THOMAS LIGOTTIS KARRIERE DER ALPTRÄUME
Matt Cardin


Thomas Ligotti ist wohl der herausragendste lebende Autor unheimlicher Phantastik. Dieser Ruf hat sich über einen Zeitraum von zwanzig Jahren entwickelt, während derer er paradoxerweise vom Literaturbewußtsein des Mainstreams unbemerkt geblieben ist, ja erstaunlicherweise sogar von manchen Teilbereichen des Horror-Fandoms. Wahrscheinlich kennen ihn mehr Leute unbewußt durch seine Herausgebertätigkeit für die Gale Group (den Verlag, für den er seit zwanzig Jahren arbeitet, und der solche literarischen Grundpfeiler wie die Contemporary Authors-Serie publiziert), als seine eigenen Geschichten kennen. Dennoch hat er einen umfangreichen Korpus von Phantastik erschaffen, der ihm eine Basis leidenschaftlich ergebener Fans bescherte, und sein Werk ist rundum von Kritikern und Lesern gleichermaßen gelobt worden. Die Rezensenten haben glühend über seine Bücher geschrieben, und sein Verlag hat diese Rezensionen für Klappentexte ausgeschöpft.

(Aus The New York Review of Science Fiction: "Ligotti ist wahrscheinlich der am meisten auf das Genre festgelegte Purist. Er drückt auf perfekte Weise die 'verwirrende Merkwürdigkeit' aus, die das Kennzeichen des Unheimlichen ist"; aus The New York Times Book Review: "Wenn es ein literarisches Genre namens 'philosophischer Horror' gäbe, würde Thomas Ligottis [Grimscribe] gut dorthin passen ... provokative Bilder und ein Stil, der zugleich unterhaltend und lyrisch ist"; aus The Philadelphia Inquirer: "Thomas Ligotti hatte eine der außergewöhnlichsten stillen Karrieren in der Geschichte der Horrorliteratur"; aus The Washington Post: "Thomas Ligotti ist das bestgehütete Geheimnis in zeitgenössischer Horrorliteratur ... der beste amerikanische Autor unheimlicher Phantastik, der seit Jahren erschienen ist"; aus Interzone: "Ligotti ist wunderbar und originell; er hat eine dunkle Sichtweise von neuer und besonderer Art, eine Sichtweise, die niemand vor ihm hatte.")

Seine Bewunderer sind geneigt, ihn den besten Autor zu nennen, den das Horrorgenre jemals hervorgebracht hat, und auch wenn solche drastischen Aussagen immer bestenfalls fragwürdig sind, ist es doch zunehmend schwieriger geworden zu bestreiten, daß sie nicht doch möglicherweise zutreffen könnten. Auf ein Minimum reduziert, scheint es unbestreitbar, daß Ligotti sich eine einzigartige und bleibend wichtige Position in der Welt der Horrorliteratur geschaffen hat, wahrscheinlich sogar in der literarischen Welt überhaupt. Seine Karriere als professioneller Horrorautor geht bis in die frühen achtziger Jahre zurück, als seine Geschichten zuerst in solchen Small Press-Legenden wie NYCTALOPS, GRIMOIRE, ELDRITCH TALES, FANTASY MACABRE und DARK HORIZONS zu erscheinen begannen. Diese Geschichten sprachen mit einer schockierend anderen Stimme, und ihre Thematik war -- um es untertrieben zu formulieren -- einzigartig. Zum Beispiel: "The Chymist", Erstveröffentlichung 1981 in NYCTALOPS Band III, Nr. 2. Die Geschichte spekuliert über die kosmischen Kräfte, die der materiellen Welt zugrunde liegen -- "Die Großen Chemiker", wie der Erzähler sie nennt -- und gestattet einen Blick in die Dinge, die geschehen, wenn diese Kräfte sich entschließen, ein Individuum in eine neue und alptraumhafte Gestalt zu "erträumen".

"Dream of a Mannikin", Erstveröffentlichung 1982 in ELDRITCH TALES Band 2, Nr. 3, bietet die grauenhafte Momentaufnahme einer Idee der östlichen Philosophie von einer mehrschichtigen Persönlichkeit. "Dr. Voke und Mr. Veech", Erstveröffentlichung 1983 in GRIMOIRE Nr. 5, wirft verstörende Fragen über die Natur und das mögliche Bewußtsein von Marionetten, Puppen, Schaufensterpuppen und anderen Nachbildungen des menschlichen Körpers auf, ebenso wie Fragen darüber, wie die Beziehungen dieser Nachbildungen zu ihren Schöpfern und Manipulatoren aussehen. "Notes on the Writing of Horror: A Story", Erstveröffentlichung 1985 in DARK HORIZONS Nr. 28, bietet uns genau was der erste Teil des Titels andeuten könnte: eine Reihe von Anmerkungen, wie man Horrorstories schreibt. Aber dann macht die Erzählung eine geniale Kehrtwendung und enthüllt dem Leser, daß der Erzähler der Thematik seiner Anmerkungen nicht ganz so distanziert gegenübersteht, wie er den Leser und sich selbst glauben lassen wollte. Die tiefschürfende philosophische Tendenz dieser frühen Erzählungen zeitigte den unvermeidlichen Effekt, einen Kult um Ligotti zu erschaffen. Seine Sicht des Lebens war verzweifelt, ja nihilistisch, und dies stellte sich als Verbindungspunkt zu vielen Lesern heraus, die -- auch wenn sie nicht explizit seinen Standpunkt teilten -- doch in sich einen Widerhall der schwarzen Wahrheiten fanden, die er so kraftvoll beschrieb. Einige dieser Leser hatten den verstörenden (und irgendwie erregenden) Eindruck, daß Ligotti in seinen Geschichten ihre eigenen dunkelsten Einblicke ausdrückte. Außerdem gab er seinen Erzählungen einen unverwechselbaren literarischen Stil, der zur Unverwechselbarkeit seiner Thematik paßte. In seinen eigenen Worten war er für eine Zeitlang "ein fanatischer Schüler von Literaturstilen, je bizarrer und künstlicher desto besser" (Robert Bee, "Interview with Thomas Ligotti", 1999, gefunden auf http://www.longshadows.com/ligotti/bee.html). Ein Beispiel seiner stilistischen Obsession könnte man darin erkennen, daß er -- als er die manische Erzählstimme der meisten seiner frühen Geschichten ersann -- ganz bewußt den Stil des in Rußland geborenen Autors Vladimir Nabokov imitierte (R.F. Paul und Keith Schurholz, "Triangulating the Demon: an Interview with Thomas Ligotti", ESOTERRA 8 (Winter/Frühjahr 1999): 17). Trotz dieser Nachahmung -- oder vielleicht sogar wegen ihr -- waren seine Geschichten letztendlich absolut genuin. Als sein erstes Buch mit gesammelten Erzählungen, SONGS OF A DEAD DREAMER, in einer Taschenbuchausgabe für den großen Markt im Jahre 1989 erschien (nachdem es drei Jahre vorher in einer limitierten Small Press-Edition herausgegeben worden war), hörten die Leser niemand geringeren als die Genre-Koryphäe Ramsey Campbell in der Einführung sagen: "Trotz schwacher Echos von Autoren, die er bewundert ... ist Ligottis Vision vollkommen seine eigene. Wenige andere Autoren könnten eine Horrorgeschichte in der Form von Anmerkungen zum Schreiben von Horrorgeschichten ersinnen, und ich kann mir keinen anderen Autor vorstellen, der das zustande gebracht hätte." In derselben Einführung schrieb Campbell, daß das Buch "eines der wichtigsten Horrorbücher dieser Dekade sein muß", und mit diesen Worten war die wörtliche Katze aus dem allegorischen Sack gelassen. Ligottis Leserschaft war immer noch relativ klein, verglichen mit der der Kings und Koontzs der Welt (was zu erwarten gewesen war, wenn man bedenkt, daß seine Fiktion höchst literarisch und eigenartig war und ganz bestimmt nicht für ein Massenpublikum geeignet), aber sein früher Ruf als der regierende dunkle Magus der Horrorwelt begann ihm vorauszueilen, und mehr und mehr Genre-Fans bemerkten, daß dies ein Autor war, den man einfach lesen mußte. In einem der bizarreren und amüsanteren Vorfälle seiner literarischen Karriere gab Ligottis natürliche Zurückgezogenheit, kombiniert mit dem mysteriösen Ruf, den er sich durch seine Erzählungen verschafft hatte, Anlaß für das Gerücht, daß er gar nicht wirklich existierte, sondern nur ein Pseudonym eines noch berühmteren Autors sei. Als Poppy Z. Brite in ihrem Vorwort zu Ligottis 1996 erschienenen Sammelausgabe THE NIGHTMARE FACORY schrieb: "Bist du da draußen, Thomas Ligotti?", da sprach sie Tausenden von Lesern aus der Seele, die sich dieselbe Frage stellten, Leser, die sich fragten, wie dieser Mann wirklich war oder ob er überhaupt existierte.

Zur Zeit dieses Essays (April 2000) kann sich Ligotti fünf weitere Kollektionen von Geschichten nach SONGS OF A DEAD DREAMER gutschreiben. In chronologischer Reihenfolge sind dies: GRIMSCRIBE: HIS LIVES AND WORKS (1991), NOCTUARY (1994), THE AGONIZING RESURRECTION OF VICTOR FRANKENSTEIN AND OTHER GOTHIC TALES (1994), THE NIGHTMARE FACTORY (1996) und IN A FOREIGN TOWN, IN A FOREIGN LAND (1997). Das letztere Buch wurde in Verbindung mit der experimentellen Musikgruppe Current93 geschrieben und wurde mit einer Begleit-Musik-CD veröffentlicht, die das Buch untermalte. (Da der exakte Zusammenhang zwischen dem Buch und der CD niemals bekannt wurde, ist es ebenso möglich, daß das erstere zur Untermalung der zweiteren dienen sollte.) Ligottis Geschichte "The Nightmare Network" wurde 1996 in John Pelans Anthologie DARKSIDE: HORROR FOR THE NEXT MILLENNIUM veröffentlicht, und im Jahre 1999 errang er seine bislang größte Publicity mit dem Erscheinen von "The Shadow, The Darkness" in Al Sarrantonios profilierter Anthologie 999: NEW TALES OF HORROR AND SUSPENSE neben Arbeiten von Genre-Ikonen wie Stephen King, Peter Straub und William Peter Blatty. Im Februar 2000 veröffentlichten Current93 eine CD mit dem Titel I HAVE A SPECIAL PLAN FOR THIS WORLD, deren Texte komplett von Ligotti geschrieben wurden (siehe Bibliographie).

Für die Uneingeweihten, die daran denken, in Ligottis Werk einzutauchen, oder für jene, die sich dessen jetzt noch nicht sicher sind, oder sogar für jene, die schon ein paar von seinen Sachen gelesen haben, aber noch nicht wissen, wie es weitergehen soll, gibt es eine Reihe von relevanten Faktoren zu berücksichtigen.
Zuerst einmal sollte erwähnt werden, daß Ligotti wiederholt Lovecraft und Poe als die beiden wichtigsten Einflüsse für sein Leben und Werk zitiert hat beziehungsweise viele Fans dieser Autoren in ihm einen verwandten Geist entdeckt haben. Im einzelnen hat die Verbindung mit Lovecraft Ligotti einen beständigen Zustrom neuer Leser beschert. Er spricht offen darüber, daß es Lovecraft war, der ihn anfangs dazu inspirierte, sein Glück mit dem Schreiben von Phantastik zu versuchen, und obwohl es heißt, daß Lovecrafts Einfluß auf Ligotti mehr persönlicher als literarischer Natur sei, finden viele Leser ein starkes Lovecraft-Element in vielen von Ligottis Geschichten. Ein Beispiel für einen direkten Einfluß von Lovecraft ist in GRIMSCRIBE in "The Last Feast Of Harlequin" zu finden, welche die erste von Ligottis Geschichten und "dem Gedenken von H. P. Lovecraft" gewidmet ist. Einen anderen direkten Einfluß kann man in SONGS OF A DEAD DREAMER in der Story mit dem Titel "The Sect of the Idiot" finden, wo Ligotti Lovecrafts "blinden Idiotengott Azathoth" erwähnt. Der vielleicht wichtigste und tiefgreifendste Einfluß von Lovecraft auf Ligottis Werk ist in der wiederholt verwendeten Idee eines mystischen, ontologisch absoluten Bösen zu finden -- z. B. in "Dream of a Mannikin", "Masquerade of a Dead Sword", "Nethescurial", "The Tsalal", "The Shadow, The Darkness" --, das manchmal eine Ähnlichkeit mit Lovecrafts Mythologie von gewissen monströsen außerirdischen Wesen oder Mächten aufweist, die immer wieder auf die kleine Welt menschlicher Interessen und Gefühle einwirken. Während es entscheidende Divergenzen zwischen dem Schreibstil der beiden Männer und ihren persönlichen Visionen gibt, haben viele Lovecraftfans das Gefühl, daß Ligotti in gewisser Weise "da weitermacht", wo Lovecraft aufgehört hat -- das heißt, daß Ligotti sagt, was Lovecraft gesagt haben könnte, wenn er heute noch leben würde --, und es ist nicht zu weit hergeholt, den Hauptanteil von Ligottis Phantastik als eine Art Destillation des Besten in Lovecraft zu betrachten, ausgedrückt in zeitgenössischer Sprache. Kurz gesagt, wer Lovecraft mag, wird fast mit Sicherheit auch etwas in Ligotti entdecken.

Zweitens, wenn man einen Autor entdeckt, stellt sich immer die Frage, welches Buch oder welche seiner Bücher man zuerst lesen sollte. Glücklicherweise liegt in Ligottis Fall die Antwort auf der Hand. THE NIGHTMARE FACTORY ist, wie oben erwähnt, ein Rundumschlag seines Werkes und enthält die meisten seiner Erzählungen aus den früheren Sammlungen (mit Ausnahme der AGONIZING RESURRECTION) und sogar noch sechs neue Geschichten in einem Abschnitt mit dem Titel "Teatro Grottesco and Other Tales". Somit bildet dieses Buch eine ideale Einführung in sein Werk. Der einzige Wermutstropfen ist, daß manche seiner besten und hochgelobtesten Geschichten aus früheren Sammlungen keine Aufnahme gefunden haben, z. B. seine beiden meta-phantastischen Untersuchungen aus SONGS OF A DEAD DREAMER, "Notes on the Writing of Horror" und "Professor Nobody's Little Lectures on Supernatural Horror". Ebenso fehlt der gesamte letzte Abschnitt aus NOCTUARY mit dem Titel "Notebook of the Night", der eine Reihe von 19 Prosagedichten oder Vignetten enthält, die in der Meinung des Essayisten einige von Ligottis kraftvollsten Werken darstellen. [Anmerkung von M. Angerhuber: dieser Meinung bin ich auch. Deshalb habe ich Mr. Ligotti gebeten, mir einige Vignetten für diese Website zur Verfügung zu stellen.] Außerdem ist die wunderbare Sammlung AGONIZING RESURRECTION OF VICTOR FRANKENSTEIN AND OTHER GOTHIC TALES überhaupt nicht in der NIGHTMARE FACTORY repräsentiert, welche eine Serie von Nacherzählungen klassicher Horrorgeschichten aus Literatur und Kino in Vignettenlänge enthält und vielleicht sogar Ligottis bestes Buch ist, wenn man es mit seinen anderen Büchern nur nach dem Gesichtpunkt ihres literarischen Erfolgs als Kollektionen mißt. Trotz all dem ist THE NIGHTMARE FACTORY das beste Buch, das sich ein Ligotti-Neuling kaufen kann. Es bietet einen weiten Rundumblick über seine immer wiederkehrenden thematischen und stilistischen Obsessionen, und die neuen Erzählungen in "Teatro Grottesco and Other Tales" repräsentieren ihn in der vollen Blüte seiner Erzählkraft. Das Buch enthält außerdem einen lesenswerten Einführungs-Essay von Ligotti mit dem Titel "The Consolations of Horror", in dem er die Frage erwägt, warum Leser solche Dinge lesen und Autoren solche Dinge schreiben, und woher es kommt, daß Horror "zumindest in seinen künstlerischen Ausdrucksformen einen Trost darstellen kann". Er erwägt verschiedene alternative Antworten auf diese Frage und widerlegt sie; nur um am Ende zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß Horror in der Kunst nur einen einzigen Trost enthält: "einfach daß jemand die eigenen Gefühle teilt und daraus ein Kunstwerk gemacht hat, für das man den nötigen Einblick, die Feinfühligkeit und -- ob es einem gefällt oder nicht -- die speziellen Erfahrungen besitzt, um es genießen zu können".

Ein letzter Gedanke, den der künftige Ligottileser erwägen sollte, ist, daß Ligottis Geschichten meist einen tiefen emotionellen Eindruck hinterlassen. Seine Sicht der Dinge ist ausgesprochen finster, und es ist möglich, daß der Leser von diesen Geschichten zu milden bis ernstzunehmenden Depressionen getrieben wird. Es ist sogar möglich, daß diese Geschichten einen Wandel in der Selbstbetrachtung des Lesers und seiner Sicht des Universums hervorrufen. Diese Warnung ist nicht effekthascherisch gemeint und soll auch nicht dazu dienen, neue Leser zu verschrecken. Es ist nur eine Tatsache, die auf den Erfahrungen früherer Leser basiert. Ligotti schreibt über die dunkelsten Themen mit einer erstaunlichen Kraft, und er meint immer ernst, was er sagt. Oft scheinen seine Erzählungen eine Botschaft unter der Oberfläche zu tragen, eine Art unterschwelliger Aussage, die eigentlich nicht dazu fähig sein sollte, die Barriere der wörtlichen Sprache zu durchbrechen. Diese Tatsache ist nicht unbemerkt geblieben von Fans und Gleichrangigen im Horrorbusiness. Zum Beispiel hat Brian McNaughton, Gewinner des World Fantasy Award im Jahre 1998 für seine Storysammlung THE THRONE OF BONES, seine Story "ystery orm" Ligotti gewidmet, und in der Erzählung (die in Pelans Anthologie DARKSIDE gefunden werden kann) beschreibt er Ligottis literarische Kraft folgendermaßen: "Träume in einfache Prosa zu übersetzen, in die knappe Sprache eines postliterarischen Amerika, schien ihm unmöglich zu sein, bis er die Erzählungen von Edward F. Tourmalign [ein fiktiver Ligotti] las. In Tourmaligns Geschichten nahmen vom Wind davongewehte Blätter Papier, klirrende Laternenpfähle in leeren Straßen, Neonschriften mit fehlenden Buchstaben -- solche banalen Bilder im wachen Leben sowie im kalten Druck die grauenhafte Signifikanz an, die sie so oft in Alpträumen ausstrahlten. Es ist von so vielen pathetischen Anhängern behauptet worden, daß man sie niemals nachts lesen sollte, aber das machte keinen Unterschied, wenn man Tourmalign las, denn sein Werk war wie ein Gift, das das Blut infizierte und die Struktur des Gehirns veränderte."

Um diesen Gesichtspunkt aus einem von Ligottis eigenen Werken zu illustrieren, sollte der Leser die folgende lange Passage aus "The Shadow at the Bottom of the World" überdenken, in welcher der Erzähler in Vertretung eines namenlosen Landstädtchens ungewöhnliche Träume während einer unnatürlichen Verlängerung des Herbstes erlebt: "Im Schlaf verschlang uns das fieberhafte Leben der Erde, und wir fanden uns in einer überreifen, halbverfaulten Welt des merkwürdigen Wachstums und der Wandlungen wieder. Wir nahmen unseren Platz in einer dunkel schwellenden Landschaft ein, wo selbst die Luft die rötlichen Farbschattierungen der Erntezeit hatte und jedes Ding die verknitterte Fratze und die Altersflecken des Verfalls trug. Das Gesicht jener Landschaft setzte sich aus einem Knüpfwerk von Gesichtern zusammen, die von widerwärtigen Impulsen verdorben worden waren. Groteske Grimassen formten sich aus den finsteren Falten uralter Rinde und den Kringeln trockenen Laubes; unförmige, mißgebildete Züge schielten aus feuchten Erdfurchen; und die leeren Hülsen von Spreu und Körnern schienen eine Unmenge schief grinsender Münder zu bilden. Alles trug eine verunstaltete Maske, bemalt mit den Farbtönen eines rostähnlichen Aussatzes -- Farben, die sich mit solch virulenter Ansteckungskraft ausbreiteten und so reich und kraftvoll waren, daß alle Dinge von dieser Fülle erzitterten. Aber trotz aller derben Greifbarkeit lag etwas Gespenstisches im Herzen dieser Träume. Es blieb im Dunkeln wie etwas, das sich zwar in der Welt der Formen aufhielt, aber selbst nicht zu dieser gehörte. Aber es entstammte auch keiner anderen bekannten Welt; es sei denn jenem Reich, das uns von einer Herbstnacht angedeutet wird, wenn die Felder struppig im Mondlicht liegen und ein wilder Geist von den Dingen Besitz ergriffen hat -- eine Anomalie, die einem Abgrund feuchter und fruchtbarer Schwärze entsprießt und sich wie eine hohläugige, heulende Bösartigkeit in die kalte Leere des Raums und das fahle Licht des Mondes reckt." [Übersetzung der Passage: Angerhuber]

In dieser Passage kann man deutlich Ligottis Magie spüren. Seine sorgfältige Wahl von Rhythmus, Ton und Vokabular erzeugt einen oneirischen Effekt, so daß jene "überreife, halbverfaulte Welt", die ein geisterhaftes Wesen andeutet, eine "Anomalie, die einem Abgrund feuchter und fruchtbarer Schwärze entsprießt" im Kopf des Lesers mit der Welt der Träume und Alpträume identifiziert wird. Hier und auch anderswo ist Ligotti bemerkenswert erfolgreich in seinem Versuch, die Sprache zum Ausdruck dieser am schwersten faßbaren Stimmung zu verwenden.

Philosophischer ausgedrückt, erkennen wir drei primäre Themen (auch wenn da sicherlich noch mehr zu entdecken sind), die sich bei einer Gesamtbetrachtung aus Ligottis Werk ergeben: erstens die Sinnlosigkeit -- oder möglicherweise Bösartigkeit -- des Realitätsprinzips hinter dem materiellen Universum; zweitens die immer wiederkehrende Instabilität dieses Universums der festen Formen und Konzepte, wenn es zusammenzubrechen oder zu etwas Monströsem und Unvorhersehbaren zu mutieren droht; und drittens die Alptraumhaftigkeit bewußter persönlicher Existenz in so einer Welt. Die Geschichten in dem "Teatro Grottesco and Other Tales"-Abschnitt von THE NIGHTMARE FACTORY bieten ein gutes Beispiel für die Verwendung dieser Themen. In mancher Weise sind dies die persönlichsten von Ligottis Geschichten, und als solches bieten sie das literarische Äquivalent für eine intravenöse Dosis dieser Stimmung. "The Bungalow House" ist in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert, da in dieser Geschichte der Erzähler einen Standpunkt einnimmt, den man für das philosophische und künstlerische Credo Ligottis halten könnte, wenn es ein solches gäbe. Als er eine Reihe von Performance Art-Audiotapes in der Form von "Traummonologen" entdeckt, ist der Erzähler überrascht und dankbar und auch etwas verstört zu entdecken, daß ein anderer Mensch seine eigene Vorliebe für "die eisige Öde der Dinge" teilt. Er reflektiert: "Ich wollte glauben, daß dieser Künstler den Träumen und Dämonen allen Gefühls entkommen war, um die krankhaften und verdorbenen Freuden eines Universums zu erforschen, wo alles auf drei ausschließliche Prinzipien reduziert ist: erstens, daß es keinen Platz gibt, wo du hingehen kannst; zweitens, daß es nichts gibt, was du tun kannst; und drittens, daß es niemanden gibt, den du verstehst. Natürlich wußte ich, daß diese Ansicht eine Illusion wie jede andere war, doch es war eine, die mich so lange und so gut aufrecht gehalten hat -- so lange und so gut wie jede andere Illusion und vielleicht länger, vielleicht besser." [Übersetzung von The Bungalow House: M. Siefener]

Diese Passage erinnert an Nietzsches Behauptung in DIE GEBURT DER TRAGÖDIE, daß es "nur ein ästhetisches Phänomen ist, daß das Leben und die Welt für ewig aneinander justiert sind". In einem Universum, das auf diese "drei ausschließlichen Prinzipien" reduziert ist, sind die einzigen Freuden, deren man sich mit Gewißheit erfreuen kann -- das heißt, die einzigen Freuden, die man ohne die Bedrohung von Enttäuschung und schmerzhafter Desillusionierung genießen kann -- rein ästhetischer Natur. Zugleich ist sich der Erzähler dessen bewußt, daß diese Haltung auch nur eine Illusion darstellt, und daß er nur wegen ihres bewährten Nutzens an ihr festhält. Aber letztendlich genügt nicht einmal dieses peinlich ausgearbeitete Netz von psychischer Verteidigung, um ihn vor der äußersten Verzweiflung abzuschirmen. Nach einer Reihe von verstörenden Erlebnissen findet er sich außerstande, weiterhin Freude an den Werken dieses neuen Künstlers zu emfpinden, und wird mit dem verzweifelten Bedürfnis zurückgelassen, Befreiung von "dieser herzzereißenden Traurigkeit zu erlangen, an der ich jede Minute des Tages (und der Nacht) leide, diese tötende Traurigkeit, die sich anfühlt, als werde sie mich nie mehr verlassen, egal wo ich hingehe, oder was ich tue, oder wen ich je verstehen mag."

Diese Idee ist fundamental für Ligottis schreiberisches Universum: es gibt einfach keinen Trost, weder hier oder in irgendeiner anderen Welt. Aber dies ist auch nicht nur eine literarische Affektiertheit; Ligotti gebraucht das Vehikel der Horrorliteratur, um seinen eigenen Lebenserfahrungen Ausdruck zu verleihen. Als er von einem Interviewer über die Verbindung zwischen seiner Schreiberei und seiner persönlichen Sichtweise des Lebens befragt wurde, antwortete er: "Meine Sichtweise ist, daß es eine verdammte Schande ist, daß sich jemals auf diesem oder auf einem anderen Planeten organisches Leben entwickeln konnte, und daß der Schmerz, den lebende Kreaturen notwendigerweise erdulden, dieses Leben zu einem ewigen Alptraum macht. Diese Sichtweise liegt fast allem zugrunde, was ich geschrieben habe." (Robert Bee, "Interview with Thomas Ligotti"). Diese enge Verbindung zwischen Ligottis persönlicher Sichtweise und seinen Erzählungen bewahrheitet sich sogar in seinen extravagantesten phantastischen Schöpfungen. In "Nethescurial" schreibt er beispielsweise über einen uralten pantheistischen Kult, dessen Mitglieder irgendwann in grauer Vorzeit entdeckten, daß ihre Gottheit böse war, und daß ihre Religion in Wirklichkeit eine Art "Pandämonismus" war. Als Kommentar zu dieser Idee hat Ligotti gesagt: "Es scheint mir, daß die Lebewesen auf diesem Planeten durch die Hand einer unersättlichen und furiosen Schöpferkraft leiden -- die auf verschiedene Weise als Anima Mundi, Elan Vital, Der Wille (Schopenhauer) benannt wurde --, die kein Interesse an uns im Herzen trägt, oder auch kein Interesse an irgendeiner anderen Gattung, was das betrifft, da sie mehr Lebensformen ausgelöscht als erschaffen hat. Aus der Sichtweise eines Individuums, das in dieser Welt des Überflusses lebt, muß diese Kraft notwendigerweise unserem Wohlbefinden und unserer geistigen Gesundheit abträglich erscheinen, auch wenn fast niemand diese Sichtweise teilt." (Interview mit Thomas Ligotti in dem Kommentar zu "Nethescurial" auf der Website Thomas Ligotti Online).

Schlußendlich ist es diese direkte Verbindung zwischen Ligottis persönlicher Sichtweise und seiner phantastischen Welt, die seinen Werken solche Kraft verleiht. Seine technischen literarischen Fähigkeiten sind wirklich wunderbar, aber ohne die Kraft seiner Vision, die ihnen Leben einhauchen würde, würden sie nichts weiter als eine literarische Sound-and-Lightshow darstellen. Er hat sich selbst einer Karriere der Alpträume geweiht, einer Karriere, in der er in literarischer Form den Dämonen Ausdruck verleiht, die ihn die meiste Zeit seines Erwachsenendaseins verfolgt haben. In Interviews hat er ganz offen von seinem eigenen "ehemaligen Verlangen nach 'Erleuchtung durch Finsternis'" gesprochen (Bee, Interview mit Thomas Ligotti), und die Frucht dieses Verlangens kann man in der Tatsache erkennen, daß er durch seine Phantastik seinen Lesern eine ästhetische Annäherung an diese Erleuchtung bietet. Christine Morris sagte in DAGON 22/23: "Empfänglicher Leser, sei vorgewarnt -- wenn du aus anderen Gründen liest als um purer Unterhaltung willen, wenn du liest, um herausgefordert oder erleuchtet zu werden, wenn du liest, um nicht nur Tagträumereien, sondern Nachtmahre zu entdecken -- dann könnten Thomas Ligottis Geschichten auch dich verändern." Für die Leser, die bereits "die Einsicht, Feinfühligkeit und -- ob es einem gefällt oder nicht -- die speziellen Erfahrungen besitzen, um (Ligottis Visionen) genießen zu können", könnte diese Veränderung bereits im Gange sein, wenn sie die Bücher dieses Meisters entdecken. In solch einem Fall dient die Phantasie nur als Katalysator. Vielleicht werden Ligottis Geschichten immer so lebhaft zu diesen auserwählten Personen sprechen, in denen die Saat der Dunkelheit bereits gesät worden ist. In ihrer eigenen halb-unbewußten Pilgerfahrt auf eine dunkle Erleuchtung zu, werden diese feinfühligen Sucher Ligotti willig in die Tiefen des Alptraums folgen, und dort, in der widerhallenden Stille des schweigenden, starrenden Abgrunds werden sie herausfinden, daß sie auf die strahlende schwarze Reflexion ihrer eigenen verschatteten Seelen blicken.

© Matt Cardin 2000
Dieser Essay erschien zuerst im April 2000
in 'The GrimScribe in Cyberspace' (a tribute to Thomas Ligotti) Spezialausgabe von TERROR TALES, John B. Ford
und wurde uns mit freundlicher Genehmigung vom Autor überlassen.
Übersetzung des Essays: M. Angerhuber
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