DAS ZEICHEN
Peter Nomigkeit


Du hast das geheime Zeichen in der Stadt gesehen, da und dort. Es existiert nicht außerhalb von Städten. Im offenen Land vermag es seine Macht offenbar nicht zu entfalten, doch in den Siedlungen, und vor allem, je älter, je enger sie sind, erscheint es hier und da, um Dich auszuschließen. Nicht nur Dich: grundsätzlich jeden. Wenn Du Dich auf die richtige Art bewegst, kommst Du vielleicht daran vorbei. Bezeichnenderweise braucht man für das Erlernen der richtigen Art mehrere Monate, manche vielleicht sogar ein Jahr, während die andere Art oft nach einigen Wochen beherrscht wird. Doch vergeblich.
Das Zeichen hat eine tiefe Symbolik. Es hat einen spirituellen Verwandten, der Dich zwingt, einen eingeschlagenen Weg einzuhalten: wenn Du es erblickst, darfst Du nicht umkehren. Das geheime Zeichen hingegen verwehrt Dir jeden anderen Zugang. So sind Deine Wege vorgegeben.
Wenn Du nachts durch die Stadt gehst, wirst Du es an mancher Ecke entdecken. Aber auch tagsüber ist es zu finden. Mitunter staunst Du vielleicht über die Sorgfalt, mit der es angebracht wurde. Andere, ebenso verstörende Zeichen sind oft an Türen oder Hauswände gemalt. Dieses nicht. Seine Farbe loht Dir entgegen, springt Dich an: dieser Weg sei Dir verwehrt. Bleib weg!
Allmählich vermagst Du ein System zu erkennen, eine bösartige Abweisung, die Dich letztendlich stets vom alten Kern der Stadt fernhalten will. Du ahnst, daß die Mächte, die das Zeichen angebracht haben, eigene, dunkle Pläne verfolgen. Manchmal, so wird es berichtet, tauschen sie die Zeichen aus, geben hier einen Weg frei und sperren einen anderen, willkürlich und unangekündigt.
Wenn Du das Zeichen ignorierst, wirst Du bestraft. Das ist bekannt. Aus Angst vor der Strafe meiden viele die Wege, die vom Zeichen beschützt werden. Nur wenige fragen, was dort vorgeht. Es ist mitunter gelungen, unter dem Bann des anderen Zeichens auf Umwegen doch den fraglichen Weg zu bereisen, doch damit tauscht man nur einen Zwang gegen einen anderen aus.
Man hat festgestellt, daß die beiden Zeichen nahezu immer gemeinsam, wenn auch in größerem Abstand voneinander, auftauchen. Ansonsten haben sie weder in der Symbolik noch in der Farbe irgendwelche Gemeinsamkeiten - so als wären sie von völlig verschiedenen Mächten ersonnen worden. Und doch scheint es offenkundig, daß nur eine einzige Macht dahintersteht, sie zu zeichnen und für ihre Überwachung zu sorgen. Und das ist das Schrecklichste an diesen Zeichen: sie üben selbst dann ihre Macht aus, wenn sie - vielleicht aus einem kosmischen Irrtum heraus - einen ganz anderen Weg hüten sollten! Doch ihre Präsenz reicht schon aus, um Dich abzuweisen. Der Grund ist irrelevant.
Etliche Einwohner, vor allem in recht alten Städten, hegen schon seit längerem die Befürchtung, daß das Zeichen an immer weiteren Ecken erscheinen wird (es sind stets Ecken, niemals gerade Strecken, wo es zu finden ist), worauf niemand mehr die Stadt verlassen oder betreten kann, es sei denn auf die mühevollste Art. Die Furcht vor der Gefangenschaft in der eigenen Stadt ist gewiß nicht unbegründet, und der Alptraum von immer mehr labyrinthischen Gassen und Straßen, die letztendlich nur im Kreis führen, hat viele bereits dazu bewegt, auf das offene Land zu fliehen, wo das Zeichen noch keinen Bestand hat.
Und so lehre ich Dich das Zeichen, auf daß Du es rechtzeitig zu erkennen vermagst: es besteht aus einem Kreis, dessen Mitte von einem horizontalen Balken durchzogen ist. So einfach und doch so schrecklich, so klar die Warnung: "Wähle nicht diesen Weg. Doch hast Du ihn dennoch beschritten, so gibt es kein Zurück."

 

© 2001 Peter Nomigkeit
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