DER VERLAUF DER ALPTRÄUME
(The Career Of Nightmares)
Thomas Ligotti


iemand weiß, wie man Eintritt erlangt; niemand erinnert sich, über welche Route man in diese Umgebung kommt. Vielleicht ist da ein weicher Tunnel von Schwärze, möglicherweise ohne gewölbte Wände oder festen Fußboden, ein vage stromlinienförmiger Schlauch, durch den man auf einen schattenhaften Endpunkt zu abwärtstreibt. Dann plötzlich, unerwartet, flammt ein Licht auf und breitet sich aus, Kulissen tauchen überall ringsum auf, das Szenario wird dargelegt und in einem Augenblick auswendig gelernt, während jener Zugang zur Schwärze - der öde alte Tunnel - vergessen wird. Andererseits könnte es auch sein, daß es keine Eingangstür zum Traum gibt, keinen ersten Akt des Dramas: Statt dessen erwacht eine Galerie von Schaufensterpuppen schlagartig, und alle beginnen ihre Rollen mitten im Wort zu spielen, ohne einen Anfang, zu dem sie zurückkehren könnten.
Aber das Ausschlaggebende ist nicht der Anfang, sondern die Fortführung, nicht das Ankommen, sondern das Bleiben. Dies ist die grundlegende Voraussetzung, auf der alles andere begründet und errichtet wird: Einschränkung, Einsperren heißt das Gesetz des Gebäudes. Und dieses Gebäude -- jetzt ein wirkliches Haus -- ist ein ungewöhnliches. Für sich selbst genommen perfekt, stellt es keinen Teil einer größeren Landschaft dar, so als stünden perfekt gemalte Berge ohne einen See oder Himmel auf einer weiten, weißen Reklamewand. Ist es ein Krankenhaus? Museum? Dumpfiges Labyrinth von Büroräumen? Oder nur irgend eine namenlose … Institution? Was immer draußen sein mag, drinnen jedenfalls … für die, die hier wichtige Geschäfte zu erledigen haben, ist es sehr spät, und die Zeit für die entscheidende Verabredung ist irgendwie bereits vergangen.
In welchem Raum sollte der Termin stattfinden? Ist dies überhaupt der richtige Teil des Gebäudes, die korrekte Etage? Alle Korridore sehen gleich aus - ohne ausreichende Beleuchtung oder hilfreiche Vorübergehende - und keines der Zimmer trägt eine Nummer. Aber Nummern helfen sowieso nicht, das Eilen von leerem Raum zu leerem Raum ist vergebens. Dieses lebenswichtige Treffen ist bereits versäumt, und nichts auf der Welt kann den Verlust wettmachen.
Schließlich erreicht der Traum eine Art Klimax, in den Schatten unter einer Treppe, wo man vor den Konsequenzen des Versäumnisses Zuflucht gesucht hat. Und in diesem scheinbaren Hafen gibt es wiederum eine neue Entwicklung: Unmengen riesiger Spinnen hängen in schlaffen Netzen über einem und um einen her. Unsere Anwesenheit hat sie aufgestört, und sie beginnen sich zu bewegen, ihre fremdartigen Leiber umherzumanövrieren. Aber wie schrecklich sie auch sein mögen, man weiß, daß man sie braucht.
Denn sie sind diejenigen, die einem den Ausweg zeigen; es ist ihre Berührung, die einen anleitet und daran erinnert, wie man dieser Folter entkommt. Jeder erinnert sich an diese letzte Flucht aus dem Alptraum; jeder weiß, wie man schreit.

© Thomas Ligotti
Übersetzung: Monika Angerhuber, 2000
mit freundlicher Genehmigung des Autors

Illustration: © Rainer Schorm, 2001
eMail: schoraim@t-online.de
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