DIE WEISSE STADT
Andreas Melhorn


Meine Vorliebe für die Farbe Weiß stieß bei meinen Freunden und Bekannten im Allgemeinen auf Unwillen und Widerstand. Zunächst wurde sie als vorübergehende Modeerscheinung angesehen, doch nachdem jedes Kleidungsstück, das ich besaß durch eines weißer Farbe ausgetauscht worden war, begannen sie mich zu kritisieren. Meine Freunde und Bekannte hatten offenbar beschlossen, dass diese Vorliebe von einer Persönlichkeitsänderung herrühre, die ich ihrer Meinung nach durchmachte, seit ich mich "diesen Leuten" angeschlossen hatte. Sie forderten mich wiederholt auf, mein seltsames Verhalten zu durchdenken und mir einzugestehen, dass diese Leute einen schlechten Einfluss auf mich hätten. Zunächst versuchten sie mir die Obsession, wie sie es gern nannten, mit Argumentationen und allen möglichen Tricks auszureden, später benutzten sie sogar Täuschungen, "freundschaftliche" Erpressungen und schließlich Sabotage. Die Vorliebe, die sich nicht nur auf die Wahl meiner Kleidung auswirkte, sondern mich auch meine Nägel lackieren und meine Haare färben ließ, sei nicht normal, so argumentierten sie, ja sie sei sogar in höchstem Maße ungesund. Weiß sei zwar im Prinzip sehr freundlich - wobei sie mit "im Prinzip" einer ihrer Lieblingsphrasen benutzten - wäre aber in dieser Menge und Absolutheit auftretend, abschreckend kalt und tot.
Es schien, dass sie mit dem Tod einen Vergleich gefunden hatten, der ihnen in ausreichendem Maße passend erschien, denn der Tod kehrte in Laufe der schier endlosen und nervenaufreibenden Diskussionen immer wieder, wurde erwähnt, beschrieben, ausgemahlt und schließlich in all seiner kalten Sterilität als fruchterregender Endpunkt meines Verhaltens aufgezeichnet. Weiß sei die Farbe eines Leichentuches, so sagten sie, also nichts womit man sich ausschließlich umgeben sollte.
Hätten meine Freunde und Bekannte erahnt, wo meine Vorliebe für die weiße Farbe ihren Ursprung hatte, wären sie vielleicht eher bereit gewesen sie zu akzeptieren, und doch wäre es mir wahrscheinlich unmöglich gewesen, ihnen diesen Ursprung hinreichend zu verdeutlichen, so dass der Versuch gar nicht erst unternommen wurde.

In einer nicht näher zu beschreibenden Vergangenheit hatte ich begonnen von einem Ort zu träumen, den ich irgendwann beschloss "die weiße Stadt" zu nennen. In diesen Träumen durchwanderte ich die Straßen einer exotischen Stadt, weiße Häuser verschiedenster Baustile drängten sich rechts und links aneinander. Es schienen normale Träume zu sein, die einem gemeinsamen Thema folgten, wie es die Träume meiner Kindheit häufig getan hatten, doch irgendwann sollten mich meine Schritte zu einem Ort führen, den ich schon einmal betreten hatte. Meine Vorliebe für marmorne Engel hatte mich in einer der früheren Traumperioden auf eine Art Wasserspeier aufmerksam werden lassen, der mit angezogenen Knien auf der Ecke einer Mauer hockte und die gegenüberliegende Fensteröffnung mit kindlich schönen Gesicht betrachtete. Die steinernen Flügel an dem ansonsten grotesk verformten Körper waren mit einer Detailfülle gefertigt, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, die Federn würden sich im Wind bewegen. Ich erkannte diese Figur wieder, als ich das zweite Mal die Weggabelung betrat.
Ein Traum vereinfacht. Der Träumende bekommt Sinneseindrücke vorgelegt, die scheinbar zufällig aus dem vielfältigen Sammelsurium an Eindrücken herausgegriffen wurden, wie sie die wache Realität in der gleichen Situation vorlegen würde. So ist es nach dem Aufwachen beispielsweise oft unmöglich die grauenhafte Wesenheit zu beschreiben, vor der man die halbe Nacht panikartig geflohen ist. Anstelle der vorenthaltenen Informationen bekommt der Träumende anderes Wissen übermittelt. Ingesamt entsteht so ein unvollständiges Bild einer oftmals ohnehin grotesken Situation. So war es mir zwar unmöglich zu sagen, wie das grauenhafte Ding aussah, vor dem ich floh, aber mir war jedes Mal durchaus bewusst, dass es meinen Tod oder gar Schlimmeres bedeuten würde, sollte es mich zu fassen bekommen. Oft konnte ich sogar ungefähr seine Größe einschätzen, ohne es je gesehen zu haben. In anderen Nächten bekam ich nur einzelne Bilder, Eindrücke oder Namen vorgelegt, die völlig zusammenhanglos doch ein fast komplettes Ganzes bildeten. Mit Schrecken erinnere ich mich an einen Mörder mit Namen Lloyd D, der mehrere Male nur mit seinem Namen bekleidet meine Nächte heimsuchte.

Der Engel, dem ich nun lange nach der Zeit der Monster und Mörder zum zweiten Mal gegenüberstand, hätte ein Gebilde meiner eigenen Phantasie sein können, eingebaut in einen Traum und wiedergekehrt. Ich begann jedoch auch andere Gebäude und Plätze wiederzuerkennen. Obwohl mir die häufig sehr hohen Häuser der weißen Stadt die freie Sicht und somit einen Überblick verwehrten, konnte ich doch immer wieder markante Punkte ausmachen, die mir helfen sollten mich zu orientieren, und die mir klar machten, dass meine Reisen in die weiße Stadt nicht mit normalen Träumen zu vergleichen waren. Der Filter, durch den wir die nächtlichen Eskapaden unserer Träume normalerweise wahrzunehmen pflegen, schien aber trotz des merkwürdigen Realismus Anwendung zu finden, denn immer wieder sollte mir die Stadt Dinge vorenthalten und nur nach und nach in kleinen Brocken preisgeben.

Die Begegnung mit dem deformierten Engel mit dem schönen Gesicht hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Stadt von normalen Träumen unterschied und ließ mich meine Umgebung in anderer Weise betrachten, als ich bis dahin getan hatte. Aber mit dem Erkennen und dem neuen Bewusstsein, mit dem ich meine Umgebung nun wahrnahm, und mit der Frage, wer diese Statue erschaffen haben könnte, und ob das Fenster, in dass der Engel Tag und Nacht starrte, bereits existiert hatte, als dieser aufgestellt wurde, kam auch das Bewusstsein, dass die Stadt tot war. Keine Menschenseele war mir auf meinen Wanderungen begegnet, nicht einmal eine Maus hatte meinen Weg gekreuzt; kein Fiepen von Ratten, kein Zwitschern von Vögeln, kein Atmen außer meinem eigenen war zu hören, kein Geruch war wahrzunehmen, außer dem von Staub und Stein.

Ich begab mich auf die Suche nach einem Aussichtspunkt, der mir helfen sollte mich zu orientieren. Ein Blatt Papier und ein Bleistift lagen jederzeit neben meiner Schlafstätte bereit, damit ich nach meinen Reisen Notizen machen konnte, um auf diese Weise eine Art Karte zu erstellen. Ein Aussichtspunkt würde mir helfen die Karte zu vervollständigen. Doch leider sollte es mir nicht gelingen einen solchen Punkt zu finden - die Natur der Stadt sollte es verhindern - und so blieb die Karte immer nur eine ungenaue Abschätzung und ein sehr schlechtes Abbild der Wirklichkeit.

Ein schier endlos hoher Turm stand zwischen einer marmornen Kirche gotischer Bauart und einem Gebäude, dessen Inneres entfernt an ein römisches Bad erinnerte. Viele Male bestieg ich den Turm in der Hoffnung, aus einem der Fenster des Turms den gewünschten Überblick zu erlangen. Seine weißen unmöblierte Hallen waren staubig. Ich konnte meine eigenen Fußspuren verfolgen und sogar erahnen, wie viel Zeit seit meinem letzten Besuch vergangen war, denn sie verblassten mit der Zeit, wurden nach und nach mit neuem Staub überdeckt. In einer Ecke der größten Halle des Erdgeschosses stand die Statue einer jungen Frau mit dem Gesicht zur Wand gedreht. Sie befand sich im Schatten außerhalb der Reichweite der großen Fenster und war mir bei meinem ersten Besuch gar nicht aufgefallen. Ihr Kopf war leicht gesenkt, so dass ihre Stirn fast die steinerne Wand berührte, und ihre Hände waren wie zum Gebet gefaltet. Jede Nacht, wenn ich den Turm betrat, bevor mich meine Schritte zum unbeleuchteten Treppenaufgang führten, trat ich kurz an sie heran und sprach einige leise Worte zu ihr.

Der Aufstieg die Treppen hinauf wurde mir nicht nur durch die völlige Lichtlosigkeit erschwert, sondern auch durch die Treppenstufen selbst, die ihre Schritthöhe völlig zufällig zu ändern schienen. Es gab zwei Fenster, die auf meinem Weg nach oben für mich erreichbar waren, doch selbst das höhere von beiden blickte nur auf die Wand der Kirche und mein weiterer Weg führten nie zu einem erneuten Fenster, sondern verlief sich im Dunkeln; die nächtlichen Reisen endeten immer, ohne dass ich dem gewünschten Ziel Nahe gekommen wäre. Meine Fragen an das Mädchen im Saal blieben unbeantwortet.

***

Meine Freunde und Bekannte hatten sich irgendwann anderen Dingen zugewandt; sie waren ersetzt worden durch Menschen, die auf Äußerlichkeiten wie Farben keinen Wert mehr legten. Gemeinsam konsumierten wir chemische Substanzen und erzählten von unseren Träumen. Des nächtens durchwanderte ich die Stadt und versuchte an Hand von Eckpunkten und auffälligen Gebäuden einen Überblick über die Geographie zu bekommen und einen Plan zu zeichnen. Nach und nach, Traum für Traum, vervollständigte sich die Karte. Das römische Bad, auf das ich schon einige Male aus dem "Turm der dunklen Treppen" einen ausführlichen Blick geworfen hatte, stand ganz nahe der Stadtmauer. Aus Mangel an anderen Anhaltspunkten bezeichnete ich diese Seite der Stadt als Norden. Es gab keine Sonne, nach der ich mich hätte orientieren können, und der Mond, von dem ich den Eindruck bekam, er sei außer mir das einzig lebende Wesen in der Stadt, hing hungrig immer an der gleichen Stelle am Himmel und wartete auf ein Opfer, das ihm nahe genug kam. Im Süden der Stadt stand ein riesiges Amphitheater. Die Bühne befand sich viele Meter unter der Erdoberfläche und war mit dieser durch steinerne Stufen verbunden, auf denen sich keine Zuschauer befanden, genauso wenig wie Schauspieler die Bühne betraten. Das steinerne Loch, das das Amphitheater bildete war auch von weitem sehr leicht wiederzufinden, denn neben ihm stand ein weißer Koloss, der mit übergeschlagenen Beinen auf einem weißen Stuhl saß. Die Statue hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck und betrachtete ihren Stiefel mit krampfhafter Konzentration. Das Modell, das einst für den bestimmt 15 Meter großen Riesen modellgestanden hatte, schien sich nicht sicher gewesen zu sein, wem dieser Stiefel gehörte und ob der Fuß darin auch sein eigener sei. Im Westen befand sich ein Hügel, auf dem eine Bücherei ungeahnten Ausmaßes gebaut war. In dieser Bücherei hielt ich mich sehr lange auf, in der Hoffnung etwas über die Geschichte der Stadt herauszufinden, und hier war auch der Ort, an dem ich bemerkte, dass die Stadt wuchs. Ich trat aus dem Hinterausgang des Gebäudes auf die Straßen, auf denen ich so viel Zeit verbracht hatte, nur um mich vor einer Häuserfront wiederzufinden, die es vorher hier nicht gegeben hatte. Die Wand war schmucklos, hoch und hässlich, wie man es vielleicht bei einem 60er Jahre Plattenbau erwartet hätte. Sie stach aus dem Gesamtbild heraus, wie ein Stachel, der sich in die empfindliche Haut eines Augenliedes bohrt. Das Gebäude war nicht komplett, es war nur teilweise aus der Stadtmauer herausgewachsen, als diese nach hinten gewichen war; die steinernen Möbel, die sich in den Räumen des Hauses befanden, waren teilweise noch halb mit der Stadtmauer verschmolzen, die sich quer durch die Zimmer zog. Durch genaue Beobachtung fand ich heraus, das die Stadtmauer sich jeden Tag fast einen Zentimeter verschob und Teile von Gebäuden, Möbelstücke und - sehr selten - auch Statuen von unterschiedlicher Größe gebar.

Wohin zog sich die Mauer zurück? Diese Frage setzte sich in meinem Kopf fest und beschäftigte mich zunehmend. Ein Abschreiten der unüberwindbaren Steinschicht brachte keinen Ausgang aus der Stadt zum Vorschein, weshalb ich mich mit noch mehr Fanatismus in die Hallen der Bibliothek auf dem Hügel stürzte, um in quadratischen Lesezimmern, die sich um den rechteckigen Hof anordneten, stundenlang in Schriftrollen aus eigenartig samtigem Material, Notizbüchern und alten Folianten herumzuschnüffeln.

"Tatsache aber ist, dass die Droge, sobald sie in die Blutbahn gelangt ist", stand in einem Buch, das ich nach langer Suche gefunden hatte, "sich auf den Weg zum Gehirn macht, um sich dort festzusetzen und ihre eigentümliche Wirkung zu entfalten. Durch Unterdrückung und Stimulation unterschiedlichster Gehirnfunktionen kann sie die von den Konsumenten angestrebten Visionen erzeugen, die zwar unbestrittenermaßen eine Besonderheit darstellen, aber nichtsdestotrotz von Wirkungen begleitet werden, die als gefährlich angesehen werden müssen, so dass ein Konsum der Substanz als nicht erstrebenswert betrachtet werden muss. Die Art der Visionen, wie immer wieder von Verteidigern der Droge vorgebracht wird, ist wahrhaftig ungewöhnlicher Natur. Naturvölker verwenden die Droge auch heute noch in der Stammesmagie. Schwarzafrikanische Schamanen benutzen den Saft, aus dem der gefährliche Stoff gewonnen wird, in der Wahrsagerei. In manchen Stämmen werden wichtige Entscheidungen nur mit Hilfe der erzeugten Visionen entschieden. Erstaunlicherweise scheinen die ermittelten Ergebnisse einen hohen Wahrheitsgehalt aufzuweisen. Wissenschaftler aller Nationen forschen an diesem Phänomen, doch selbst wenn alle möglichen psychologischen und psychischen Phänomene, wie erhöhte Konzentrationsfähigkeit, veränderte Gedankenstruktur oder ungewöhnliche Betrachtungsweisen von Problemen, in Betracht gezogen werden, können bestimmte Ergebnisse der Forschungen nicht erklärt werden. Welche Wirkung die chemische Substanz auch immer auf das Gehirn hat, sie scheint nicht gänzlich negativer Natur zu sein. Junkeys und New Age-Anhänger der ganzen Welt verteidigen den Konsum der Droge seit Jahren mit dem Hinweis auf besagte Schamanen, die mit Hilfe der Droge immer wieder Entscheidungen für ihr Dorf treffen, die ohne ihre Hilfe scheinbar nicht hätten getroffen werden können, und die die Droge teilweise seit Jahrzehnten in Ritualen verwenden und sich dennoch bester Gesundheit erfreuen. Die Argumentationen gehen also in die gleiche Richtung, wie sie auch Verteidiger des Tabakkonsums immer wieder einschlagen. Leider kann aber an Einzelbeispielen oft genug nicht die Gefährlichkeit von Drogen festgemacht werden. Tabak wie auch Alkohol zeigen, dass, obwohl einzelne Personen, teilweise sogar die Mehrheit der Konsumenten, keinen Schaden davon zu nehmen scheinen, die Droge doch erheblichen Schaden anrichten kann und schon mehr als einen Menschen zu Grunde gerichtet hat. Unsere Substanz hat die unangenehme Eigenschaft, die erzeugten Visionen nicht nur erstaunlich lebensecht erscheinen zu lassen - sie sind während des Rausches nicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden - sondern eben diese "Echtheit" im Laufe der Zeit zu verstärken und in das normale Leben einfließen zu lassen. Der Konsument wird fast unweigerlich irgendwann in einer Phantasiewelt gefangen, aus der er unter Umständen nicht mehr entkommen kann. Diese Phantasiewelt schlussendlich wird, je länger ihr der Konsument der Droge ausgesetzt ist, immer gewalttätiger und zerstörerischer. Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf diesen Einfluss, aber er wird irgendwann unweigerlich von den Visionen zerstört werden. Dieses sollte man all den Esoterikern und Möchtegern-Heiligen vorhalten, die immer wieder versuchen glaubhaft zu machen, die Phantasiewelt, in die der Konsument durch die Substanz geschleudert wird, sei keine Phantasiewelt, sondern ein real existierender Ort, an den der Mensch nur mit Hilfe der Droge gelangen kann."

Ich hatte das Buch aus der Hand gelegt, da vernahm ich ein Geräusch, das ich, wie mir jetzt bewusst wurde, schon immer in der Stadt gehört hatte. Mein Geist schien erst jetzt bereit zu sein das Geräusch umzusetzen und meinem Bewusstsein zuzuspielen. Das Geräusch war ein metallisches Schaben und Klicken, Rasseln und Kratzen, wie es etwa von einem Kettenkarussell in großer Entfernung verursacht würde. Meinem geistigen Auge entstanden Bilder von riesigen Zahnrädern, die rostig ineinander griffen und eine noch größere Struktur mit unbekanntem Zweck in Bewegung setzten.

Auf meiner Karte gab es einen großen weißen Fleck, auf dem ich einen Jahrmarkt entdeckte. Die Maschine stand in seiner Mitte. Sie schien mit dem kleinen Rummelplatz, in dessen Mitte sie stand, nichts zu tun zu haben. Sie stand zwischen vielen kleinen Holzbuden und Holzkarussells, ohne sichtbaren oder scheinbaren Zweck, nichts gemein mit den Dingen um sie herum.

Ein kleines Karussell aus Holz stand in meiner Nähe. Um die Säule in der Mitte war ein Loch im Holzboden, welches bis auf den Boden reichte. Mehrere Handgriffe ungefähr auf Hüfthöhe waren daran. Die Farbe der Pferde war schon vor langer Zeit verblichen und größtenteils abgeblättert. Bei genauerer Betrachtung sah ich, dass die Gesichter der Pferde schmerzverzerrt waren, Schaum schien an ihren Nüstern zu kleben. Der Künstler gab ihnen einen Ausdruck von Panik; nur etwas sehr Großes oder sehr Bösartiges hätte eine solche Panik in den Vorbildern für diese Miniaturen auslösen können, so zumindest schien es mir. Kinder mussten johlend auf den Pferden gesessen haben, während es sich langsam drehte. Vielleicht hatten andere Kinder in der Mitte gestanden und es schwitzend in Bewegung gesetzt, während sie von Erwachsenen beobachtet und angetrieben wurden, vielleicht wurde das Karussell aber auch von missgestalteten Zwergen bedient, die zu sonst keiner anderen Aufgabe fähig gewesen wären.

Angewidert entfernte ich mich von dem Karussell und näherte mich weiter der Mitte des Platzes und der grausigen Maschine. Ich passierte den kleinen Wagen einer Wahrsagerin. Ein offenes Fenster erlaubte einen Blick in das Innere des Wagens und entblößte seine leere staubige Bauchhöhle. Auf dem Fensterbrett, auf dem eine alte Frau mit ihrem Kopftuch gelehnt haben mag (vielleicht auch eine rassige Schönheit mit dunklen Augen oder das steife Gesicht einer dieser hölzernen Köpfe, die man in Wahrsagerautomaten finden kann), lagen noch einige Karten. Auch wenn ich mich in meinen wachen Zeiten nie mit so etwas beschäftigte hatte, so erkannte ich sie doch als Tarotkarten. Langer Gebrauch hatte sie abgewetzt und ihre Ecken eingeknickt. Nur eine Karte lag mit dem Bild nach oben, und von ihr grinste mich "der Magier" an, der mir mit ausgestreckter Hand einige Kräuter anbot.

Ein Kettenkarussell war mit der Maschine verbunden und drehte sich rasselnd und fiepend in monotonem Tanz. Eine Holztafel mit einer Zeichnung von einem Muskelmann ohne Kopf. Lass Dich fotografieren! Ehemalig bunte Holzbuden und Holzwagen, die mit geschlossenen Läden die Wege säumten. Ein eingezäuntes Rondell zum Ponyreiten. Ohne jeden Grund drängte sich mir ein Bild von heulenden Kindern auf, die auf mechanischen Pferden im Kreis geführt werden. Ihre Eltern stehen teilnahmslos daneben.

Schließlich betrat ich die Mitte des Platzes. Über mir thronte die bösartige Maschine mit all ihren Zahnrädern und Ketten, mit ihren Pfeilern und Haken. Unschlüssig, was nun geschehen sollte, begann ich sie zu umrunden. Mit langsamen beinahe genießerischen Schritten legte ich die Strecke bis zur Rückseite der Maschine zurück und mit jedem Schritt wurde mir klarer, was ich hier zu tun hatte. Ohne im geringsten überrascht zu sein, fand ich dort eine kleine Tür. Sie öffnete sich leicht und ohne das von mir erwartete Quietschen. Lautlos glitt sie auf und offenbarte das Innere der gewalttätigen Maschine. Die Wände des niedrigen Ganges (bevor er sich zu meinem Schicksal öffnete) versteckten etwas. Keine Bewegungen verrieten es, keine Geräusche, noch drangen Gerüche aus dem Gang zu mir heraus. Etwas ehemals Lebendiges hatte sich in den Nischen und Falten des niedrigen Ganges eingenistet und sich zu einer Existenz entschieden, der ich mich vielleicht bald anschließen würde. Mit völliger Gleichgültigkeit, ob ich mich ihm anschließen wollte oder nicht, wartete es auf meine Entscheidung, wartete darauf, dass ich die Tür schloss - von innen oder von außen. Es zeigte mir die Endgültigkeit meiner Entscheidung mit seinem Desinteresse. Das Grinsen des Magiers von der Karte stärkte mich in meiner Entscheidung und ich betrat die Maschine, um einen langen Weg zuende zu bringen, den ich vor so langer Zeit mit meinen Freunden begonnen hatte, nun aber hier in der weißen Stadt allein beenden würde.

© 2000 Andreas Melhorn
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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