HERBSTLICH
(Autumnal)
Thomas Ligotti


enn die ganze Landschaft im Sterben liegt und duftend zur Erde hinabsteigt, stehen wir allein auf. Nachdem Licht und Wärme die Welt verlassen haben und alle melancholisch am Grab der Natur stehen, kehren wir allein zurück, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Dies ist unsere Jahreszeit der Wiedergeburt. Das geschmeidige Rascheln der Sommerbäume ist in dem sich abkühlenden Wind zu einem trockenen Zischeln geworden, und unsere Ohren beginnen davon zu klingen, wenn wir dunkel und tief in unseren Betten liegen. Verdorrte Blätter kratzen an unseren Türen, rufen uns aus unseren einsamen Häusern.
Wir treiben halb betäubt aus den Schatten hervor: Bequem ins Vergessen gebettet, erfreut es uns nicht besonders, an die brennende Luft herausgezerrt zu werden für das Vergnügen eines unbekannten Zwietrachtstifters, eines kosmischen Scherzbolds oder Taschenspielers. Aber vielleicht gibt es eine alte Farm, wo einst überreiche Felder, säuberlich gepflügt, jetzt brachliegen, verlassen von allem bis auf ein paar verstreute Halme. Wir begutachten die Szenerie und lächeln mit dem, was von unseren Mündern übrig ist. Unter einer scharfen Mondsichel wächst nun unsere Begierde nach Erfüllung.
Wir hassen die Lebenden nicht, nicht mehr als die Nacht den Tag haßt. Wie sie sind wir einer Aufgabe verpflichtet, die wir so gut wie möglich vollbringen müssen. So verstimmt wir uns fühlen mögen, sind wir doch hoffnungslos abergläubisch, was das Nichteinhalten gewisser Verpflichtungen angeht, denn es gibt Pflichten, denen sich nicht einmal die Macht posthumer Lethargie widersetzen kann.
Darum, in Nächten, wenn ein eisiger Regen von den Dachrinnen tropft, wenn alle Barrieren von Licht und Luxus gefallen sind, erscheinen unsere Abbilder, um zu spuken und zu martern. Verschrumpelte Silhouetten in Türeingängen, gekrümmte Haufen in Ecken, ausgezehrte Formen in Kellern und Dachböden - plötzlich beleuchtet von einem Blitzstrahl! Oder vielleicht erhellt von einer vorbeiziehenden Kerzenflamme oder dem weichen blauen Glanz des Mondlichts. Aber wir ernten nicht wirklich Erschrecken oder Überraschung. Die unglücklichen Zeugen unserer wahnwitzigen Wahrheit sind von ihren ängstlichen Vorahnungen bereits halb irre. Unser Grauen ist ein erwartetes, wenn man die widernatürlichen Neigungen dieser Jahreszeit bedenkt.
Wenn die Welt sich auf ihrem Weg zum Weiß grau färbt, ruft uns jedes lebende Herz voll Furcht; und sind die Umstände günstig, so werden wir antworten. Wir nehmen so viele wie möglich mit zurück in das Grab, denn das ist unsere Aufgabe. Unser sinnentleerter Kreislauf ist aus dem Rhythmus der Natur geraten: Wir gehen unseren eigenen Weg, Abweichungen des großen Systems, und verlangen danach, der Charade aller Jahreszeiten ein Ende zu machen, ob sie nun natürlich oder übernatürlich seien.
Und wir träumen immerdar von dem Tag, wenn all die Feuer des Sommers erloschen sind, wenn jeder wie ein verschrumpeltes Blatt in den kühlenden Boden einer sonnenlosen Erde sinkt, wenn selbst die Farben des Herbstes zum letzten Male verwelken, sich auflösen in die desolate Weiße eines ewig währenden Winters.

© Thomas Ligotti
Übersetzung: Monika Angerhuber, 2000
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Illustration: © Rainer Schorm, 2001
eMail: schoraim@t-online.de
ALL RIGHTS RESERVED UNDER INTERNATIONAL AND PAN-AMERICAN COPYRIGHT CONVENTIONS. Kein Teil dieser Veröffentlichung einschließlich Grafiken darf ohne schriftliche Erlaubnis des Herausgebers oder Autors reproduziert oder übertragen werden, egal in welcher Form oder durch welche Hilfsmittel, elektronische oder mechanische, einschließlich Photokopie, Tonaufnahmen oder Speicherung auf derzeit bekannten oder zukünftig entwickelten Datenträgersystemen.