ÜBER THOMAS LIGOTTI
Dr. Marco Frenschkowski


Vorbemerkung
Dieser Essay wurde 1991 geschrieben; er war der erste Aufsatz über Ligotti, der in Deutschland erschienen ist. Zwar sind in der Zwischenzeit noch mehr Bücher von Thomas Ligotti erschienen, der Essay hat von der Deutung der ligottitypischen Inhalte her aber nichts an Aktualität eingebüßt.
- d. Hrsg. -

"How difficult it is to keep myself from straying into a certain section of town as night after night I wander strange streets alone." -- "No one knows all the legends inspired by Thin Mountain, but here are a few I've recently picked up: that the air up there will turn you into a raving visionary in a matter of hours, that after a few days you experience strange yearnings that are impossible to fulfill, that long-time residents become immortal and after death walk the woods as skeletons."
Wer Thomas Ligotti gelesen hat, erkennt seine Hand in solchen Sätzen so schnell und sicher wie das von einer Erzählung Clark Ashton Smiths oder Arthur Machens gesagt werden könnte. 1953 in Detroit, Michigan geboren, hat Ligotti seit etwa 1980 in der amerikanischen "small press" zahlreiche Geschichten des Unheimlichen und Fantastischen veröffentlicht und ist nun zu seiner ersten auf einem größeren Markt zugänglichen Buchveröffentlichung gekommen."
Songs Of A Dead Dreamer" war zwar schon 1986 durch die Silver Scarab Press, Albuquerque, New Mexico, verlegt worden, aber nur in einer limitierten Auflage von 300 Exemplaren. Ex gibt wenige Bücher, die in der Erstausgabe verpaßt zu haben mir mehr Schmerzen bereitet. Carroll & Graf, New York, sowie Robinson Publishers, London, haben nun 1990 bzw. 1989 diesen Band mit einigen Veränderungen und Überarbeitungen neu herausgebracht. Die meisten bis etwa Herbst 1989 veröffentlichten und in die Erstausgabe des soeben erwähnten Buches nicht aufgenommenen Stücke sind zudem in Nr. 68 von Robert Prices "Crypt of Cthulhu" gesammelt, auch sie gegenüber den Erstveröffentlichungen leicht überarbeitet. Auf beide Sammlungen ist in den folgenden Erwägungen Bezug genommen, die sich als ausgesprochene Empfehlung dieses Autors verstanden wissen möchten. Einige weitere Erzählungen finden sich in amerikanischen Small Press-Publikationen wie "Grue" und "Nyctalops" ("Flowers Of The Abyss") im endgültig letzten Heft dieses bedeutenden Magazins, Nr. 19, April 1991).
Es ist üblich, einen Autor dadurch herauszustreichen, daß er mit einer etablierten Größe der Literaturgeschichte zusammengestellt wird. Lovecraft etwa wurde schon zu Lebzeiten von einigen Fans neben Poe gerückt, was er sich freilich immer verbeten hat (in der Tat, ihr Gegenstand ist schwer zu vergleichen. Poe thematisiert den Menschen, der den Rätseln seiner eigenen Psyche gegenübersteht, Lovecrafts Protagonisten werden von einem erschreckenden, zutiefst "un-menschlichen" Kosmos heimgesucht, der durch keine wie auch immer gearteten menschlichen Kategorien zur "Heimat" gemacht werden kann). Was also ein solches zentrales Thema, einen roten Faden untergründiger Motivauswahl anbelangt, trifft Ligotti sich am ehesten mit Letztgenannten, z. B. nicht mit Stephen King, dessen Meisterschaft (wenn er eine solche hat) in seiner Authentizität der Charaktere und ihrer Reaktion auf das tremendum liegt. Ligottis Charaktere sind wie die Lovecrafts oft austauschbar, ihre seelische Struktur wiederholt sich: Beobachter der verlaufenden Zeit, eines zerfallenden Universums, dessen Rätselhaftigkeit die Psyche dissoziiert; Objekte, nicht Subjekte des Geschehens. Am ehesten trifft noch der Vergleich mit Kafka. Ob die Behauptung einer solchen Affinität den Autor erfreuen würde oder nicht, weiß ich nicht. Sie ist aber nicht von der Hand zu weisen. Gemeinsamkeiten liegen nicht nur in der Komplexibilität der Prosa, in der Fähigkeit zu äußerster "Verdichtung," ohne daß je die (bekanntlich an und für sich vagen) Grenzen zum Prosagedicht überschritten würden. Ein übertroffenes Beispiel, auf gut einer Seite eine völlige Erzählhandlung, eine glaubhafte und vielfältige Atmosphäre und die Entwicklung eines menschlichen Charakters von der "Gesundheit" zum "Wahn" zu beschreiben, ist "Ten Steps To Thin Mountain" ("Crypt Of Cthulhu" Nr. 86, 37 und 36 (sic)). Die Bereitschaft zur Beschränkung wird bei beiden zum Vehikel einer Verschlüsselung, die durch keinen werkfremden Code enträtselt werden kann. Keine religiöse (also auch keine atheistische) und erst recht keine okkulte Weltdeutung fängt die Erzählungen Kafkas und Ligottis ein. Der Leser steht vor dem Werk beider insofern wie vor einem dunklen Kosmos selbst: Kafka interpretieren, Ligotti interpretieren heißt über die Rätsel eines sich kontinuierlich verweigernden Sinnes nachzugrübeln, ohne daß die Hintertür offenstünde, mit solcher Interpretation in der immanenten Sprachwelt des Autors verweilen zu können. "Dr. Locrian's Asylum" ("Songs," S. 213 - 24) stellt die alte Frage, ob der Wahn die Welt nicht besser begreife als die Normalität. Damit hat schon das 19. Jahrhundert den Leser zu verunsichert vermocht, aber Ligotti macht aus dem Gedanken, ohne ins Absurde abzugleiten, etwas ganz Neues. Die geschlossene, nur zur Schwärze des Universums hin offene Anstalt des im Titel Genannten entfremdet die Bewohner einer kleinen Stadt von aller Normalität auch dann noch, als sie das Gebäude abreißen. Dr. Locrian hatte seine Patienten in ihren Aberrationen bestärkt, weil er hoffte, dadurch dem Geheimnis von Welt und Psyche näherzukommen. Der Versuch, das Haus des Wahns aus ihrer Mitte zu entfernen, führt die Stadt und den Erzähler selbst in den Unterang; die Normalität bedarf, will sie überleben, des Wahns.
In seinen Handlungsführungen bleibt Ligotti fast immer diesseits der Mauer zum Surrealen, obwohl er alle Techniken und Perspektivenwechsel des surrealen Metiers beherrscht. Ich erlaube mir darin eine besondere Größe zu sehen. Es gibt viele Erzähler, die dem Leser die Integration in ein einfaches Deutungsgeflecht verweigern, aber nicht sehr viele, die gleichzeitig das sichere Bewußtsein vermitteln, die Mühe um die Interpretation sei ihre Sache auch da wert, wo die Unmöglichkeit eines in wenigen Sätzen faßbaren Ergebnisses von vornherein feststeht. Wer Kafkas "Vor dem Gesetz" in Erinnerung hat, wird wissen, was gemeint ist. "Diese Geschichte verstehen, hieße die Welt verstehen." Ligotti unterscheidet sich meilenweit von den metaphysischen Spielereien, die in der experimentellen Science Fiction an der Tagesordnung sind, und die schärferem Hinsehen gewöhnlich nicht standhalten. "Vastarien" ("Songs," S. 260 - 75) und "The Mystics Of Muelenburg" (leider bisher nur in "Crypt Of Cthulhu, "Nr. 51, 1987, S. 32 - 36) sind Beispiele von Erzählungen, deren Gegenstand metaphysischer Natur ist, die sich aber weder in ein benennbares System integrieren lassen, noch in die Belanglosigkeit eines philosophischen Einfalls absinken. "Vastarien" ist vordergründig die Geschichte eines Mannes, der vermittels eines rätselhaften Buches, das ihm zugespielt wird, eine Welt erträumt -- und der feststellt, daß ihm sein Traum auf nicht minder rätselhafte Weise gestohlen wird. Zum Mörder dessen geworden, in dem er den Dieb seiner Innenwelt sieht, endet er im Wahn -- aber das Buch, in dem andere nur leere Seiten finden, läßt ihn nicht los, und er hört nicht auf, einen "Sinn" zu produzieren, den andere nicht sehen und der ihm im Erwachen entwendet wird ... Man wird kaum verfehlen, die religiöse Analogie zu Ligottis Geschichte zu sehen: der Mensch als Erzeuger einer Innenwelt, der sich einer Macht gegenübersieht, die ihm dieses "Innen" wieder raubt. Ligottis Gott ist von Robert Price in einem wichtigen Essay im geistesgeschichtlichen Kontext der Gnosis gesehen worden: der erkennbare Gott ist immer nur der Schöpfer des Dunklen, des Bösen, des Verfalls ("Thomas Ligotti's Gnostic Quest", in: "Studies In Weird Fiction" 9, Spring 1991). Wie Verfall, décadence überhaupt nicht von ungefähr ein Hauptthema Ligottis ist, am interessantesten vielleicht in "The Prodigy Of Dreams" ("Crypt Of Cthulhu" Nr. 68, S. 3 - 9).
Aus den "Mystics Of Muelenburg" mag ein Zitat hier seinen Platz finden, das in den Ton der Geschichte einführt: "I once knew a man who claimed that, overnight, all the solid shapes of existence had been replaced by cheap substitutes: trees made of flimsy posterboard, houses built of colored foam ... His own flesh, he said, was now just so much putty." Der Erzähler durchschaut die fixe Idee als Nonsense, und findet in ihr doch ein Korrelat seiner eigenen Zweifel an der Wirklichkeit des Vorfindlichen.
Manches ist in deutlicher Reminiszenz, zuweilen geradezu als Hommage an die Größen der Weird Tale geschrieben, ohne daß Ligotti sich je am Pastiche versucht hätte (vielleicht hatte er auch einfach nur die Weisheit, seine Juvenilia für sich zu behalten). "Selections of Lovecraft" ("Crypt Of Cthulhu" 38 - 41) berichten davon, wie Professor Francis W. Thurston (Erzähler in "The Call Of Cthulhu") nach seiner Entdeckung die Welt erlebt. Die Lovecraftsche Apokalypse ist selten besser in vier oder fünf Sätzen eingefangen worden. Sodann erfährt der Leser, wie es dem "Outsider" ergeht, wenn er keiner mehr ist, und was zwei Krankenschwestern am Sterbebett des Gentleman aus Providence beinahe noch gesehen hätten ... das sind harmlose Stücke, wohltuend frei von Ambitionen und dennoch unvergeßlich. "The Journal of J. P. Drapeau" ("Songs," S. 253 - 59) ist ein Kondensat des zu Unrecht vergessenen Georges Rodenbach, der weitaus mehr geschrieben hat als "Bruges-la-morte".
"The Troubles of Dr. Thoss" ("Songs," S. 155 - 67) ist keine Nachahmung, sondern sozusagen die Neuerfindung der traditionellen Gespenstergeschichte, insofern, als sie suizidale Phantasien symbolisch externalisiert: man ist an Le Fanus "Green Tea", James' "Count Magnus" und Wakefields "The Sepulchre of Jasper Sarasen" erinnert, deren gespenstischen Bösewichten Dr. Thoss nun ebenbürtig zur Seite steht. "The Lost Art Of Twilight" ("Songs," S. 135 - 54) hat es nicht nur mit einem modernen Vampir zu schaffen, sondern auch mit der Ausweglosigkeit ästhetisierender Vergangenheitsbewältigung. "Allan and Adelaide: An Arabesque" ("Call Of Cthulhu" Nr. 68, S. 10 - 16) will schon durch sein Motto an Poe erinnern, dessen inzestuöse Geschwisterpaare eine ganz und gar unpeinliche Verjüngung erfahren. Ligotti ahmt Poe nicht nach, er verwendet keine Versatzstücke, sondern schreibt sozusagen in der Poe'esken Provinz seines eigenen literarischen Universums. Ein wenig mißverständlich ließe sich wohl auch sagen, daß Ligotti Poe und andere mit seinen Texten in ihrer Einzigartigkeit bestätigt und bestätigen will.
Es ist irreführend, Ligotti in diesen traditionellen Motiven verpflichteten Stücken originell zu nennen. Ein origineller Autor befriedigt das legitime Bedürfnis des Geistes nach Abwechslung. Wenn er auf Bekanntes zurückgreift, amplifiziert er die Textwelt -- in gelungener oder mißlungener Weise. Ligotti dagegen zwingt den Leser an ein dunkles Fenster und läßt ihn dann allein. Die Illusion, Vertrautes (und seie es nur, vertraute Schrecken ...) zu treffen, wird rasch zerschlagen. Seine Greuel sind nicht die des Blutes, wie bei Clive Barker, obwohl er vor massiven Effekten so wenig Scheu hat wie dieser, sondern die -- wagen wir es zu sagen -- des Geistes. Vom psychologischen Grauen unterscheidet er sich schon dadurch, daß sein Thema, wie gesagt, nicht der Mensch, sondern der Kosmos ist. Also wie bei Lovecraft, dem Ligotti wohl am meisten verdankt. Doch ist keine seiner Geschichten "Cthulhu myth"-Fiction, wie es sie in Amerika und Großbritannien en masse gibt. Mit Lumley hat Ligotti sozusagen nur die Benutzung des gleichen Alphabets gemeinsam. Ligotti entführt auch nicht für einen Abend in eine andere Welt, so ehrenwert solches literarische Geschäft auch sein mag. Seine radikale Kürze zwingt den Leser in dessen eigene Weltwahrnehmung zurück, ohne daß dieser aus dem Schatten des Gelesenen heraustreten könnte. Darum ist Ligotti einer der ganz wenigen Autoren des Unheimlichen, deren Lektüre sich in der Wiederholung nicht verschleißt. So wenig wie der Connoisseur des Tremendum der nagenden Zweifel am Vorfindlichen, der "consolations of horror" (so der Titel eines Essays, "Crypt Of Cthulhu" Nr. 68, S. 42 - 48) müde wird.

© Dr. Marco Frenschkowski
Dieser Essay erschien zuerst in QUARBER MERKUR # 76, 1991
und wurde uns mit freundlicher Genehmigung vom Autor zur Verfügung gestellt
Kein Teil dieser Veröffentlichung darf ohne schriftliche Erlaubnis des Herausgebers oder Autors reproduziert oder übertragen werden, egal in welcher Form oder durch welche Hilfsmittel, elektronische oder mechanische, einschließlich Photokopie, Tonaufnahmen oder Speicherung auf derzeit bekannten oder zukünftig entwickelten Datenträgersystemen.