DISILLUSIONMENT CAN BE GLAMOROUS
ein interview with Thomas Ligotti
geführt von E.M. Angerhuber (EMA) und Thomas Wagner (TW), Januar 2001
für The Art of GrimScribe


TW/EMA: Mr. Ligotti, wie geht es Ihnen?

TL: Eine einfache Frage, aber sie erinnert mich irgendwie an etwas, das ich einmal in Kafkas Briefen gelesen habe. Kafka bemerkte einem Brieffreund gegenüber, daß sein emotioneller Zustand so instabil sei, daß - wenn er am Fuß einer Treppe stünde - er nicht wüßte, wie er sich fühlen würde, wenn er oben angekommen wäre. Wie auch immer, um Eure Frage zu beantworten, mir geht es momentan nicht allzu schlecht.

TW: Selbst wenn Sie diese Frage schon verschiedene Male gehört haben: was war Ihr Motiv, mit dem Schreiben anzufangen? Was war es, das Ihre Faszination für das Horrorgenre erweckte - was veranlaßte Sie, solche Geschichten zu schreiben?

TL: Seit ich ein Kind war, habe ich eine morbide und melodramatische Phantasie besessen. Ich ging ständig ins Kino, um jeden Horrorfilm zu sehen, der gerade lief, und blieb abends lang auf, um die Mitternachts-Horrorfilme im Fernsehen zu sehen. Als Teenager neigte ich zu Depressionen. Für mich war die Welt nur etwas, von dem man fliehen muß. Ich begann zunächst mit Alkohol zu fliehen und dann, als die sechziger Jahre voranschritten, mit jeder Art von Droge, die ich bekommen konnte. Im August 1970 erlitt ich den ersten Anfall von etwas, das sich zu einer lebenslangen Angst/Panik-Störung auswachsen sollte. Nicht lange danach entdeckte ich die Werke von H. P. Lovecraft. Ich fand, daß das sinnlose und bedrohliche Universum in Lovecrafts Geschichten sehr nah mit dem Ort korrespondierte, an dem ich zu jener Zeit lebte - und immer noch lebe, was das betrifft. Ich war dankbar, daß jemand anders die Welt in einer Art wahrgenommen hatte, die meiner eigenen Sichtweise ähnelte. Einige Jahre später, als mein Interesse am Schreiben von Phantastik erwachte, stand niemals zur Debatte, daß ich irgendetwas anderes als Horrorgeschichten schreiben würde.

TW: Sie sind ein offener Bewunderer von H. P. Lovecrafts und Bruno Schulz' Werken. Während ich nur einen schwachen Lovecraft-Einfluß in Ihren Geschichten wahrnehmen kann - hauptsächlich das Bild eines schwarzen, allmächtigen Universums und die Machtlosigkeit der Protagonisten - nimmt Schulz vielleicht einen größeren Platz in Ihrem Werk ein. Im großen und ganzen könnte man sagen, daß in Ihren Geschichten eine "kafkaeske" (oder einfach nur merkwürdige) Atmosphäre vorherrscht, die ich hauptsächlich von europäischen Autoren wie Franz Kafka, Jean Ray, Leo Perutz, Arthur Machen ... kenne. Wurden Sie von diesen Autoren inspiriert? Oder resultiert diese merkwürdige Atmosphäre einfach nur aus Ihrer eigenen Weltsicht?

TL: Von 1975 an begann ich mich sehr für die Gestalten und Strömungen fremder Literatur zu interessieren, besonders für die französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts von der Dekadenz/Symbolismus-Bewegung bis hin zum Surrealismus. Diese Strömungen und die Autoren, die man mit ihnen in Verbindung bringt, haben jede andere Literatur auf der Welt beeinflußt, mit der Ausnahme der amerikanischen Literatur. Sadeq Hedayat im Iran, Hagiware Sakutaro in Japan, hispano-amerikanische Autoren wie Ruben Dario, so gut wie jeden russischen Autor von den 1890er Jahren bis zur Revolution von 1917, und so weiter, und so weiter. Sie alle blickten zu solchen französischen Autoren wie Baudelaire, Verlaine und Huysmans auf und nahmen sie sich als literarisches Vorbild. Und ich tat es ihnen nach.

EMA: Sie erwähnten auch einmal zwei andere wichtige literarische Vorbilder, Thomas Bernhard und Vladimir Nabokov. In welcher Weise haben diese Autoren Ihr Werk beeinflußt?

TL: Die Werke dieser beiden Autoren drehen sich immer wieder um psychisch derangierte Erzähler, die in hochstilisierter Prosa schreiben. In diesem Sinne sind sie Teil einer Tradition, die auch Poe und Lovecraft einschließt. Dies sind die Fußstapfen, denen ich oft mit sklavischer Ergebenheit folgte.

EMA: Welches war die erste Story, die Sie veröffentlichten? Hegen Sie irgendwelche besonderen Gefühle für diese spezielle Story?

TL: Meine erste veröffentlichte Story war "The Chymist", die im Jahre 1980 in Harry Morris' legendärem Fanzine NYCTALOPS erschien. Ich hege wirklich keinerlei besonderen Gefühle für irgendeine meiner Geschichten.

EMA: Inwiefern veränderte die Anerkennung, die Sie für Ihr literarisches Werk ernteten, die Umstände Ihres Lebens oder die Art, wie Sie sich selbst sehen? Wie ist es, ein "Kultautor" zu sein?

TL: Ich war sehr erleichtert, als meine Geschichten von den Lesern der Small Press-Magazine und später den Kritikern, die meine Sammlungen rezensierten, gut aufgenommen wurden. Ich wollte ein Schriftsteller in der Art von Lovecraft sein, und bevor ich ein bißchen Anerkennung für meine Horrorstories geerntet hatte, konnte ich es kaum mit mir selbst aushalten. Es war ein Wunsch, den ich unbedingt loswerden mußte. Also war ich, wie bereits gesagt, im tiefsten Innern sehr erleichtert, als sich meine bescheidenen literarischen Ambitionen erfüllten. Aber was die Umstände meines Lebens angeht, so hat sich nichts wirklich verändert. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit wie die meisten Leute. Ich frage mich, was aus mir werden wird, wenn ich einmal wirklich alt werde, da niemand reich oder berühmt wird, nur indem er Horrorstories schreibt. Was den Kultautor betrifft, so habe ich dasselbe schon sehr oft zu Leuten gesagt: "Es gibt keine Vergessenheit, die einem unbedeutenden Ruf gleicht". Nicht daß mich die Vergessenheit nur im mindesten jucken würde. Ich möchte gar keinem großen Publikum bekannt sein. Ich würde lieber durch einen Lottogewinn zu Millionenreichtum kommen, als durch das Schreiben von Bestsellern. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch - wie ich bereits erwähnte, es war mein sehnlichster Wunsch, veröffentlicht zu werden, und ich verlangte nach Aufmerksamkeit für das, was ich geschrieben hatte. Das trifft wohl auf jeden zu, der schreibt. Der arme Poe erklärte öffentlich, daß es ihn nach einem Grad des Ruhms gelüstete, den er zu Lebzeiten nie erreichte. Aber ich habe bereits all den Ruhm erhalten, den ich im Moment gebrauchen kann - danke.

EMA: Haben Sie Lieblingsgeschichten in Ihrem eigenen Oeuvre? Wenn ja, was mögen Sie an ihnen am liebsten?

TL: Ich nenne normalerweise "The Shadow at the Bottom of the World", wenn mir diese Frage gestellt wird. Ich glaube, daß ich mit dieser Geschichte etwas Subtiles und Mysteriöses geschrieben habe, es aber gleichzeitig schaffte, im Horrorgenre zu bleiben, was mir stets wichtig gewesen ist.

TW: Die erste Ligotti-Story, die ich jemals gelesen habe, war "Drink to Me Only with Labyrinthine Eyes", und sie erschien mir wie eine Mixtur aus Poe und Kafka. Es ist eine sonderbare Geschichte, die mich immer noch mit ihrer bizarren Schönheit berührt. Erst kürzlich habe ich entdeckt, daß es ein altes Lied mit dem Titel "Drink to Me Only with Thine Eyes" gibt. Man könnte also vermuten, daß der Titel Ihrer Geschichte nicht rein zufällig gewählt wurde. Wenn Sie den Song kennen, auf den ich mich beziehe, ist das nur ein Wortspiel, oder gibt es mehr zu erzählen?

TL: Zu der Zeit, als ich diese Geschichte schrieb, las ich eine Menge englischer und europäischer Dichter des 17. Jahrhunderts. Diese Dichter, einschließlich Gongora in Spanien und metaphysische Dichter wie Donne und Marvell in England, waren dafür berühmt, daß sie in ziemlich flamboyantem Stil schrieben und an traditionelle Poesieformen auf neue und oftmals seltsame Weise herangingen. Die Dichtung von Ben Jonson und die mancher englischer Cavalier-Poeten weist diese Merkmale ebenfalls zu einem gewissen Grad auf. Es war die Dichtung von Jonson, der ich - in abgewandelter Form - den Titel zu "Drink to Me Only with Labyrinthine Eyes" entlehnte.

EMA: Eines Ihrer Bücher trägt den Titel NOCTUARY. Ich habe mich immer gefragt, ob dieses Wort von "Sanctuary" oder eher von "Diary" abgeleitet ist ...

TL: Es ist von "Diary" abgeleitet. Ich habe geglaubt, das Wort erfunden zu haben, bis ich es im Oxford English Diary entdeckte.

EMA: Meine Lieblingsvignette aus NOCTUARY ist "The Eternal Mirage", ein sehr abstraktes, sehr unreales und ausnehmend schönes Stück. Was war Ihr Motiv, das Stück auf diese Weise zu schreiben?

TL: Mit diesem Stück wollte ich meine Auffassung des Universums als etwas Dünnes und Instabiles ausdrücken; etwas, das kaum die zitternde und illusorische Qualität einer Fata Morgana hat und sich dennoch - leider - weigert, sich vollständig im Nichts zu aufzulösen.

EMA: Ihre Erzählung "The Bungalow House" basiert teilweise auf realen Begebenheiten - könnten Sie uns bitte etwas über den mysteriösen Bungalow Bill und seine Tonbänder erzählen?

TL: Das erste der "Bungalow House"-Bänder basiert auf einem wirklichen Traum, den ich hatte, und den ich so genau wie möglich zu beschreiben versuchte, als ich aufwachte - etwas, das ich nie zuvor und danach niemals wieder getan habe. Später entwickelte ich aus der Niederschrift dieses Traums eine Geschichte und erfand einige weitere Träume dazu. Die Idee eines sogenannten "Performancekünstlers", der diese "Traummonologe" in einen Cassettenrecorder las, wurde durch echte Cassetten inspiriert, die ich und meine Kollegen für gewöhnlich auf einer Bank neben dem Gebäude im Zentrum von Detroit, wo wir arbeiteten, fanden. Diese Cassetten gehörten einem älteren Mann, der aus verschiedenen Quellen vorlas, einschließlich der örtlichen Zeitung, dem Werk von Sigmund Freud und Librettos von Gilbert und Sullivan-Operetten. Diese Lesungen wurden oft von irrsinnigem Lachen unterbrochen. Später sahen und hörten manche von uns, ich eingeschlossen, den Kerl, der die Tonbänder dort liegenließ, die er immer in Briefumschläge einer örtlichen Bank steckte. Es war die Art Umschläge, die Banken ihren Kunden anbieten, die etwas brauchen, wo sie ihr abgehobenes Bargeld hinstecken können. Auf der Außenseite dieser Briefumschläge des älteren Herrn, der immer murmelnd und in sich hineinlachend umherlief, standen merkwürdige Sätze, an die ich mich unglücklicherweise nicht mehr erinnere - und auch das Quellenmaterial, aus dem die Lesung auf dem Band stammte. Bungalow Bill (dieser Name wurde ihm von David Tibet gegeben) ließ diese Umschläge auf Bänken am Rand der Bürgersteige im Zentrum von Detroit liegen, und er steckte zur Sicherung der Umschläge stets als Gewicht ein paar Pennies hinein. Er war ein sehr gepflegt und kompetent aussehender Mann ... und höchstwahrscheinlich wahnsinnig.

EMA: Haben Sie jemals selbst mit Bill gesprochen oder anderweitig direkte Inspirationen für Ihre Story von ihm erhalten? Und was wurde aus den Tonbändern?

TL: Da die Firma, für die ich arbeite, vor einigen Jahren aus Detroit weggezogen ist, verloren diejenigen von uns, die Bungalow Bills auf Cassette gesprochenen Monologen folgten, ihn aus den Augen. Keiner von uns hat jemals mit ihm gesprochen oder ihn irgendwie belästigt. Ich hörte ihn nur einmal murmeln und lachen, als ich auf den Aufzug wartete. Ich erkannte seine Stimme sofort, als er näherkam. Es konnte niemand anders gewesen sein.

EMA: In einer Kurzgeschichte von Daniil Charms gibt es eine Person namens Faol. Könnte da irgendeine Verbindung zu der Figur Faliol in Ihrer Erzählung "Masquerade of a Dead Sword" bestehen?

TL: Der Name Faliol ist eine Permutation des Namens einer Figur in einem Stück des belgischen Dramatikers Michel de Ghelderode.

TW: Viele Ihrer Geschichten werden mehr von Stil und Atmosphäre dominiert als von Handlung ... in Deutschland ist dieser "Mangel an Plot" eine Zielscheibe Ziel für einige Kritiker. Was beabsichtigen Sie? L'art pour l'art? Sind Ihre Erzählungen Reflektionen Ihrer eigenen Emotionen, Bilder, direkt aus Ihrem Kopf hingeschrieben? Verfolgen Sie ein gewisses Prinzip oder eine gewisse Handlungweise, wenn Sie Geschichten schreiben?

TL: Ich verstehe nicht, warum die Leute nicht einsehen können, daß Handlung für meine Geschichten - mit der möglichen Ausnahme einiger meiner kurzen Prosastücke - ist wie für die jedes anderen Horrorschriftstellers. Ich fange nicht an, eine Geschichte zu schreiben, bevor ich alle prinzipiellen Handlungspunkte und ihre Lösung am Ende der Geschichte weiß. Was ich nicht tue, ist, meine Stories in einer Weise zu strukturieren, daß meine Plots sich ausschließlich durch Dialog entwickeln; das ist meine gewöhnliche Vorgehensweise. Der Grund dafür ist, daß die meisten meiner Stories in der ersten Person erzählt werden, von einem Erzähler, dessen Bewußtsein ich immer offen darlegen möchte, wo der Leser es sehen und nachfühlen kann. Die meisten Leser mögen diese Art von Geschichten nicht. Sie wollen nicht daran erinnert werden, daß sie eine Geschichte lesen - das ist der Grund, warum sehr wenige Bestseller in der ersten Person geschrieben werden.

EMA: In manchen Ihrer früheren Stories besitzt die Hauptfigur eine Art dunkler Macht; später überwiegt das Lovecraftsche Bild eines kosmischen Bösen. Glauben Sie, daß das kosmische Böse eine weiterentwickelte oder höhere Form des Grauens darstellt, verglichen mit dem Bösen eines Einzelnen?

TL: Ich glaube, daß beide Quellen des Bösen und Grauens in meinen Stories präsent sind, obwohl in bestimmten Geschichten eine davon mehr hervorzustechen scheint. Zum Beispiel: in meiner frühen Story "The Chymist" ist die Hauptfigur eine von denen, die Sie als im Besitz einer "dunklen Macht" stehend beschreiben. Aber diese Macht ist nur eine Instanz einer größeren Macht, die immer gegenwärtig ist. Simon Smirk, der Chemiker, bezieht sich offen auf die Kräfte der Großen Chemiker des Universums, denen er nur nacheifert. Diese spezielle Kraft, von der er spricht, ist die Natur, die unermüdlich Mutationen und Permutationen erzeugt, für die sie menschliches Fleisch benützt; das ist genau dasselbe, das Simon selbst in der Geschichte tut. Aber ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Meine früheren Hauptfiguren scheinen eine viel höllischere Bande zu sein als meine späteren Hauptfiguren, die vielleicht etwas sinister erscheinen, so wie der Erzähler von "Teatro Grottesco", aber ebenso aufgrund von Mächten zugrunde gehen, die viel mächtiger und sinistrer sind, als sie je zu sein hoffen könnten.

TW: Sie arbeiten seit einer ganzen Reihe von Jahren für einen großen amerikanischen Verlag. Haben Sie je davon geträumt, ein Berufsschriftsteller zu sein, oder vielmehr: glauben Sie, daß Sie mit den Beschränkungen leben könnten, denen ein Berufsschriftsteller unterworfen ist? Ich glaube, sobald Kunst zu einem Job wird, ist das Ende der individuellen Freiheit schnell erreicht.

TL: Ich habe schon vor langem festgestellt, daß ich niemals ein Berufsschriftsteller sein könnte, aus dem einfachen Grund, daß ich mich nicht für dieselben Dinge interessiere, für die sich die Leute, die die Mehrzahl der bücher auf dieser Welt kaufen, interessieren. Wie Lovecraft interessiere ich mich nicht für Menschen und ihre Beziehungen. Das allein ließe mich schon als Berufsautor versagen. Außerdem habe ich eine schlechte Einstellung zu dieser Welt. Ich glaube, daß das Leben ein Fluch ist, und so weiter. Leute, die am Strand oder im Flugzeug ein Buch lesen, wollen von so etwas nichts wissen. Sie wollen sich nur entspannen und eine ablenkende Geschichte von einem allwissenden Standpunkt in der dritten Person erzählt bekommen, was ihnen das Gefühl gibt, daß sich in ihrem Kopf ein Film abspielt. Ich mache ihnen dafür nicht den mindesten Vorwurf.

EMA: Ihr Job verlangt Ihnen große Verantwortung ab. Fühlen Sie sich wohl mit so viel Verantwortung?

TL: Ich habe eine geringe Toleranzschwelle für Druck jeglicher Art.

TW: Hatten Sie je das Gefühl, daß das Schreiben zu einer Qual wird? Um für mich selbst zu sprechen: ich weiß, daß es ziemlich schwierig ist, den Alltagsmüll aus den Gedanken zu verbannen und zu versuchen, ein paar vernünftige Worte zu schreiben ...

TL: Mir selbst geht der Akt des Schreibens an sich auf die Nerven. Ich habe früher davon phantasiert, daß ich mir nur die Figuren und Geschehnisse einer Story vorstellen würde, und sie erschiene in geschriebener Form vor meinen Augen. Ich weiß, daß es eine Menge Autoren gibt, die die Grundbestandteile des Schreibprozesses wirklich genießen. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich halte mich selbst nicht einmal für einen Autor. Wahrscheinlich sind die einzigen Leute, die sich selbst als Autoren sehen, die Profis, die es jeden Tag tun und die Berufsbezeichnung "Autor" auf ihren Steuererklärungen und Pässen stehen haben. Sie werden ständig daran erinnert, daß sie Autoren sind.

TW: Vor einigen Jahren schrieb Poppy Z. Brite ein hübsches Vorwort zu THE NIGHTMARE FACTORY, das mit den Worten beginnt: "Bist du dort draußen, Thomas Ligotti?" Sie sind vom Image eines menschenscheuen Eremiten umgeben; manche Leute schreiben über Sie auf eine Art, als wären Sie selbst eine Figur aus einer Ihrer Stories - zumindest hierzulande. ... Wie fühlt es sich an, als "Prinz der dunklen Phantastik" bezeichnet zu werden?

TL: Wenn ich mich nicht gerade in einem Stadium von Depression, Angst oder Panik befinde, fühlt es sich ziemlich gut an, wenn jemand wohlwollend über mein gedrucktes Werk spricht. Aber diese Wirkung läßt sehr schnell nach. Dennoch bin ich sicherlich nicht immun gegen die Mächte von Lob oder Kritik. Ich wünschte, ich wäre es. Andererseits laufe ich auch nicht herum und denke: "Hier bin ich, der Prinz der dunklen Phantastik - macht Platz für mich!" Man braucht eine Menge Arschkriecher um sich und eine Menge Geld, um so denken zu können.

TW: Ihre Geschichten sind ziemlich kompromißlos. Entweder fühlt sich der Leser von ihrem Zauber gefangen und verliert sich im Ligotti-Kosmos, oder er macht sich nichts daraus. Ich meine, daß Ihre Anhänger eine sehr spezielle Verbundenheit mit Ihrem Werk fühlen müssen; es ist mehr als nur Unterhaltung für sie. Viele Leser scheinen sich selbst in Ihren Geschichten zu erkennen, ihre Zweifel und Ängste. Glauben Sie, daß Ihre Stories Einfluß auf die Denkensart Ihrer Leser haben? Daß sie sie vielleicht als eine Art Philosophie betrachten?

TL: Ich habe wirklich nicht viel Kontakt zu Leuten, die meine Stories lesen. Wenn ich von denjenigen ausgehe, mit denen ich eine mehr oder weniger regelmäßige Korrespondenz geführt habe, so finde ich, daß sie sich hauptsächlich von meinen Stories angezogen fühlten, weil sie darin etwas von ihrer eigenen Art zu denken wiederentdeckten. Genauso war es für mich, als ich zum ersten Mal Lovecraft las. Das ist die Art, wie es funktioniert. Offenbar haben Lovecrafts Ideen und Haltung in seiner Literatur Ausdruck gefunden, ebenso wie es bei mir ist. Es ist wahrscheinlich unmöglich, etwas zu schreiben, ohne etwas zu verraten, das man "Philosophie" nennen könnte. Die Philosophie der meisten Autoren scheint folgende zu sein: auf der Welt gibt es Gut und Böse, aber im großen und ganzen mehr Gutes. So sehe ich das alles überhaupt nicht. Meine Sicht der Dinge ist die einer Minderheit; das ist es wahrscheinlich - so oder so - was Sie mit "Ligotti-Kosmos" meinen. Und das ist es auch, was meine Schreiberei von der der meisten anderen Autoren unterscheidet. In der Tat unterscheidet sich meine Art zu denken von der der meisten anderen Leute, einschließlich all jener, die meine Stories lesen und genießen.

EMA: Gibt es viele Fans, die versuchen, in Kontakt mit Ihnen zu treten? Was bedeutet es Ihnen, die Herzen von Menschen zu berühren, die Sie nicht kennen?

TL: Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, kann das sehr anrührend sein.

EMA: Haben Sie sich je vom Werk eines anderen Künstlers so tief berührt gefühlt, daß sie ihm oder ihr einen bewundernden Brief schrieben?

TL: Nur einmal. Als ich Anfang zwanzig war, schrieb ich Joseph Payne Brennan ein paar Fanbriefe, in denen ich meine Bewunderung für das ausdrückte, was ich seine "unverhohlen pessimistische" Poesie nannte. Zugleich sagte ich ihm aber auch, daß ich seine Stories viel schwächer fand als seine Gedichte. Er schrieb mir beide Male eine Antwort und erklärte mir sehr geduldig und liebenswürdig, daß Geschichtenschreiben und Dichten zwei völlig verschiedene Sachen für ihn waren - daß seine Stories hauptsächlich für kommerzielle Zwecke geschrieben waren, während seine Gedichten ein viel wahrhaftigerer Ausdruck seiner selbst waren. Ich habe diese Briefe immer noch.

TW: Bislang hat es in Deutschland noch nicht viele Veröffentlichungen Ihres Werkes gegeben. Wie steht es mit anderen Auslandsveröffentlichungen? Wir haben Werbung für eine griechische Übersetzung von THE NIGHTMARE FACTORY auf einer griechischen Website entdeckt.

TL: Die Storysammlungen, die ins Deutsche und Griechische übersetzt wurden, sind die einzigen fremdsprachigen Erscheinungen meiner Geschichten, wenn man einige übersetzte Anthologien nicht mitrechnet, in denen eine Story von mir erschien. Es gab Interesse an italienischen und französischen Übersetzungen meiner Sammlungen, aber mein Verleger hat darauf entweder nicht geantwortet oder die Zustimmung dafür wurde verwehrt, weil man damit wirklich nicht viel Geld verdienen kann.

TW: Wir leben in einer Zeit allumfassenden Fastfoods. Meiner Meinung nach ist die Menschheit sicher nicht dümmer als in früheren Zeiten, aber es gibt mehr Futter für die existierende Dummheit, und die Medien und viele Künstler verkaufen sich auf immer extremere Weise, in jeder Hinsicht. Scheiße verkauft sich am besten, ganz egal, ob man Literatur, Musik oder Filme macht. - Was macht für Sie gute Literatur aus? Oder, was macht Ihrer Ansicht nach Kunst aus? Gibt es irgendwelche lebenden Künstler, die Sie bewundern?

TL: Mein letzter großer literarischer Held war William S. Burroughs, und er ist jetzt schon seit geraumer Zeit tot. Ich hege einen großen Zynismus betreffend "E"-Kunst versus Populärkunst. Wenn man das alles aus einer gewissen Distanz betrachtet - die einzige Art, die Dinge zu betrachten -, dann sieht das alles ziemlich ähnlich aus. Ich führe mir Populärkunst in der Form von Film und Fernsehen zu. Ich habe Lieblingsfilme und TV-Sendungen. Aber kein Film oder keine Fernsehsendung wird je in er Lage sein, mir ein annähernd bodenloses Vergnügen zu bereiten wie z.B die Geschichten von Jorge Luis Borges und Dino Buzzati, die Essays von E. M. Cioran oder die Lyrik von Giacomo Leopardi. Wie auch immer, letztendlich ist doch alles nur Unterhaltung.

TW: Als ich von Ihrer Zusammenarbeit mit David Tibet/Current93 hörte, war das eine große Entdeckung für mich - zwei kompromißlose Ausnahmekünstler treffen aufeinander. David Tibets experimentelle Musik mag vielen Leuten ählich "anstrengend" erscheinen wie Ihre Geschichten ... Ich finde, daß Ihr Werk und das von Tibet sehr gut harmonisieren; ich habe eine ähnliche Atmosphäre in Ihren Geschichten und Tibets Musik entdeckt. Wie kam es zu diesen Kollaborationen?

TL: Eines Tages erhielt ich ein Paket, das den Großteil der Diskographie von Current93 und einen Brief von David Tibet enthielt, in dem er Bewunderung für meine Geschichten ausdrückte. Zugleich fragte er, ob ich bereit wäre, bei einem Projekt mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich hörte mir die CDs an, stellte fest, daß es auffällige Ähnlichkeiten zwischen den Songs von Current93 und meinen Stories gab, und antwortete ihm, daß ich gern bereit wäre, mit ihm zusammenzuarbeiten.

EMA: Haben Sie Pläne für weitere Kollaborationen in der vorhersehbaren Zukunft? Mit David Tibet oder mit anderen Künstlern? Arbeiten Sie gern mit jemand anderem zusammen und wenn ja, warum?

TL: Ich habe eine zusammenhängende Serie von Prosastücken mit dem Titel THIS DEGENERATE LITTLE TOWN geschrieben. Irgendwann in der Zukunft, wenn andere Projekte und Verpflichtungen es zulassen, wird dies die Grundlage für eine dritte Kollaboration zwischen mir und David Tibet sein.

TW: IN A FOREIGN TOWN ... ist ein sehr spezielles Buch für mich. Es erscheint mir fast wie eine Zusammenfassung oder eine Art Quintessenz vieler Ihrer früheren Geschichten. Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, daß sich ein Kreis vollzogen hatte. Und irgendwie erschien es mir, als ob Sie einen Höhepunkt in Ihrem schwarzen Mikrokosmos menschlicher Puppen gefunden hätten; eine Klimax, die zugleich ein Ende anzeigte, vielleicht sogar einen Wendepunkt in Ihrem Werk. Nachdem Sie die Faszination des Lesers für die seltsame "Stadt an der nördlichen Grenze" durch alle Geschichten steigern, enthüllen Sie sie schließlich als einen "Ort der heimtückischsten Illusionen". Die Hauptfigur beschließt, "einfach nur schweigend wegzugehen", und er schreibt: "Ich war müde und fühlte den Schmerz jedes zerbrochenen Traums, den ich je in mir getragen hatte". Das klingt ziemlich desillusionierend - der dunkle, glamouröse Alptraum zerbröckelt zu Staub; es ist fast wie die prosaische Ernüchterung nach einem LSD-Trip ...

TL: Ich habe diese Art von Desillusionierung schon Jahre früher empfunden. Die Story "The Spectacles in the Drawer" übertrifft "IN A FOREIGN TOWN ..." bei weitem in der Enthüllung dieser Entfremdung. Aber Desillusionierung kann auch glamourös sein. Wie alles andere. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß etwas absolut Negatives, etwas, das keine wie auch immer geartete Sicherheit als Grundlage hat, an sich eine Unmöglichkeit darstellt. Selbst Mord und Suizid sind sehr positiv, sehr vital und bejahend. Es gibt wirklich keinen Weg, wie man es verhindern könnte, in die Maschinerie menschlicher Existenz hineingezogen zu werden. Oder zumindest keinen, den ich mir momentan vorstellen kann.

TW: Clowns, Narren und Harlekine erscheinen in Ihren Geschichten normalerweise als unheimliche, bedrohliche Wesen, und doch scheinen Ihre Protagonisten oft von ihnen fasziniert ... In der Erzählung "The Last Feast of Harlequin" liebt die Hauptfigur es, sich als Clown zu verkleiden, was ihr letztendlich nicht gut bekommt. In "The Bells will sound forever" spielen Sie dieses Element auf meisterhafte Weise aus: die Hauptfigur, Mr. Crumm, entdeckt ein Clownskostüm auf dem Dachboden des mysteriösen Hauses der Mrs. Pyk. Er zieht das Kostüm an und sieht sich selbst als "Kopf auf einem Stock in der hölzernen Hand von Mrs. Pyk". Crumm - der in Wirklichkeit der prosaischen Profession eines Handlungsreisenden angehört - scheint ein bizarres Vergnügen daran zu empfinden, in eine fremde Haut zu schlüpfen, speziell die eines Spaßmachers. Aber schließlich endet er als mißbrauchtes, puppengleiches Objekt. - Wie steht es mit Ihnen? Fühlen Sie sich von Masken fasziniert, von der Idee, in eine fremde Haut zu schlüpfen?

TL: Meine eigenen Phantasien über das Thema, die Haut einer fremden Person überzustreifen, sind viel banaler. Als ich ein Kind war, wollte ich ein Baseballspieler namens Rocky Calavito sein und imitierte seine Schlagstellung und seinen Schwung, während ich vorgab, er zu sein. Später wollte ich eine ungewisse Anzahl von Rockmusikern sein. Und dann wollte ich H. P. Lovecraft sein. Zur Zeit sind mir die Leute ausgegangen, die ich gern sein möchte. Meine momentane Idealfigur ist die eines Insassen in einem Gefängnis mit minimalen Restriktionen. Das scheint mir ein recht gutes Leben zu sein.

TW: Ein anderes Element, das immer wieder in Ihrem Werk auftaucht, ist die Puppe - die Vorstellung, von marionettengleichen, puppenartigen Menschen umgeben zu sein, beziehungsweise: sich selbst in ein solches Wesen verwandelt wiederzufinden - sozusagen der Narrenmaske beraubt. ... Die Puppen in Ihren Geschichten erscheinen mir wie Symbole für die Hoffnungslosigkeit der Hauptfiguren. Jeder Versuch, unser Schicksal zu verändern, ist vergeblich, weil wir alle Marionetten einer überlegenen dunklen Macht sind. Ist Thomas Ligotti ein Fatalist?

TL: O ja. Absolut ... im Prinzip. In Wirklichkeit bin ich genauso ein Tropf wie jeder andere. Ich steigere mich ständig in etwas hinein und wünsche mir Dinge, die mich nur noch tiefer in die Falle der menschlichen Existenz hineinziehen. Zum Beispiel hänge ich sehr an den Mitgliedern meiner Familie. Und wie man sieht, schreibe ich hin und wieder immer noch Horrorstories. Das alles hilft mir aber nicht, wenn ich es wirklich brauche. Es gibt eigentlich keinen Unterschied zwischen mir und einem religiösen Fundamentalisten, der davon träumt, irgendeinen schwammig beschriebenen Zustand von Erlösung zu erreichen und ewig im seligen Jenseits zu verweilen. Es ist ja sogar ein Akt ektstatischen Wahnsinns, bis morgen weiterzumachen; weil jedes Morgen uns nur näher an jenes letzte "Morgen" bringt, das sich höchstwahrscheinlich nicht als der beste Tag herausstellen wird.

TW: Ich habe gehört, daß es Ihr erster Traum war, ein Rockstar zu werden. Ist Musik immer noch wichtig in Ihrem Leben, inspiriert sie sie vielleicht sogar zum Schreiben?

TL: Das einzig wirklich Wichtige in meinem Leben ist das Vermeiden von mehr Schmerz als nötig, und mir nahestehenden Leuten zu helfen, dasselbe zu tun ... Im Prinzip. In der Wirklichkeit war Musik immer eine wichtige Ablenkung für mich, von dem Zeitpunkt an, als ich mein erstes Transistorradio bekam und diese benebelten Songs aus den frühen Sechzigern hörte, die jetzt so eindringlich für mich klingen. "Popsicles and Icicles" ist eine Melodie, die besonders herausragt; so schön und aus einer anderen Welt wie etwas von den Cocteau Twins. Ich glaube nicht, daß Musik jemals einen direkten Einfluß auf meine Stories ausgeübt hat, außer vielleicht in einer kryptischen Art und Weise, die nicht mal ich selbst bemerke. Ich habe gelegentlich versucht, mir eine Fictionstory auszudenken, das die Intensität und Wirkung einer musikalischen Komposition hätte. Aber Literatur funktioniert nicht auf dieselbe Weise wie Musik. Ihre Wirkung auf Menschen ist geringer, dafür aber intimer als die von Musik. Musik scheint immer aus einer Entfernung von einer Million Meilen zu kommen, während die Literatur im eigenen Innern ist.

TW: Andererseits finde ich es sehr interessant, wieviele Musiker von Ihrer Schreiberei inspiriert worden zu sein scheinen. Ich unterhalte zwei virtuelle Radiostationen auf www.MP3.com und stelle dort experimentelle Musik vor, die als fiktiver Soundtrack zu Ihren Geschichten dienen könnte. Ich war überrascht von dem großen Interesse, das mir entgegenschlug. Viele MP3-Künstler sind Fans Ihrer Werke; andere kannten Sie zwar nicht, fühlten sich aber von den Textzitaten angesprochen und schickten mir Musik, die perfekt mit Ihrer Literatur harmonisierte. Während die meisten Horrorbestseller von Hausfrauen gelesen zu werden scheinen, spricht Thomas Ligotti offenbar ein etwas anderes Publikum an.

TL: Ich frage mich, ob das wirklich so stimmt. Ich würde wetten, daß die populären Horrorautoren auch ihre Fans unter den Musikern haben. Zum Kuckuck, Stephen King hat mal wirklich mit Al Kooper auf derselben Bühne gespielt - eins meiner Idole aus den Sechzigern wegen seiner Arbeit mit Blues Project und Blood, Sweat and Tears. Ich kann sogar das sehr spezielle Beispiel eines ernsthaften Musikers bezeugen, der populären Horror liest. Ich habe mal ein Interview mit dem Jazz-Baßspieler Ron Carter gelesen (der mit Miles Davis zusammengespielt hat und definitiv keine Hausfrau ist), und in diesem Interview erzählte er von seinem Interesse und seiner Bewunderung für die Horror-Romane von Robert McCammon. Wer weiß - Carter hat vielleicht sogar irgendein kompliziertes Jazz-Stück komponiert, das von McCammons Werk inspiriert wurde. Natürlich schmälert das nicht im mindesten die Leistung jener Musiker, die mir mit ihrer Aufmerksamkeit und ihrem Talent die Ehre erwiesen - es soll nur dazu dienen, die Perspektive zurechtzurücken.

TW: In THE AGONIZING RESURRECTION OF VICTOR FRANKENSTEIN & OTHER GOTHIC TALES lassen Sie sich unter anderem von klassischen Horrorfilmen inspirieren. Ich hatte das Gefühl, daß Sie diese Filme sehr gut kennen, sie vielleicht sogar lieben?

TL: Sie haben recht. Ich kannte und liebte sie sehr, als ich jung war.

EMA: Die Ruine in "Dr. Locrian's Asylum" ähnelt in gewisser Weise den Settings alter Frankensteinfilme: der große Tisch mit den Riemen; die Schöpfung von etwas, das "ohne Schicksal oder Geist" ist und es schafft, zu entkommen und die Einwohner der Stadt zu bedrohen. Das Frankensteinmonster ist auf gewisse Weise der Prototyp für Automaten oder Androiden in der Literatur, die wiederum als das Ur-Modell für die (empfindungsfähigen?) Puppen sind, die so viele Ihrer Geschichten bevölkern.

TL: Ich habe das Frankensteinmonster nie so betrachtet, aber Ihre Analyse erscheint mir sehr solide.

TW: Finden Sie heutzutage noch Inspiration in Filmen? Beim Lesen Ihrer Geschichten sehe ich oft filmähnliche Bilder in meinem Kopf - meistens etwas zwischen ERASERHEAD und DR. CALIGARI ...

TL: Ich liebte DAS CABINET DES DR CALIGARI, als ich Fotos aus dem Film im Famous Monsters-Magazin sah. Als ich den Film schließlich sah, dachte ich mir: "Was für ein Haufen Müll und Unsinn das doch ist." Aber ich bewahrte mir doch meine Phantasie, meine Idealversion von CALIGARI und habe diese Version einigen meiner Erzählungen eingeimpft. Ich bin mir keines direkten Einflusses von neueren Horrorfilmen auf meine Geschichten bewußt. Ich kann mich nicht an den letzten guten Horrorfilm erinnern, den ich sah. Wahrscheinlich ALIEN oder John CarpentersTHE THING, je nachdem, welcher von beiden der neuere ist.

TW: Da wir gerade davon reden: Sie haben zwei Filmdrehbücher in Zusammenarbeit mit Brandon Trenz geschrieben, die unglücklicherweise noch nicht verfilmt wurden, "Crampton" (eine X-Files-Episode) und "The Last Feast of Harlequin" (basierend auf Ihrer Story gleichen Titels). Was veranlaßte Sie zum Schreiben von Drehbüchern, von dem finanziellen Aspekt einmal abgesehen? Welche Gefühle erweckt die Vorstellung in Ihnen, daß eine von Ihren Stories verfilmt werden würde?

TL: "Crampton" zu schreiben (welches inzwischen zu einem Nicht-X-Files-Spielfilm umgeschrieben wurde) war etwas, das ich mir lustig vorstellte, und das war es; aus dem Grund, weil es eine erfolgreiche Zusammenarbeit war, und von der ich annahm, daß sie eine Chance hatte, als X-Files-Episode produziert zu werden. Mit letzterem hätte ich mich nicht mehr irren können. Ich hatte sehr naive Vorstellungen davon, wie Hollywood funktioniert. Der einzige Grund dafür, daß Brandon Trenz und ich eine Filmadaption von "Harlequin" schrieben, war, daß David Lynchs Produktionsfirma The Picture Factory eine Option auf diese Story erworben hatte. Es war reiner Zufall, daß das passierte, kurz nachdem wir die X-Files-Episode geschrieben hatten. Hätten wir uns dadurch nicht schon etwas Erfahrung im Drehbuchschreiben angeeignet, so hätten wir uns nie zugetraut, auf gut Glück ein Script für "Harlequin" zu schreiben. Und solange man nicht auf lange Sicht ins Drehbuchgeschäft einsteigt, kann man damit sowieso nicht soviel Geld verdienen.

TW: Ich habe einen verrückten Wunsch: Eine SIMPSONS-Episode, geschrieben von Thomas Ligotti.

TL: Ja, das ist ein verrückter Wunsch. Tatsächlich gibt es eine entfernte Verbindung zwischen meinen Horrorstories und den SIMPSONS. Einer meiner Lieblingsgitarristen, Danny Gatton, spielte mal eine Coverversion des SIMPSONS-Titelthemas auf seinem ersten Album bei einer großen Plattenfirma. Ein paar Jahre später brachte Gatton sich um, gerade als THE AGONIZING RESURRECTION OF VICTOR FRANKENSTEIN gerade im Druck war. Ich habe das Buch dem Andenken Danny Gattons gewidmet, den ich immer für einen normalen, fröhlichen Menschen gehalten hatte, abgesehen davon, daß er ein genialer Gitarrist war.

TW: Bitte imaginieren Sie die groteske Situation, Moderator in einer TV-Talkshow zu sein. Sie könnten drei Gäste einladen. Wen würden Sie wählen (Tote eingeschlossen)?

TL: Die erste Person, die mir einfällt, ist Ronald Reagan, verdummt durch Alzheimer und jetzt auch noch durch eine gebrochene Hüfte verkrüppelt. Ich glaube nicht, daß ich andere Gäste bräuchte, wenn ich Reagan bekommen könnte. Aber ich würde gern den von der Syphilis gezeichneten Al Capone als Co-Moderator. Und was die Band betrifft ... Jimi Hendrix, der während der ganzen Show seine feedback-getränkte Version von "Star Spangled Banner" spielt.

EMA: Einer Ihrer Lieblingsschauspieler ist Udo Kier. Er sagte einmal: "Es heißt, daß Hollywoodfilme keine Seele haben. Manchmal denke ich, daß europäische Filme zuviel Seele haben." Würden Sie dasselbe für europäische Horrorstories gelten lassen?

TL: Ich verstehe Udo Kiers Zitat so, daß er meinte, Europa hätte eine Menge langsame, langweilige Filme produziert hat, dem würde ich zustimmen. Dasselbe gilt für Japan, meiner "häßlicher Amerikaner"-Meinung nach. Wenn man England nicht als Teil Europas betrachtet (was ich nicht tue), dann fallen mir nicht viele europäische Autoren ein, die (genau genommen) Horrorstories geschrieben haben. Ich habe mir einmal die englische Übersetzung einer Sammlung von Stories und Gedichten eines tschechischen Horrorschriftstellers gekauft, der sich vor kurzem das Leben genommen hat. Ich dachte mir: "Das wird bestimmt großartig." Unglücklicherweise bestand der offensichtlichste Einfluß auf das Werk jenes Autors aus alten "Twilight Zone"-Episoden. Ich wünschte, es gäbe mehr Übersetzungen von europäischen Horrorschriftstellern. Autoren wie Bruno Schulz, Dino Buzzati und jenen Ungarn, der sich Geza Csath schreibt, betrachte ich nicht als Horrorautoren, sondern als wirkliche Literaten. Dasselbe gälte auch für die Stories von Georg Heym, obwohl zumindest eine von ihnen, "Die Autopsie", in Horroranthologien erschienen ist. Locker dahingesagt würde ich zustimmen, daß das Werk dieser Autoren mehr "Seele" als amerikanischer oder britischer Horror hat, aber diese Qualität paßt eher auf Literatur als auf Filme. Es gibt immer eine Person hinter einem literarischen Werk, eine Seele, wenn Sie so wollen. So etwas gibt es beim Film nicht, an dem so viele Leute mitarbeiten.

TW: Lassen Sie uns in die gnadenlose Wirklichkeit zurückkehren. Selbst wenn dies unpopulär klingt: ich meine, daß es ein grausames Schicksal ist, dazu gezwungen zu sein, für andere zu arbeiten, aus der Notwendigkeit heraus, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Der moderne Zivilisationsmensch verbringt mehr Zeit am Arbeitsplatz als zuhause. Arbeitsprobleme verfolgen uns sogar bis in unsere Freizeit und rauben uns dadurch noch mehr Lebenszeit ... Phantasie, Kreativität und sogar der gesunde Menschenverstand leiden darunter. In diesem Kontext habe ich Ihre neuen Stories "I Have A Special Plan for This World" und "My Work is Not Yet Done" (beide werden 2001 in Ihrem neuen Buch MY WORK IS NOT YET DONE: THREE TALES OF CORPORATE HORROR, Mythos Books, Missouri, http://www.bibliocity.com/home/mythosbooks erscheinen). Würden Sie sagen, daß Sie meinen Abscheu in bezug auf Arbeit und Arbeitssituationen teilen?

TL: In den Vereinigten Staaten muß eine Person keine Fragen beantworten, die sie selbst belasten könnten. Aber ich möchte hervorheben, daß es in den Stories, die Sie ansprechen, nur provisorische "Gute" und "Böse" gibt. Schlußendlich stellt sich jeder in diesen Stories als schlecht heraus; wie - meiner Ansicht nach - in der gesamten menschlichen Rasse. Und, am wichtigsten: diese Stories beginnen nur mit den Schrecknissen in einer Arbeitsplatzkulisse. Letztendlich geht es in ihnen um etwas ganz anderes.

EMA: Ihre CORPORATE HORROR STORIES unterscheiden sich von dem, was wir aus Ihren früheren Werken kennen. Ihr Stil hat sich ziemlich stark verändert, wenn ich das so sagen darf. Sie spielen in einer "normalen" Umgebung und die Figuren erleben "normale" Dinge (normal natürlich nur bis zu einem gewissen Grad). Was war der Grund für diesen Stilwandel?

TL: Eigentlich ist die einzige relativ normale Story die Titelnovelle. Das ergab sich durch ihre Handlung und durch die Tatsache, daß ich sie mir ursprünglich als Film vorstellte.

EMA: Sie haben mir einmal gesagt, daß Sie nicht an Science Fiction interessiert sind. Wie kommt es, daß Sie ein SF-Szenario für "The Nightmare Network" (erscheint ebenfalls in MY WORK IS NOT YET DONE ...) wählen?

TL: Diese Geschichte wurde nach dem Werk von Burroughs modelliert, der der absolute König dieser Art von verdrehten, apokalyptischen Szenarios war, die essentiell für "The Nightmare Network" sind. Unter dem Einfluß von Burroughs wußte ich, daß ich einige makabre Ideen und Bilder in diese Story hineinschreiben würde müssen, und daß mein üblicher Stil einfach keine Platz für diese Erzählelemente bot.

TW: Auf der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert feiert der sogenannte Millenniums-Horror große Erfolge - ein Spiel mit den Ängsten moderner Zivilisationsmenschen, die einer neuen Ära entgegenblicken, in der genausogut alles zerstört werden könnte ... Es scheint, daß dieser Trend Sie nicht beeinflußt hat. Glaubt Thomas Ligotti nicht an die nahe Apokalypse?

TL: Nein, natürlich nicht. Es wäre Wahnsinn, an so etwas zu glauben.

TW: Was bedeutet Religion für Sie?

TL: Massenkontrolle.

TW: ... Politik?

TL: Auch Massenkontrolle.

TW: ... Psychologie?

TL: Kontrolle auf der Ebene des Individuums. Die Psychologie des Typs Freud und Jung ist ganz offenkundig geisteskranker Unsinn, auch wenn relativ wenig Menschen unter ihrer Kontrolle stehen. Ich ziehe Psychopharmakologie vor, selbst wenn das Potential der Kontrolle das von "Gesprächstherapien" weit überschreitet.

TW: ... Drogen?

TL: Wie alles andere auf der Welt bedeuten sie mehr Probleme, als sie wert sind. Aber wenn ich damals im Jahr 1970 nicht zusammengebrochen wäre, wäre ich jetzt wahrscheinlich immer noch ein Drogenfreak.

TW: ... Gibt es Dinge, vor denen Sie sich fürchten? Kennen Sie "Angst"?

TL: Sie machen Witze, oder? Ich fürchte mich vor ALLEM. Ich fürchte mich sogar davor, spezielle Dinge zu verraten, vor denen ich mich fürchte.

EMA: In Ihrer Einleitung zu THE NIGHTMARE FACTORY, "The Consolations of Horror", schrieben Sie: "Mit anderen Worten, jeder bekommt den Horror, den er verdient." Glauben Sie, daß Sie selbst den Horror verdienen, den Sie erleiden?

TL: Diese Referenz bezog sich, glaube ich, auf den Horror in der Literatur. Was das richtige Leben angeht, da geht es nicht um verdienen oder nicht verdienen, ebensowenig wie es keine Werte gibt, keine Moral, keine Rechte, nichts von all dem rhetorischen Müll, der uns das Leben weitaus schwerer macht, als das durch unsere organische Existenz vorherbestimmt ist.

EMA: Welche menschlichen Qualitäten schätzen Sie am meisten? Und welche verabscheuen Sie am meisten?

TL: Ich bin wie jeder andere. Ich mag Leute, die am meisten so sind, wie ich bin. Ich mag Leute nicht, die am wenigsten so sind, wie ich bin.

EMA: Wenn Sie für die Zukunft einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich am meisten wünschen?

TL: Darüber muß ich nicht mal nachdenken. Hier ist mein Wunsch: Daß jedes lebende Geschöpf im Augenblick seines Todes in ein Stadium der Seligkeit übergeht. Ende gut, alles gut. Natürlich würde das die natürliche Ordnung der Dinge durcheinanderbringen, und die Leute würden sich links und rechts nur umbringen. Um die Fortdauer dieses Zirkus zu gewährleisten, den wir Leben nennen, ist es notwendig, daß wir den Schmerz und die Trauer des Todes fürchten, und daß wir, koste es was es wolle, gegen das Unvermeidliche ankämpfen.

TW/EMA: Zum Schluß möchten wir Sie zitieren: "Meine Einstellung ist es, daß es eine verdammte Schande ist, daß sich auf diesem oder irgendeinem anderen Planeten jemals organisches Leben entwickelte ..." (aus dem Interview mit Robert Bee). Ist Thomas Ligotti Nihilist? Träumen Sie von einem anorganischen schwarzen Nichts - die Reinheit der absoluten Leere? Träumen Sie von Ihrem eigenen "Tsalal" (das hebräische Wort für die Vorstellung allverschlingender Dunkelheit)?

TL: Nun ja, "allverschlingende Dunkelheit" suggeriert irgendwie, daß im Universum irgendwas vor sich geht. Das würde ich mir nicht wünschen. Ich würde kein Universum wollen, in dem sogar das Nichts vorgeht.

TW/EMA: Vielen Dank, Mr. Ligotti. Es war sehr freundlich von Ihnen, auf unsere Fragen zu antworten.

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