DAS GESPENSTIGE ANWESEN
(The Spectral Estate)
Thomas Ligotti


ielleicht ist man allein im Haus und doch nicht allein.
Es gibt so viele Zimmer, so viele Galerien und Mysterien, so viele Plätze, wo eine eigentümliche Stille von Geheimnissen widerhallt. Jeder Gegenstand, jede Oberfläche des Hauses scheinen dunkle Wellen zu schlagen als Medium ferner Erschütterungen, die man spürt, aber nicht immer sieht oder hört: Staubige Kandelaber senden ein Beben durch die Luft, Wände schlagen in Mustern aus feinster Filigranarbeit Wellen, schmutzbedeckte Porträts erschauern in ihren vergoldeten Rahmen. Und selbst wenn das Licht im größten Teil des Hauses schal geworden und zu einem sepiafarbenen Schleier verblaßt ist, so bleibt es doch ein Schleier in anhaltender Gärung, eine unruhige Aura, die dieses Museum nervöser Antiquitäten umfangen hält.
So ist es unmöglich, sich in einem solchen Haus allein zu fühlen, besonders wenn es ein abgelegenes Anwesen ist, das am äußersten Rand des Landes über dem eisigen Ozean hängt. Durch ein oberes Fenster fällt der Blick auf das Küstenland und graue, wogende Wasser. Die unteren Fenster des Hauses gehen alle auf die knisternden Tiefen eines Gartens hinaus, der seit langem ungezähmt wuchert und in üppigen Knoten sprießt. Ein schmaler Pfad führt durch diese chaotische Überfülle und endet an der Grenze eines dichten Waldes, der von einer milden, nie nachlassenden Brise zum Leben erweckt wird. Ozean, Garten, Wälder -- eine Umgebung, besessen von sichtbarer Bewegung, die in den unsichtbaren Zuckungen im Innern des Hauses ihr Echo findet. Und wenn die Nacht den Aufruhr dieser Landschaft verdeckt, sind es die Sterne, die rings um einen bläulichweißen, pochenden Mond herum zittern. Trotzdem ist man vielleicht abgeneigt zu glauben, daß das Haus und die es umgebende Welt sich gegenseitig beeinflussen könnten. Und doch ist da etwas, das beides durchdringt, als gäbe es keine Wände, die Haus und Umgebung voneinander trennen.
Vom ersten Augenblick an, den man in einem solchen Haus zubringt, scheint sich etwas im Hintergrund seiner Räumlichkeiten zu bewegen wie ein verborgenes Wesen von unbekannter Natur. Kein wirklicher Frieden kann sich in diesen Räumen etablieren, wie lang sie auch mit ihrer eigenen Leere allein geblieben sein mögen, um in traumlosem Schlaf zu liegen. Selbst während der unschuldigsten Morgenstunden und wolkenlosen Nachmittage setzt sich eine Art rastloses Zupfen an den Dingen fort, ein unbeholfenes oder geübtes Manipulieren der Fassade aller Gegenstände. In der Nacht schwappt eine Schattenflut über das Haus und begräbt seine Zimmer mit einer Dunkelheit, die den anfallsweise auftretenden Zuckungen größeren Freiraum gestattet.
Und vielleicht ist da ein gewisser Raum an der obersten Spitze des Hauses, ein Zimmer, wo man fühlen kann, wie tief das Haus in ein weitaus größeres Anwesen eingedrungen ist: Eine Landschaft, die weder oben noch unten eine Begrenzung findet, ein unendliches Bauwerk, dessen Interieur ebenso verschlungen und riesig ist wie sein Exterieur. Dieser Raum ist lang und groß und weist eine Reihe von Doppeltüren auf, welche die ganze Breitseite der Wand einnehmen, Türen, die auf eine schmale Terrasse hinausführen, den Ozean überblicken und direkt in den Himmel starren. Und jede Tür, bestehend aus einer doppelten Reihe von Fensterscheiben, öffnet das Zimmer der Weitläufigkeit der äußeren Welt und setzt dem Innen und Außen nur die geringstmögliche Grenze.
Es gibt keine funktionierenden Beleuchtungskörper in diesem Raum, so daß er gezwungenermaßen dem launenhaften Licht von Tag oder Nacht außerhalb der Fenster ausgeliefert ist. Wenn man dieses Zimmer an einem wolkenverhangenen Nachmittag entdeckt, so läßt man sich in einem Quartier nieder, das selbst von Wolken verhangen scheint und für endlose Stunden von dumpfem Zwielicht verhüllt wird. Und dennoch scheint der Raum all die Tiefe anzunehmen, die der Tag verloren hat: Während der Himmel von einer Decke weicher grauer Wolken perspektivisch verkürzt wird, verlängern sich die düsteren Ecken und schattenverhangenen Möbel zu immensen Zwischenreichen, zu gewaltigen Quellen und Höhlen außerhalb menschlicher Sichtweite. Gewiß dringen die entfernten Echos, die man hört, von Orten außerhalb dieses Raumes herein, der alle Laute mit seinem dicken, dichtgemusterten Teppich dämpft, mit seinen plumpen Polstersesseln und seinem Gewirr von Tischen, Kästchen und Schränken aus dunklem, schwerem Holz.
Denn inmitten dieses überfüllten Raumes steigen die Echos von Tönen auf, die nur ein Abgrund von übernatürlichen Dimensionen erzeugen könnte. Doch klingen sie zunächst vielleicht wie das widerhallende Stöhnen jener Wolken, in denen Unwetter schlummern. Und dann scheinen sie das Zischen des Ozeans nachzuahmen, der das zerbrochene Land umstrudelt. Dennoch legen die Echos langsam alle Ähnlichkeit mit diesen natürlichen Klängen ab und gewinnen eine eigene Stimme: Eine Stimme, die aus unbeschreiblicher Ferne hereindringt; eine Stimme, deren Worte die Maske der Vernunft abwerfen; eine Stimme, die in Seufzern und Schluchzern und schnatterndem Irrsinn verhallt. Jede Nische, jedes Muster, jeder Schatten des Zimmers sprechen mit dieser Stimme. Und dieser merkwürdige Monolog, diese unheimlichen Musik vermögen eines Menschen gesamte Aufmerksamkeit zu fesseln. Deshalb bemerkt man vielleicht nicht, daß, während der Nachmittag sich der Abenddämmerung nähert, sich irgend etwas in das Zimmer eingeschlichen hat -- etwas, das sich ungesehen verborgen hält und nur darauf wartet, sich in Gestalt einer Erscheinung zu erheben und aufzusteigen wie ein Schrei in der eigenen Kehle.
Solche Phänomene mögen recht ernste Effekte zeitigen und ihre Zeugen in einem gefährlichen Schwebezustand zwischen zwei Welten zurücklassen, von denen jede der anderen ihren Wahnsinn und ihre Mysterien aufzwingt. Wir fühlen die Nähe einer Finsternis, die über irdisches Verstehen hinausreicht, die Nähe eines kryptischen Traumlands, dessen Dunkelheit sich mit der in uns verbindet und der luftlosen irdischen Welt ein intensives Leben einhaucht. Eine Zeitlang geben wir uns damit zufrieden, in diesem metaphysischen Zwielicht zu ruhen und tief in seine Nuancen einzutauchen. Schon seit langem verbittert durch unbeantwortet gebliebene Fragen, Antworten ohne Konsequenzen und Wahrheiten, die nichts ändern, lernen wir rasch, uns von der Stimmung des Geheimnisses und vom Odeur des Unbekannten berauschen zu lassen. Wir sind verzaubert von den zarten Düften und flackernden Reflexionen des Unvorstellbaren. Anfangs ist es nicht unsere Absicht, eine Ordnung innerhalb des Wahnsinns zu suchen oder gewissen Geheimnissen Namen zu verleihen. Wir beschäftigen uns nicht damit, die Merkwürdigkeiten dieses Hauses in ein System zu ordnen. Was wir suchen -- in all ihrer primitiven Reinheit -- ist die Gesellschaft des Gespenstischen. Aber schließlich unterwerfen wir uns dem Geist der Intrige, der wie ein unbekannter fataler Instinkt über uns herfällt, und versuchen den amorphen Glorien, deren Erbe wir wurden, einen engen Blickwinkel aufzudrängen.
Wir sind wie jener Mann, der aufgrund irgend eines schicksalshaften Vermächtnisses seinen Sitz in jenem anderen alten Haus genommen hat, das dem unsrigen sehr gleicht. Nachdem er eine kurze Weile in der profunden und vollkommenen Einsamkeit dieses Ortes verbracht hat, wird er Zeuge seltsamer Anblicke und Geräusche. Er beginnt daraufhin seine geistige Gesundheit anzuzweifeln und flieht schließlich aus den vorrückenden Schatten des Hauses in den hellen Schutz einer nahen Stadt. Dort erfährt er in der guten Gesellschaft der ansässigen Bürger die ganze Geschichte des Hauses. (Es scheint, daß sich vor langer Zeit eine Tragödie ereignete, ein irreparables Melodram, das noch viele Jahre nach dem Tod der darin verwickelten Akteure aufgeführt wird.) Andere, die in dem Haus gelebt haben, sind Zeugen derselben unheimlichen Vorkommnisse geworden, und der jüngste Gast ist erleichtert, das zu hören. Der Glaube an seine geistige Gesundheit ist ihm triumphal wiedergeschenkt worden: es ist das Haus, das verrückt ist.
Aber dieser Mann bräuchte gar nicht so erleichtert zu sein. Wenn das gespenstische Drama zu definitiven Ursprüngen verfolgt werden konnte und andere ebenfalls zu seinem Publikum wurden, ist dies kein Beweis dafür, daß jeder Zeuge vom Wahnsinn unangetastet geblieben ist. Vielmehr sollte dies auf eine größere Geistesverwirrung hinweisen, eine Verschwörung des Unverstands, die eine Vielzahl von Wahnsinnigen hinterläßt; ein Delirium, das Vergangenheit und Gegenwart einschließt, Häuser und Köpfe, die engen Zellen der Seele und die endlosen Räume außerhalb.
Denn wir sind die Geister eines Wahnsinns, der uns überlebt und sich in Geheimnisse hüllt. Und obgleich wir innerhalb endloser Räume nach dem Sinn suchen, ist alles, was wir finden mögen, eine Stimme, die uns aus einem Spiegel in einem Haus zuflüstert, das niemandem gehört.

© Thomas Ligotti
Übersetzung: Monika Angerhuber, 2000
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Illustrationen: © Rainer Schorm, 2001
eMail: schoraim@t-online.de
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