DAS NAMENLOSE GRAUEN
(The Nameless Horror)
Thomas Ligotti


s handelte sich um ein altes Studio. Es schien verlassen, aber wer weiß? Gewiß war nur, daß dort nichts war, wie es sein sollte - nicht der kaputte Krimskrams, der herumlag, nicht die verstreuten Papiere, nicht einmal der Staub. Die Scheiben des Dachfensters waren davon verkrustet. Aber wer kann es genau wissen? Vielleicht gab es irgendein unmerkliches Intervall zwischen Bewohntheit und Leerstand, irgend ein feines Stadium, das er im Augenblick einfach nicht erkennen konnte. Er bückte sich und hob ein paar der zerknitterten Papiere auf, die Zeichnungen zu sein schienen. Nun begann ein leichter Regen an den Scheiben des Dachfensters herunterzutröpfeln.
Die Zeichnungen. Er blätterte den Stapel dicht vor den Augen durch, Seite für Seite. So fein gestrichelt, bestand alles an ihnen aus winzigen, winzigen Haaren oder kleinen Adern, Insekten-Adern. Es gab Formen: Er konnte nicht sagen, was sie darstellen sollten, aber irgend etwas am Umriß dieser Formen, ihre Verrenkungen und die Art, wie sie flackerten, war so grauenvoll. Ein wenig Regen drang durch einige feine Risse in den Fensterscheiben; er tropfte herab und malte merkwürdige Muster auf den staubigen Boden des alten Studios.
Irgendjemand kam die Treppe vor der Tür des Studios herauf. Deshalb verbarg er sich hinter dieser Tür und, als der Jemand hereinkam, ging er, ohne zurückzublicken, hinaus. Auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, im Regen die Straße hinuntergerannt.
Jetzt ging er langsamer, und der Regen staute sich überschäumend in der Gosse. Und er erspähte noch etwas anderes dort. Es sah aus wie der Schwanz eines Tieres, aber ein sehr fein gestrichelter Schwanz. Er wurde langsam von dem Abwasser in der Gosse mitgezerrt und machte unheimliche Schlängelbewegungen. Als er weiter weg war, waren die feinen Strichelungen des Dings -- diese Muster, in denen er ein Gesicht so friedlich lächeln zu sehen glaubte -- nicht mehr zu unterscheiden, und er fühlte sich erleichtert.
Aber der Regen fiel jetzt dichter, und so zog er sich in einen Busunterstand am Rand der Straße zurück. Es war nur ein kleiner Raum mit einer hölzernen Bank, an einer Seite offen, mit dem Regen, der vom Dach herabströmte, lange wäßrige Schnüre von Regen, die ein bißchen im Wind hin und her schwangen. Sehr feucht war es da drinnen, und diese ausgefransten Schattenränder, die an den drei Wänden wankten. Ein feuchter Geruch, der etwas anderes zu überdecken schien, irgendein widerwärtiges Rätsel in diesem Raum, etwas in seinen Umrissen, seinen Konturen. Was ging hier vor sich, konnten das da drüben Blutstropfen sein?
Die Bank, wo er sich hingesetzt hatte, glänzte jetzt vor Feuchtigkeit im Mondlicht. Am anderen Ende, beinah völlig mit der dunklen kleinen Ecke verschmolzen, befand sich eine gebeugte Gestalt, die aussah wie in der Mitte zusammengeklappt. Sie stöhnte und bewegte sich ein wenig. Schließlich richtete sie sich auf, und ihr fein gestricheltes, verknotetes Haar fiel in den Mondstrahl herunter. Sie rutschte auf der Bank entlang, zog sich mit hinterherschleppenden Fetzen langsam an seine Seite. Er hingegen konnte sich nicht bewegen, keinen Inchbreit, kein Haarbreit.
Dann, irgendwo inmitten all der verknoteten Feinstricheligkeit, öffneten sich ein Augenpaar und ein Lippenpaar. Und sie sagten zu ihm: "Lassen Sie mich Ihnen meinen Namen sagen."
Aber als die Gestalt sich mit einem so sanften Lächeln herüberbeugte, mußten die formlosen Lippen ihre Worte in das kalte, feuchte Ohr einer Leiche flüstern.

© Thomas Ligotti
Übersetzung: Monika Angerhuber, 2000
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Illustration: © Rainer Schorm, 2001
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