten Nebendarstellern liegt. Brandon Hurst beispielsweise, der den Polizeipräfekten spielte, sollte schon vier Monate später in WHITE ZOMBIE in der Rolle des Butlers Silver wieder an Lugosis Seite stehen.
Die Tote wird schließlich auf Dupins Anregung hin im Kamin entdeckt.
Inzwischen in Mirakles Labor: Der Doktor experimentiert, freut sich, daß das Blut perfekt ist. Offenbar hat eer diesmal die Blutprobe vor der Affeninjektion genommen, sehr zum Vorteil von Camille. Diese liegt ohnmächtig auf dem Sofa. Sie ist nicht ans Kreuz gebunden worden. Der Doktor hat vom ersten Augenblick an gewußt, daß sie anders ist als die anderen - unschuldig, rein und zart und süß usw. Im Gegensatz zu den anderen hat er sie auch ins Herz geschlossen. Seine zärtliche Geste, mit der er ihr den Puls fühlt und übers Haar streicht, spricht jedenfalls dafür. Lugosi hat diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, seine ausnehmend schönen Hände ins Bild zu setzen. Mit gebührender Eitelkeit und tänzerischer Grazie streckt er seinen langen schlanken Arm über Camilles Oberkörper, um ihre Stirn zu fühlen.
Unten versammeln sich unterdessen die Leute, die Dupin aufgehetzt hat.
Die Wachturm-Kulissen aus FRANKENSTEIN sind offensichtlich hier wiederverwendet worden; Janos späht aus dem vergitterten Fenster hinunter auf die Straße wie der bucklige Fritz, das Faktotum des Monsterschöpfers. Das wütende Volk erkennt, daß hier nichts zu holen ist, und will durch die Hintertür eindringen. Hier sehen wir ebenfalls Kulissen aus FRANKENSTEIN. Janos wird durch die Tür erschossen, die Tür aufgebrochen. Währenddessen erwürgt der wütende Erik im Hormonrausch seinen Herrn und Meister. Dann flüchtet er mit Camille auf den Dachboden. Er schleppt sie über die Dächer davon, wobei man leider allzu deutlich die Puppe sieht, die Sidney Fox doubelt. Dupin entreißt einem gaffenden Polizisten die Waffe und stürmt durch ein Nachbarhaus auf das Dach.
In der folgenden Einstellung fallen uns noch einmal in aller Deutlichkeit die wunderschönen Kulissen von MURDERS ... ins Auge. Schiefe Dächer, winzige Schornsteine, spitze Winkel und schräge Ebenen bilden eine expressionistische Formenlandschaft vor der nächtlich glitzernden Seine. Der Affe legt die Bewußtlose ab, die fast vom Dach rollt, sich aber im letzten Moment festklammern kann. Erik wird erschossen und stürzt in den Fluß. Dupin rettet Camille.
Die letzte Szene des Films zeigt uns das Innere des Leichenschauhauses, in das Mirakles Leiche eingeliefert wird. "Death caused by?" fragte der Beamte mit angespitzter Feder.
"Ha - ha - ha - an ape!" antwortet der Polizist.
THE END. IT'S A UNIVERSAL PICTURE.

Ich habe mich hier bemüht, die Schwächen und Schönheiten von MURDERS ... zu beleuchten. Eine seiner offensichtlichen Schwächen ist leider Sidney Fox, über die Bryan Senn geschrieben hat: "Sidney Fox has little appeal in the role of Camille. Why Pierre or Mirakle, or even Erik for that matter, would be so captivated by this silly colorless creature, is a mystery." Sicherlich - eine Fay Wray hätte die Rolle des Mauerblümchens ganz anders ausgefüllt.
Ebenso ist vielerorts angemerkt worden, daß es das Hochrad zu jener Zeit noch nicht gab, welches man in einer Szene durch die Straßen fahren sieht. Ich kann dem nichts hinzufügen, für mich überwiegen bei diesem Film jedoch die Stärken: Eine exquisite visuelle Schönheit, die phantastischen Kulissen, die Kameraarbeit Karl Freunds, der Bilder kreierte, als wäre er ein Maler, mit Balance und räumlicher Tiefe. In manchen Szenen bewegt sich seine mobile Kamera auf Mirakles Gesicht zu und zieht den Zuschauer mit sich, in den hypnotischen Mahlstrom der Augen des Wahnsinnigen.
Robert Florey hat sich später gebrüstet, daß er die Adaption in einer Woche geschrieben und den Film in 4 Wochen fertiggedreht habe. Dies ist so nicht ganz richtig. Nachdem MURDERS ... an einem Freitag den 13. November fertiggestellt worden war, zeigten sich die Studiobosse nicht gerade besonders zufrieden. FRANKENSTEIN hatte gerade einen großen Erfolg gefeiert, und man fürchtete um den Ruf des Horrorzyklus. Man beschloß daher das damals beinah Unvorstellbare: eine begrenzte Zeit für weitere Dreharbeiten und ein zusätzlicher Etat von 21.000 $ wurden bereitgestellt. Diesem zusätzlichen Etat verdanken wir beispielsweise die Aufnahmen des echten Schimpansen. Wahre Affenliebe Einige der wichtigsten Schlüsselszenen wurden neu gedreht. Kann es sein, daß Lugosi beim ersten Mal noch mehr übertrieben hatte? Und eine Umstellung der Szenenfolge wurde (leider) vorgenommen.
In der Urfassung waren die Szenen, in denen Mirakle die Prostituierte einfängt und tötet, ganz zu Anfang zu sehen gewesen. Man fand, daß dies für die Zuschauer zu schockierend sei und sich zudem auf die Spannungskurve des Films negativ auswirke, da das Publikum so gleich wüßte, wie es um den guten Onkel Doktor bestellt sei. So wurden für die Kirmes zusätzliche Szenen gedreht und diese ganz an den Anfang montiert. Dies hatte gewisse Sprünge in der Kontinuität des Films zur Folge, so ist es z.B. bei Mirakles Kutschenfahrt zunächst klar und dann neblig.
Gregory Mank schreibt in seinem sehr schönen Essay in dem Buch "Bela Lugosi" (Midnight Marquee Actors Series), daß der Mißerfolg von MURDERS ... erstens bei Florey zu suchen sei, der Lugosis wahre Qualitäten nicht erkannt habe, ihn nicht zu führen verstand und später auch noch schlecht von ihm redete. Zweitens sei die Besetzung außer Lugosi sämtlich ohne Feuer; und drittens habe die Geschichte wenig Charme. Dabei sei doch Charme gerade die wichtigste Zutat bei den Universal-Filmen ...
Robert Florey hat übrigens später noch weitere Filme gedreht, die beim Publikum besser weggekommen sind; darunter beispielsweise der wirklich schöne THE BEAST WITH 5 FINGERS von 1946, in dem auch Peter Lorre mitwirkte.
Die New York Times schrieb über die Premiere: "MURDERS IN THE RUE MORGUE, der gestern im Mayfair-Theater geboten wurde, stellt eine Collaboration zwischen Edgar A. Poe, Tom Reed und Dale Van Every dar. Von Poe, so scheint es, stammt der Titel, und die Messrs. Reed und Van Every dachten sich eine Story dazu aus ... Der Höhepunkt, als der Affe mit der bewußtlosen Frau im Arm über die Dächer klettert, löste ein paar Quietscher im Publikum aus ... Die ganze Produktion leidet unter der übermäßig bemühten Anstrengung, gruselig zu sein, und die Besetzung, von der allgemeinen Hysterie angesteckt, erliegt der Verlockung der Theatralik ..."
Nun ja - ganz so niederschmetternd würde ich es nicht betrachten, aber dieser Zeitungsausriß zeigt deutlich, daß MURDERS ... längst nicht so gut aufgenommen wurde wie FRANKENSTEIN. Ich möchte hoffen, daß sich diese Meinung im Zuge der Video-Veröffentlichung der alten Klassiker ein wenig ändern möge. Und sei es nur um Lugosis willen. Denn trotz allem, "it's Bela's show all the way ..."

© M. Angerhuber

Daten:
MURDERS IN THE RUE MORGUE
USA 1931 (19.10. - 13.11. + Nachaufnahmen im Dezember 31)
Produktion: Universal (Carl Laemmle jr.)
Premiere: RKO-Mayfair Theatre, New York, 10.02.1932
Budget: 190.099,45 $
Laufzeit: 61 Minuten
Regie: Robert Florey
Buch: Tom Reed, Dale Van Every
Makeup: Jack Pierce
Kamera: Karl Freund
Kulissen: Charles Hall
Darsteller: Sidney Fox (Camille), Bela Lugosi (Dr. Mirakle), Leon Waycoff (Pierre Dupin), Noble Johnson (Janos), Arlene Francis (Straßenmädchen), Charles Gemora (Erik)

Quellen:
Essay von Gregory Mank in Susan & Gary Svehlas Buch BELA LUGOSI (Midnight Marquee Actors Series);
Richard Bojarski: THE COMPLETE FILMS OF BELA LUGOSI (Citadel Press);
MONSTERS FROM THE VAULT # 3;
CULT MOVIES # 15

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