Meine Vorliebe für die
Farbe Weiß stieß bei meinen Freunden und Bekannten im Allgemeinen auf Unwillen
und Widerstand. Zunächst wurde sie als vorübergehende Modeerscheinung angesehen,
doch nachdem jedes Kleidungsstück, das ich besaß durch eines weißer Farbe
ausgetauscht worden war, begannen sie mich zu kritisieren. Meine Freunde
und Bekannte hatten offenbar beschlossen, dass diese Vorliebe von einer
Persönlichkeitsänderung herrühre, die ich ihrer Meinung nach durchmachte,
seit ich mich "diesen Leuten" angeschlossen hatte. Sie forderten mich wiederholt
auf, mein seltsames Verhalten zu durchdenken und mir einzugestehen, dass
diese Leute einen schlechten Einfluss auf mich hätten. Zunächst versuchten
sie mir die Obsession, wie sie es gern nannten, mit Argumentationen und
allen möglichen Tricks auszureden, später benutzten sie sogar Täuschungen,
"freundschaftliche" Erpressungen und schließlich Sabotage. Die Vorliebe,
die sich nicht nur auf die Wahl meiner Kleidung auswirkte, sondern mich
auch meine Nägel lackieren und meine Haare färben ließ, sei nicht normal,
so argumentierten sie, ja sie sei sogar in höchstem Maße ungesund. Weiß
sei zwar im Prinzip sehr freundlich - wobei sie mit "im Prinzip" einer ihrer
Lieblingsphrasen benutzten - wäre aber in dieser Menge und Absolutheit auftretend,
abschreckend kalt und tot.
Es schien, dass sie mit
dem Tod einen Vergleich gefunden hatten, der ihnen in ausreichendem Maße
passend erschien, denn der Tod kehrte in Laufe der schier endlosen und nervenaufreibenden
Diskussionen immer wieder, wurde erwähnt, beschrieben, ausgemahlt und schließlich
in all seiner kalten Sterilität als fruchterregender Endpunkt meines Verhaltens
aufgezeichnet. Weiß sei die Farbe eines Leichentuches, so sagten sie, also
nichts womit man sich ausschließlich umgeben sollte.
Hätten meine Freunde
und Bekannte erahnt, wo meine Vorliebe für die weiße Farbe ihren Ursprung
hatte, wären sie vielleicht eher bereit gewesen sie zu akzeptieren, und
doch wäre es mir wahrscheinlich unmöglich gewesen, ihnen diesen Ursprung
hinreichend zu verdeutlichen, so dass der Versuch gar nicht erst unternommen
wurde.
In einer nicht näher
zu beschreibenden Vergangenheit hatte ich begonnen von einem Ort zu träumen,
den ich irgendwann beschloss "die weiße Stadt" zu nennen. In diesen Träumen
durchwanderte ich die Straßen einer exotischen Stadt, weiße Häuser verschiedenster
Baustile drängten sich rechts und links aneinander. Es schienen normale
Träume zu sein, die einem gemeinsamen Thema folgten, wie es die Träume meiner
Kindheit häufig getan hatten, doch irgendwann sollten mich meine Schritte
zu einem Ort führen, den ich schon einmal betreten hatte. Meine Vorliebe
für marmorne Engel hatte mich in einer der früheren Traumperioden auf eine
Art Wasserspeier aufmerksam werden lassen, der mit angezogenen Knien auf
der Ecke einer Mauer hockte und die gegenüberliegende Fensteröffnung mit
kindlich schönen Gesicht betrachtete. Die steinernen Flügel an dem ansonsten
grotesk verformten Körper waren mit einer Detailfülle gefertigt, dass ich
mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, die Federn würden sich im Wind
bewegen. Ich erkannte diese Figur wieder, als ich das zweite Mal die Weggabelung
betrat.
Ein Traum vereinfacht.
Der Träumende bekommt Sinneseindrücke vorgelegt, die scheinbar zufällig
aus dem vielfältigen Sammelsurium an Eindrücken herausgegriffen wurden,
wie sie die wache Realität in der gleichen Situation vorlegen würde. So
ist es nach dem Aufwachen beispielsweise oft unmöglich die grauenhafte Wesenheit
zu beschreiben, vor der man die halbe Nacht panikartig geflohen ist. Anstelle
der vorenthaltenen Informationen bekommt der Träumende anderes Wissen übermittelt.
Ingesamt entsteht so ein unvollständiges Bild einer oftmals ohnehin grotesken
Situation. So war es mir zwar unmöglich zu sagen, wie das grauenhafte Ding
aussah, vor dem ich floh, aber mir war jedes Mal durchaus bewusst, dass
es meinen Tod oder gar Schlimmeres bedeuten würde, sollte es mich zu fassen
bekommen. Oft konnte ich sogar ungefähr seine Größe einschätzen, ohne es
je gesehen zu haben. In anderen Nächten bekam ich nur einzelne Bilder, Eindrücke
oder Namen vorgelegt, die völlig zusammenhanglos doch ein fast komplettes
Ganzes bildeten. Mit Schrecken erinnere ich mich an einen Mörder mit Namen
Lloyd D, der mehrere Male nur mit seinem Namen bekleidet meine Nächte heimsuchte.
Der Engel, dem ich nun
lange nach der Zeit der Monster und Mörder zum zweiten Mal gegenüberstand,
hätte ein Gebilde meiner eigenen Phantasie sein können, eingebaut in einen
Traum und wiedergekehrt. Ich begann jedoch auch andere Gebäude und Plätze
wiederzuerkennen. Obwohl mir die häufig sehr hohen Häuser der weißen Stadt
die freie Sicht und somit einen Überblick verwehrten, konnte ich doch immer
wieder markante Punkte ausmachen, die mir helfen sollten mich zu orientieren,
und die mir klar machten, dass meine Reisen in die weiße Stadt nicht mit
normalen Träumen zu vergleichen waren. Der Filter, durch den wir die nächtlichen
Eskapaden unserer Träume normalerweise wahrzunehmen pflegen, schien aber
trotz des merkwürdigen Realismus Anwendung zu finden, denn immer wieder
sollte mir die Stadt Dinge vorenthalten und nur nach und nach in kleinen
Brocken preisgeben.
Die Begegnung mit dem
deformierten Engel mit dem schönen Gesicht hatte mich darauf aufmerksam
gemacht, dass sich die Stadt von normalen Träumen unterschied und ließ mich
meine Umgebung in anderer Weise betrachten, als ich bis dahin getan hatte.
Aber mit dem Erkennen und dem neuen Bewusstsein, mit dem ich meine Umgebung
nun wahrnahm, und mit der Frage, wer diese Statue erschaffen haben könnte,
und ob das Fenster, in dass der Engel Tag und Nacht starrte, bereits existiert
hatte, als dieser aufgestellt wurde, kam auch das Bewusstsein, dass die
Stadt tot war. Keine Menschenseele war mir auf meinen Wanderungen begegnet,
nicht einmal eine Maus hatte meinen Weg gekreuzt; kein Fiepen von Ratten,
kein Zwitschern von Vögeln, kein Atmen außer meinem eigenen war zu hören,
kein Geruch war wahrzunehmen, außer dem von Staub und Stein.
Ich begab mich auf die
Suche nach einem Aussichtspunkt, der mir helfen sollte mich zu orientieren.
Ein Blatt Papier und ein Bleistift lagen jederzeit neben meiner Schlafstätte
bereit, damit ich nach meinen Reisen Notizen machen konnte, um auf diese
Weise eine Art Karte zu erstellen. Ein Aussichtspunkt würde mir helfen die
Karte zu vervollständigen. Doch leider sollte es mir nicht gelingen einen
solchen Punkt zu finden - die Natur der Stadt sollte es verhindern - und
so blieb die Karte immer nur eine ungenaue Abschätzung und ein sehr schlechtes
Abbild der Wirklichkeit.
Ein schier endlos hoher
Turm stand zwischen einer marmornen Kirche gotischer Bauart und einem Gebäude,
dessen Inneres entfernt an ein römisches Bad erinnerte. Viele Male bestieg
ich den Turm in der Hoffnung, aus einem der Fenster des Turms den gewünschten
Überblick zu erlangen. Seine weißen unmöblierte Hallen waren staubig. Ich
konnte meine eigenen Fußspuren verfolgen und sogar erahnen, wie viel Zeit
seit meinem letzten Besuch vergangen war, denn sie verblassten mit der Zeit,
wurden nach und nach mit neuem Staub überdeckt. In einer Ecke der größten
Halle des Erdgeschosses stand die Statue einer jungen Frau mit dem Gesicht
zur Wand gedreht. Sie befand sich im Schatten außerhalb der Reichweite der
großen Fenster und war mir bei meinem ersten Besuch gar nicht aufgefallen.
Ihr Kopf war leicht gesenkt, so dass ihre Stirn fast die steinerne Wand
berührte, und ihre Hände waren wie zum Gebet gefaltet. Jede Nacht, wenn
ich den Turm betrat, bevor mich meine Schritte zum unbeleuchteten Treppenaufgang
führten, trat ich kurz an sie heran und sprach einige leise Worte zu ihr.
Der Aufstieg die Treppen
hinauf wurde mir nicht nur durch die völlige Lichtlosigkeit erschwert, sondern
auch durch die Treppenstufen selbst, die ihre Schritthöhe völlig zufällig
zu ändern schienen. Es gab zwei Fenster, die auf meinem Weg nach oben für
mich erreichbar waren, doch selbst das höhere von beiden blickte nur auf
die Wand der Kirche und mein weiterer Weg führten nie zu einem erneuten
Fenster, sondern verlief sich im Dunkeln; die nächtlichen Reisen endeten
immer, ohne dass ich dem gewünschten Ziel Nahe gekommen wäre. Meine Fragen
an das Mädchen im Saal blieben unbeantwortet.
***
Meine Freunde und Bekannte
hatten sich irgendwann anderen Dingen zugewandt; sie waren ersetzt worden
durch Menschen, die auf Äußerlichkeiten wie Farben keinen Wert mehr legten.
Gemeinsam konsumierten wir chemische Substanzen und erzählten von unseren
Träumen. Des nächtens durchwanderte ich die Stadt und versuchte an Hand
von Eckpunkten und auffälligen Gebäuden einen Überblick über die Geographie
zu bekommen und einen Plan zu zeichnen. Nach und nach, Traum für Traum,
vervollständigte sich die Karte. Das römische Bad, auf das ich schon einige
Male aus dem "Turm der dunklen Treppen" einen ausführlichen Blick geworfen
hatte, stand ganz nahe der Stadtmauer. Aus Mangel an anderen Anhaltspunkten
bezeichnete ich diese Seite der Stadt als Norden. Es gab keine Sonne, nach
der ich mich hätte orientieren können, und der Mond, von dem ich den Eindruck
bekam, er sei außer mir das einzig lebende Wesen in der Stadt, hing hungrig
immer an der gleichen Stelle am Himmel und wartete auf ein Opfer, das ihm
nahe genug kam. Im Süden der Stadt stand ein riesiges Amphitheater. Die
Bühne befand sich viele Meter unter der Erdoberfläche und war mit dieser
durch steinerne Stufen verbunden, auf denen sich keine Zuschauer befanden,
genauso wenig wie Schauspieler die Bühne betraten. Das steinerne Loch, das
das Amphitheater bildete war auch von weitem sehr leicht wiederzufinden,
denn neben ihm stand ein weißer Koloss, der mit übergeschlagenen Beinen
auf einem weißen Stuhl saß. Die Statue hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck
und betrachtete ihren Stiefel mit krampfhafter Konzentration. Das Modell,
das einst für den bestimmt 15 Meter großen Riesen modellgestanden hatte,
schien sich nicht sicher gewesen zu sein, wem dieser Stiefel gehörte und
ob der Fuß darin auch sein eigener sei. Im Westen befand sich ein Hügel,
auf dem eine Bücherei ungeahnten Ausmaßes gebaut war. In dieser Bücherei
hielt ich mich sehr lange auf, in der Hoffnung etwas über die Geschichte
der Stadt herauszufinden, und hier war auch der Ort, an dem ich bemerkte,
dass die Stadt wuchs. Ich trat aus dem Hinterausgang des Gebäudes auf die
Straßen, auf denen ich so viel Zeit verbracht hatte, nur um mich vor einer
Häuserfront wiederzufinden, die es vorher hier nicht gegeben hatte. Die
Wand war schmucklos, hoch und hässlich, wie man es vielleicht bei einem
60er Jahre Plattenbau erwartet hätte. Sie stach aus dem Gesamtbild heraus,
wie ein Stachel, der sich in die empfindliche Haut eines Augenliedes bohrt.
Das Gebäude war nicht komplett, es war nur teilweise aus der Stadtmauer
herausgewachsen, als diese nach hinten gewichen war; die steinernen Möbel,
die sich in den Räumen des Hauses befanden, waren teilweise noch halb mit
der Stadtmauer verschmolzen, die sich quer durch die Zimmer zog. Durch genaue
Beobachtung fand ich heraus, das die Stadtmauer sich jeden Tag fast einen
Zentimeter verschob und Teile von Gebäuden, Möbelstücke und - sehr selten
- auch Statuen von unterschiedlicher Größe gebar.
Wohin zog sich die Mauer
zurück? Diese Frage setzte sich in meinem Kopf fest und beschäftigte mich
zunehmend. Ein Abschreiten der unüberwindbaren Steinschicht brachte keinen
Ausgang aus der Stadt zum Vorschein, weshalb ich mich mit noch mehr Fanatismus
in die Hallen der Bibliothek auf dem Hügel stürzte, um in quadratischen
Lesezimmern, die sich um den rechteckigen Hof anordneten, stundenlang in
Schriftrollen aus eigenartig samtigem Material, Notizbüchern und alten Folianten
herumzuschnüffeln.
"Tatsache aber ist, dass
die Droge, sobald sie in die Blutbahn gelangt ist", stand in einem Buch,
das ich nach langer Suche gefunden hatte, "sich auf den Weg zum Gehirn macht,
um sich dort festzusetzen und ihre eigentümliche Wirkung zu entfalten. Durch
Unterdrückung und Stimulation unterschiedlichster Gehirnfunktionen kann
sie die von den Konsumenten angestrebten Visionen erzeugen, die zwar unbestrittenermaßen
eine Besonderheit darstellen, aber nichtsdestotrotz von Wirkungen begleitet
werden, die als gefährlich angesehen werden müssen, so dass ein Konsum der
Substanz als nicht erstrebenswert betrachtet werden muss. Die Art der Visionen,
wie immer wieder von Verteidigern der Droge vorgebracht wird, ist wahrhaftig
ungewöhnlicher Natur. Naturvölker verwenden die Droge auch heute noch in
der Stammesmagie. Schwarzafrikanische Schamanen benutzen den Saft, aus dem
der gefährliche Stoff gewonnen wird, in der Wahrsagerei. In manchen Stämmen
werden wichtige Entscheidungen nur mit Hilfe der erzeugten Visionen entschieden.
Erstaunlicherweise scheinen die ermittelten Ergebnisse einen hohen Wahrheitsgehalt
aufzuweisen. Wissenschaftler aller Nationen forschen an diesem Phänomen,
doch selbst wenn alle möglichen psychologischen und psychischen Phänomene,
wie erhöhte Konzentrationsfähigkeit, veränderte Gedankenstruktur oder ungewöhnliche
Betrachtungsweisen von Problemen, in Betracht gezogen werden, können bestimmte
Ergebnisse der Forschungen nicht erklärt werden. Welche Wirkung die chemische
Substanz auch immer auf das Gehirn hat, sie scheint nicht gänzlich negativer
Natur zu sein. Junkeys und New Age-Anhänger der ganzen Welt verteidigen
den Konsum der Droge seit Jahren mit dem Hinweis auf besagte Schamanen,
die mit Hilfe der Droge immer wieder Entscheidungen für ihr Dorf treffen,
die ohne ihre Hilfe scheinbar nicht hätten getroffen werden können, und
die die Droge teilweise seit Jahrzehnten in Ritualen verwenden und sich
dennoch bester Gesundheit erfreuen. Die Argumentationen gehen also in die
gleiche Richtung, wie sie auch Verteidiger des Tabakkonsums immer wieder
einschlagen. Leider kann aber an Einzelbeispielen oft genug nicht die Gefährlichkeit
von Drogen festgemacht werden. Tabak wie auch Alkohol zeigen, dass, obwohl
einzelne Personen, teilweise sogar die Mehrheit der Konsumenten, keinen
Schaden davon zu nehmen scheinen, die Droge doch erheblichen Schaden anrichten
kann und schon mehr als einen Menschen zu Grunde gerichtet hat. Unsere Substanz
hat die unangenehme Eigenschaft, die erzeugten Visionen nicht nur erstaunlich
lebensecht erscheinen zu lassen - sie sind während des Rausches nicht von
der Wirklichkeit zu unterscheiden - sondern eben diese "Echtheit" im Laufe
der Zeit zu verstärken und in das normale Leben einfließen zu lassen. Der
Konsument wird fast unweigerlich irgendwann in einer Phantasiewelt gefangen,
aus der er unter Umständen nicht mehr entkommen kann. Diese Phantasiewelt
schlussendlich wird, je länger ihr der Konsument der Droge ausgesetzt ist,
immer gewalttätiger und zerstörerischer. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich
auf diesen Einfluss, aber er wird irgendwann unweigerlich von den Visionen
zerstört werden. Dieses sollte man all den Esoterikern und Möchtegern-Heiligen
vorhalten, die immer wieder versuchen glaubhaft zu machen, die Phantasiewelt,
in die der Konsument durch die Substanz geschleudert wird, sei keine Phantasiewelt,
sondern ein real existierender Ort, an den der Mensch nur mit Hilfe der
Droge gelangen kann."
Ich hatte das Buch aus
der Hand gelegt, da vernahm ich ein Geräusch, das ich, wie mir jetzt bewusst
wurde, schon immer in der Stadt gehört hatte. Mein Geist schien erst jetzt
bereit zu sein das Geräusch umzusetzen und meinem Bewusstsein zuzuspielen.
Das Geräusch war ein metallisches Schaben und Klicken, Rasseln und Kratzen,
wie es etwa von einem Kettenkarussell in großer Entfernung verursacht würde.
Meinem geistigen Auge entstanden Bilder von riesigen Zahnrädern, die rostig
ineinander griffen und eine noch größere Struktur mit unbekanntem Zweck
in Bewegung setzten.
Auf meiner Karte gab
es einen großen weißen Fleck, auf dem ich einen Jahrmarkt entdeckte. Die
Maschine stand in seiner Mitte. Sie schien mit dem kleinen Rummelplatz,
in dessen Mitte sie stand, nichts zu tun zu haben. Sie stand zwischen vielen
kleinen Holzbuden und Holzkarussells, ohne sichtbaren oder scheinbaren Zweck,
nichts gemein mit den Dingen um sie herum.
Ein kleines Karussell
aus Holz stand in meiner Nähe. Um die Säule in der Mitte war ein Loch im
Holzboden, welches bis auf den Boden reichte. Mehrere Handgriffe ungefähr
auf Hüfthöhe waren daran. Die Farbe der Pferde war schon vor langer Zeit
verblichen und größtenteils abgeblättert. Bei genauerer Betrachtung sah
ich, dass die Gesichter der Pferde schmerzverzerrt waren, Schaum schien
an ihren Nüstern zu kleben. Der Künstler gab ihnen einen Ausdruck von Panik;
nur etwas sehr Großes oder sehr Bösartiges hätte eine solche Panik in den
Vorbildern für diese Miniaturen auslösen können, so zumindest schien es
mir. Kinder mussten johlend auf den Pferden gesessen haben, während es sich
langsam drehte. Vielleicht hatten andere Kinder in der Mitte gestanden und
es schwitzend in Bewegung gesetzt, während sie von Erwachsenen beobachtet
und angetrieben wurden, vielleicht wurde das Karussell aber auch von missgestalteten
Zwergen bedient, die zu sonst keiner anderen Aufgabe fähig gewesen wären.
Angewidert entfernte
ich mich von dem Karussell und näherte mich weiter der Mitte des Platzes
und der grausigen Maschine. Ich passierte den kleinen Wagen einer Wahrsagerin.
Ein offenes Fenster erlaubte einen Blick in das Innere des Wagens und entblößte
seine leere staubige Bauchhöhle. Auf dem Fensterbrett, auf dem eine alte
Frau mit ihrem Kopftuch gelehnt haben mag (vielleicht auch eine rassige
Schönheit mit dunklen Augen oder das steife Gesicht einer dieser hölzernen
Köpfe, die man in Wahrsagerautomaten finden kann), lagen noch einige Karten.
Auch wenn ich mich in meinen wachen Zeiten nie mit so etwas beschäftigte
hatte, so erkannte ich sie doch als Tarotkarten. Langer Gebrauch hatte sie
abgewetzt und ihre Ecken eingeknickt. Nur eine Karte lag mit dem Bild nach
oben, und von ihr grinste mich "der Magier" an, der mir mit ausgestreckter
Hand einige Kräuter anbot.
Ein Kettenkarussell war
mit der Maschine verbunden und drehte sich rasselnd und fiepend in monotonem
Tanz. Eine Holztafel mit einer Zeichnung von einem Muskelmann ohne Kopf.
Lass Dich fotografieren! Ehemalig bunte Holzbuden und Holzwagen, die mit
geschlossenen Läden die Wege säumten. Ein eingezäuntes Rondell zum Ponyreiten.
Ohne jeden Grund drängte sich mir ein Bild von heulenden Kindern auf, die
auf mechanischen Pferden im Kreis geführt werden. Ihre Eltern stehen teilnahmslos
daneben.
Schließlich betrat ich
die Mitte des Platzes. Über mir thronte die bösartige Maschine mit all ihren
Zahnrädern und Ketten, mit ihren Pfeilern und Haken. Unschlüssig, was nun
geschehen sollte, begann ich sie zu umrunden. Mit langsamen beinahe genießerischen
Schritten legte ich die Strecke bis zur Rückseite der Maschine zurück und
mit jedem Schritt wurde mir klarer, was ich hier zu tun hatte. Ohne im geringsten
überrascht zu sein, fand ich dort eine kleine Tür. Sie öffnete sich leicht
und ohne das von mir erwartete Quietschen. Lautlos glitt sie auf und offenbarte
das Innere der gewalttätigen Maschine. Die Wände des niedrigen Ganges (bevor
er sich zu meinem Schicksal öffnete) versteckten etwas. Keine Bewegungen
verrieten es, keine Geräusche, noch drangen Gerüche aus dem Gang zu mir
heraus. Etwas ehemals Lebendiges hatte sich in den Nischen und Falten des
niedrigen Ganges eingenistet und sich zu einer Existenz entschieden, der
ich mich vielleicht bald anschließen würde. Mit völliger Gleichgültigkeit,
ob ich mich ihm anschließen wollte oder nicht, wartete es auf meine Entscheidung,
wartete darauf, dass ich die Tür schloss - von innen oder von außen. Es
zeigte mir die Endgültigkeit meiner Entscheidung mit seinem Desinteresse.
Das Grinsen des Magiers von der Karte stärkte mich in meiner Entscheidung
und ich betrat die Maschine, um einen langen Weg zuende zu bringen, den
ich vor so langer Zeit mit meinen Freunden begonnen hatte, nun aber hier in der
weißen Stadt allein beenden würde.