VIELLEICHT TRÄUMT MAN
(One May Be Dreaming)
Thomas Ligotti


or dem Fenster breitet sich dichter Nebel über den Friedhof, und ein paar wenige Lichter strahlen in dunstiger Tiefe, glühen wie alte Lampen an einer leeren Straße. Sanft bricht die Nacht herein.
Im Fenster befinden sich enge Stäbe, vertikale und horizontale, die es in verschiedene kleinere Fenster zerteilen. An ihren Berührungspunkten bilden die Stäbe Kreuze, die ihre eigenen Spiegelungen nicht weit vor den Fensterscheiben haben, in jenen anderen Kreuzen, die aus dem erdverschlingenden Nebel im Friedhof ragen.
Auf dem Fensterbrett liegt eine alte Pfeife, die in einem anderen Leben mir gehört zu haben scheint. Der dunkle Pfeifenkopf muß zu rötlichem Gold erglüht sein, wenn ich rauchte und durch das Fenster auf den Friedhof blickte. Wenn der Tabak bis zum Grund durchgebrannt war, klopfte ich die Pfeife vielleicht vorsichtig gegen die Innenwand der Feuerstelle und badete die Scheite und Steine in einem warmen Aschenregen. Die Feuerstelle ist in die Wand eingelassen, die rechtwinklig zum Fenster steht. Auf der anderen Zimmerseite befinden sich ein großer Schreibtisch und hochrückiger Stuhl. Die Lampe, die auf der äußersten rechten Ecke des Schreibtischs steht, muß als Beleuchtung für den ganzen Raum genügen, eine bescheidene Ergänzung zu den bleichen Leuchtbojen vor dem Fenster. Einige alte Bücher, Füllfederhalter und Schreibpapier sind über die Schreibtischplatte ausgebreitet. In der düsteren Tiefe des Zimmers, an der vierten Wand, steht eine turmhohe Uhr, die leise tickt.

Dies sind also die Hauptmerkmale des Zimmers, in dem ich mich wiederfinde: Fenster, Kamin, Schreibtisch und Uhr. Es gibt keine Tür.
Ich habe mir nie vorgestellt, daß man weiterträumen würde, wenn man im Schlaf stirbt. Vielleicht träumte ich oft von diesem Zimmer und bin jetzt, kurz vor dem Eintritt des Todes, zu seinem Gefangenen geworden. Und hier wird meine blutleere Form festgehalten, während mein anderer Körper irgendwo still und ohne Hoffnung liegt. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß meine momentane Verfassung eine unwirkliche ist. Wenn ich sonst nichts weiß, so weiß ich doch zumindest, wie es ist, zu träumen. Und obwohl ein Universum sonderbarer Empfindungen von diesen Lichtern vor dem Fenster erregt wird, von dem Nebel und dem Friedhof, sind sie nicht wirklicher als ich es bin. Ich weiß, daß hinter jenen Lichtern nichts ist und daß der verhüllte Boden draußen mein Gewicht niemals tragen könnte. Sollte ich dort hinausgelangen, so würde ich geradewegs in eine absolute Finsternis stürzen, schneller, als ich sie durch die Abstufungen meiner Todesträume erreichen kann.

Denn es gab andere Träume vor diesem -- Träume, in denen ich hellere Lichter sah, einen noch dichteren Nebel und Grabsteine, deren Namen ich fast aus der Entfernung dieses Zimmers lesen konnte. Aber alles trübt sich, verschwimmt und wird dunkler. Der nächste Traum wird noch dunkler sein, alles ein wenig unklarer, meine Gedanken … sich verlieren. Und Dinge, die jetzt ein Teil der Szenerie sind, mögen bald fort sein; vielleicht wird sogar meine Pfeife -- falls sie mir je gehörte -- für immer verschwinden.
Jene Lichter, die im Nebel flackern, scheinen das Antlitz der Ewigkeit zu bilden, die kargen Züge einer leeren Maske. Die Uhr beginnt im Zimmer zu tönen, und für einen Augenblick hat die schweigende Leere eine widerhallende Stimme gefunden. Alles trübt sich, wird dunkel … der nächste Traum wird noch dunkler sein. Und wenn ich erwache, wird der Raum dunkler sein, sich wie ein Nebel um mich her verflüchtigen, ein schwarzer Nebel, in dem alles ertrinken und all meine Gedanken für immer verschwinden werden.

Aber für diesen Augenblick bin ich sicher in meinem Traum, diesem Traum.
Vor dem Fenster breitet sich dichter Nebel über den Friedhof, und wenige Lichter strahlen in dunstiger Tiefe, glühen wie alte Lampen entlang einer leeren Straße. Sanft bricht die Nacht herein.

© Thomas Ligotti
Übersetzung: Monika Angerhuber, 2000
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Animation © by Lila 2001
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