ieder eine Party, diesmal ziemlich weit draußen: ein weitläufiges altes
Haus am Waldrand, in den Mond stechende Tannen im Hintergrund. Alle sahen sehr
krank aus, die Kränksten, die ich je gesehen habe, aber irgendwie elegant.
Die wachsgesichtigen Frauen trugen lange Roben mit langen Ärmeln, die in
Satinhandschuhen endeten; dunkle Strümpfe bedeckten das Wenige, was ich von
ihren Beinen sehen konnte; und das Haar, das sie besaßen, wurde verwendet,
um mit seiner armseligen Dünnheit das gelbsüchtige und talgige Fleisch
ihrer Stirnen, Kiefer und Wangenknochen zu verhüllen. Kunstvolles Augen-Makeup
half ihnen enorm. Die Männer griffen auf dunkle Brillen und große Hüte
mit breiten und schlaffen Krempen zurück. Zumindest hatten die meisten Männer
sich so ausstaffiert (diesmal!), und bei denen, die es nicht getan hatten, wünschte
ich aus ganzem Herzen, sie hätten es. Alle hielten Champagnergläser
mit feinen Kristallstielen und Galaxien von Bläschen in den Kelchen, aber
natürlich schien sogar dieses zierliche Geschirr ihre dünnen und fast
nicht ruhigzuhaltenden Hände zu belasten. Häufiges Verschütten
war unvermeidlich, obwohl sie immer ihr Bestes gaben, dies so weit wie möglich
zu verhindern. Ich wurde Zeuge zweier solcher Mißgeschicke, durch welche
die Vorderseiten der teuren Abendkleidung der armen Opfer durchtränkt wurden,
und bin mir sicher, daß es noch viele weitere solcher Mißgeschicke
gab. Glücklicherweise war der Champagner eine farblose Flüssigkeit (der
Doktor zeigte große Rücksichtnahme in diesem Detail) und ließ
nur einen nassen Fleck zurück, der bald danach trocknete.
Ich hatte diesmal beschlossen, eine dunkle Brille zu tragen, aber mein volles
und gepflegtes Haupthaar ließ mich doch aus der Menge abstechen. Der Doktor
entdeckte mich fast sofort und führte mich in einen stillen Winkel. "Sie
hätten auch einen Hut aufsetzen können, wissen Sie", schalt er.
"Sie tragen doch nie einen Hut oder Brille", erwiderte ich. "Und
ich wollte Sie immer fragen, warum Sie diesen dichten Bart nicht abnehmen. Er
muß ein Grund für Verzweiflung für jeden Mann in diesem Zimmer
sein, mich ausgenommen."
"Ich bin ihr Arzt. Auch wenn sie mich gelegentlich dafür verachten,
im Herzen sind sie glücklich, daß ich nicht so bin wie sie. Wie gefällt
Ihnen diese Party?"
Aus irgendeinem Grund hatte ich keine Lust auf die üblichen Lügen. "Sie
können wirklich nicht erwarten, daß ich in Begeisterung ausbreche",
sagte ich, aber der Doktor tat so, als höre er nicht. So seltsam es scheinen
mag, ich glaube, er empfindet einen gewissen Stolz auf die Art, wie er diese traurige
Angelegenheit handhabt. Während meine eigene Gefaßtheit nur auf dieses
verdrießliche Bedürfnis nach dem Geld des guten Doktors zurückzuführen
ist, scheint er sich bei all dem Schrecklichen wirklich wohl zu fühlen. "Sie
sind heute ein bißchen früh dran, nicht wahr?" fragte er mit einem
Blick auf seine Uhr.
"Wollen Sie, daß ich gehe?"
"Nein, nicht doch. Es ist nur, daß, nun ja, Sie sehen, wie nervös
sie werden, jetzt, da Sie hier sind. Ich glaube, sie dachten, ihnen bliebe noch
mehr Zeit. Aber Sie könnten ruhig ein bißchen Gefühl zeigen."
"Und was, wenn ich das täte", sagte ich mit angespanntem Flüstern.
"Glauben Sie wirklich, daß das die Sache erleichtern würde?"
Er wußte, daß dem nicht so war, und gab keine Antwort.
"Wollen Sie, daß ich ein Weilchen verschwinde?" sagte ich, indem
ich mit der Hand diskret meinen Mund bedeckte. Der Doktor nickte ernst. "Ich
glaube, ich werde einfach im Obergeschoß dieses netten, großen Hauses
herumspazieren. Rufen Sie mich, wenn Sie wollen, daß ich anfange."
Er kratzte sich hörbar den Bart, was ich als Signal nahm, mich zu verabschieden.
Oben, länger als je zuvor. Die Lichter gingen nicht. Saß in einem Trapez
aus Mondlicht, viele stille Augenblicke lang. Fing an, mir Sorgen zu machen, und
kam herunter, bevor ich das Startsignal des Doktors bekommen hatte.
Es war ruhig, viel zu ruhig. Der Doktor hockte auf dem Treppenabsatz, das Gesicht
in den Händen vergraben. Er schluchzte leise vor sich hin und sagte: "Schief,
schief, alles schief."
"Was ist passiert?" fragte ich. "Wo sind sie alle?"
"Sie rannten alle aus der Hintertür", sagte er und zeigte mit dem
Finger. "Sie müssen jetzt unten am See sein."
"Kein Problem", sagte ich tröstend. "Ich bringe die Sache
einfach dort zu Ende."
Er starrte mir direkt ins Gesicht, und ich mochte den Blick in seinen alten Chirurgenaugen
nicht. "Sie verstehen nicht."
"Was meinen Sie?" fragte ich unnötigerweise.
"Sie
haben noch viel von ihren Gehirnen", antwortete er, ebenfalls unnötigerweise.
Aber ich hatte nicht erwartet, daß er hinzufügte: "Und Münder
auch. Münder, die mit Ihnen sprechen können."
Es gab natürlich alle möglichen Gründe für mich, keine Sekunde
länger zu zögern, überhaupt nicht darüber nachzudenken. Ich
schritt rasch, wenngleich nicht übertrieben schnell, auf die rückseitige
Tür des Hauses zu; aber als sie von allein hinter mir ins Schloß krachte,
rannte ich so flink ich konnte hinunter zu dem See zwischen den Tannen. Der Mond
über mir war voll und hell und wunderschön.
Ich folgte den Stimmen, die sich in das Heulen des Windes mischten. Als ich den
See erreichte, sah ich sie alle am Ufer entlangkrabbeln. Aber manche von ihnen
hatten bereits mit dieser Art von Tanz angefangen, die so erschreckend zu beobachten
ist: Keiner von ihnen war mehr größer als ein Eßteller, und ihre
vielen im Kreis heraussprießenden Beine (inzwischen bereits mit Zangen)
ließen sie wie unheilige Zahnräder aussehen, die sich im Mondlicht
drehten. Äußerst erschreckend. Und der Doktor hatte recht, sie hatten
wirklich noch viel von ihren Gehirnen. Zu viel … sie wußten, was mit ihnen
vorging. Nicht wie bei den anderen Gelegenheiten. Und sie hatten ihre Münder,
ja wirklich, genau in der Mitte ihrer fragilen rosa Körper. Als meine Gegenwart
von ihnen bemerkt wurde, begannen sie um meine Füße herumzuflitzen.
"Töte uns, töte uns", sangen sie mit ihren vielen winzigen
Stimmen. "Töte uns, bevor wir uns weiter verändern. Manche von
uns sind Tänzer. Manche von uns sind für immer in den See gegangen.
Töte uns, bitte, töte uns."
"Dafür bin ich ja hier", sagte ich, aber nur zu mir selbst. Ich
hob ein paar schwere Felsbrocken auf und ging an die Arbeit. Ich glaube, daß
ich die meisten von ihnen erwischt habe. Später, als ich zum Haus zurückkehrte,
sagte ich dem Doktor, ich hätte sie alle erwischt. Er zweifelte meine Worte
nicht an. Mußte mir einfach glauben, der arme Mann. Außerdem versprach
er, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß so etwas
nie mehr passieren könne. Gab mir einen Bonus, der das alles lohnend erscheinen
ließ.
© Thomas Ligotti
Übersetzung: Monika Angerhuber, 2000
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Illustrationen: © Rainer Schorm, 2001
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