STRAUBENHOBERS TURM
Peter Schünemann


Natürlich ist der Turm am Rande des Zentral-Friedhofs unserer Stadt keineswegs Andreas D. Straubenhobers einziges jemals ausgeführtes Bauwerk - obgleich manche unserer Mitbürger bisweilen so tun, als verhielte es sich so. Dieser Architekt mag ein Sohn unserer Stadt sein, aber es erscheint mir zu viel des Lokalpatriotismus, seinen Weltruhm nur auf diesen einen Bau und auf eine Mappe Zeichnungen zu gründen - Zeichnungen, die knapp eine sehr kleine Ausstellung im kleinsten Saal des städtischen Museums ergeben. Gewiss, Größe und Attraktivität verhalten sich in diesem Fall geradezu umgekehrt proportional zueinander: Fast alle Touristen, die uns Woche für Woche in Scharen heimsuchen, besichtigen die Ausstellung, viele kommen mehrmals wieder oder verharren Stunde um Stunde in dem kleinen Raum, versunken in den Anblick jeder einzelnen Skizze. Doch würden sie sich dieser Andacht wohl kaum hingeben, wenn Straubenhober nichts gebaut hätte als einen architektonisch völlig uninteressanten Turm aus schwarzem Basalt. Seine Bewunderer kommen aus der ganzen Welt, und dort draußen müssen weitere Bauwerke existieren, welche den genialen, eigenwilligen Phantasien dieses Meisters ein Sein in Stein und Stahl und Glas verleihen. Zwar nennen - man munkelt, Straubenhober selbst habe es so verfügt - die biographischen Notizen in diversen Lexika keines dieser Bauwerke, aber auch der Turm findet nirgendwo Erwähnung. Also steht die Sache unentschieden: Ich habe noch niemanden gesprochen, der ein anderes Straubenhober-Werk gesehen hätte, doch natürlich kann mir auch niemand beweisen, dass es kein anderes gibt. Da wir alle es aber ablehnen - warum auch immer -, den einfachsten Weg zu gehen und die Touristen zu fragen, werden wir uns wohl gedulden müssen, bis die erste offizielle Biographie des Mannes erscheint.

Damit - zumindest in Betreff der Kinder- und Jugendjahre - hätte es jedoch einige Schwierigkeiten. Jeder Biograph müsste diese Nachforschungen ja hier führen, aber über den Turm und die Zeichnungen hinaus gibt es kaum Zeugnisse für Straubenhobers Wohnen und Wirken in unserer Stadt. Sein Geburtshaus brannte vor Jahren bis auf die Grundmauern nieder. Seine Eltern liegen vielleicht auf einem unserer Friedhöfe, aber niemand könnte sagen, auf welchem, womöglich sind sie damals auch mit dem Haus verbrannt. Auch andere Verwandte - oder wenigstens ihre Spuren - sucht man vergebens. Und nicht ein Lehrer, ob noch im Schuldienst oder pensioniert, erinnert sich, Andreas Straubenhober unterrichtet zu haben, er fehlt in allen Schulannalen, lediglich die Kopie seines Abschlusszeugnisses unseres Gymnasiums liegt vor. Doch hilft dies nicht viel: keiner der Absolventen dieses Jahrgangs vermag etwas über Straubenhober zu berichten, seine Streiche, Leistungen, Schwächen, Vorlieben und Gewohnheiten bleiben im Dunkeln. Und nur in einem einziges Interview, das er vor Jahren einer großen amerikanischen Zeitung gab, wird unsere Stadt erwähnt: "I was born in Hallburg on the Salza river, a nice place to grow up, a nice place to leave later"; dieser eine Satz, von einem Heimatfreund vor fünfzehn Jahren entdeckt, gab überhaupt erst den Anstoß zu Nachforschungen, welche zum Turm am Friedhofsrand führten und zu einer kleinen Bronzeplatte in dessen Wand, fünf Meter über dem Boden kaum bemerkbar, auf der in lupenkleinen Buchstaben die Entstehungsgeschichte des Turms und der Architekt verewigt sind; auch fand man, nachdem man die viele Jahre verschlossene Tür des Erdgeschosses aufgebrochen hatte, einen Stuhl, einen Tisch, eine Mappe mit den erwähnten Zeichnungen - skurrile, bizarre, doch Genie atmende Entwürfe für Kirchen, Parlamentsgebäude, Opern, Theater und Krematorien, allesamt signiert mit dem lang gezogenen, altdeutsch ausgeführten "Sh". Daneben entdeckte man noch einige Rechnungsblätter, Geschäftsbriefe und den Anfang einer Klageschrift gegen eine allzu saumselige Maurerfirma, ein Stück Prosa in geradezu alttestamentarischem Ton. Und schließlich förderte jemand aus einer Ecke drei leere Flaschen zutage, die nur in Appenthalers Weingeschäft gekauft sein konnten und einmal Rotwein enthalten hatten. Das Erstaunlichste an dieser Fund-Geschichte scheinen mir nicht die brillanten Entwürfe zu sein, sondern die Tatsache, dass der alte Appenthaler sich noch an den Kunden erinnerte, der diese Flaschen, einen 77er Sauckenberg, vor über zwanzig Jahren gekauft hatte. Er beschrieb ihn in allen Einzelheiten, so dass Polizeiexperten ein Phantombild erstellen konnten; und als man ihm sagte, dies sei zweifelsfrei der von allen so sehr vergessene A. D. Straubenhober, zuckte er nur die Schultern und meinte, ja, so habe der Name wohl gelautet, man müsse schon entschuldigen, dass dieser ihm nicht gleich eingefallen sei - das Alter ... Befragt, wieso er denn nach all den Jahren, in denen Tausende von Kunden seine Ladenschwelle überschritten haben müssen, sich noch an jenen einen Käufer erinnere, gab er an: Der 77er Sauckenberg sei der allerletzte gewesen, nicht nur dieses Jahrgangs, sondern des Pfannzellschen Weingartens überhaupt, im selben Jahr habe der Besitzer Selbstmord begangen, ohne Erben zu hinterlassen, der Berg sei verkauft worden, aber die Käufer hätten "kein Händchen für Wein und wohl auch kein Glück" gehabt, so dass fortan nichts mehr von dort gekommen sei; und nachdem ein Lehrjunge die letzten drei Flaschen aus Versehen hinter billigem Bordeaux habe verschwinden lassen, seien sie, unbegreiflicherweise in Vergessenheit geraten, erst nach Straubenhobers ausdrücklichem Hinweis wieder entdeckt worden. Der Kunde habe auch den exorbitanten Preis bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken. "Das merkt man sich!" beendete der alte Appenthaler seine Geschichte; Weiteres hatte auch er leider nicht beizusteuern. Immerhin gewann so die nahezu geisterhafte Gestalt des Architekten wenigstens einige Substanz.

Kurz darauf machte ein anderer Heimatfreund eine interessante Entdeckung, wenngleich etwas makabrer Natur. (Man kennt diese Hobbyforscher, die um jeden Preis Dinge und Vorgänge ausgraben wollen, nur um wenigstens in der städtischen Chronik mit einer kurzen Eintragung bedacht zu werden; sie sind hartnäckig bis penetrant und nicht wählerisch beim Einsatz ihrer Mittel, aber die besten unter ihnen besitzen einen guten Blick für ungewöhnliche Zusammenhänge, denn sie lassen sich in der Regel von Theorien kaum beirren, da sie einfach nur erfolgreich sein wollen.) Eigentlich hatte dieser selbst ernannte Forscher sich nicht auf Straubenhober spezialisiert, sondern auf Gräber; doch bei seinen Streifzügen über den bewussten Friedhof (die er ab und zu nachts durchführte!) war ihm aufgefallen, dass am siebten Juli - es herrschte Vollmond - um genau 21 Uhr 26 Minuten die Spitze des Schattens der kleinen Pyramide, welche sich mitten auf der Plattform des Turmes erhob, den Schriftzug einer marmornen Grabplatte verdunkelte; das Grab aber hatte Julius Pfannzell gehört, dem unglückseligen Besitzer eben jenes Weingartens auf dem Sauckenberg - der sich, das herauszufinden machte kaum Mühe, am siebten Juli zwischen neun und zehn Uhr abends, so die gerichtliche Expertise, aufgehängt hatte. So scheint es, als sei nun die genaue Todeszeit bekannt. Doch woher Straubenhober sie erfahren und was er mit Pfannzell und Pfannzells Tod zu tun gehabt hätte, entzieht sich allen Spekulationen. Eine Verbindung zwischen den beiden Männern - dem anscheinend weltfremden, menschenscheuen Architekten und dem lebenslustigen, kontaktfreudigen Weinbauern - war nicht festzustellen, gilt als kaum wahrscheinlich, und der Selbstmord ist mit hundertprozentiger Eindeutigkeit nachgewiesen. Immerhin halten sich Gerüchte. Allzu spurlos sei Straubenhober aus der Stadt verschwunden. Die Gerüchte vergessen, dass der Turm erst fünf Jahre nach Pfannzells Ende erbaut wurde.

Wer aber diesen Turm in Auftrag gegeben hatte und wozu - noch dazu, seltsamsterweise, auf einem Friedhof! -, das ist bis heute völlig ungeklärt. Genug, er ist da: ein gut fünfzig Meter hohes, nicht überraschendes Etwas aus glatt behauenem schwarzem Basalt, gekrönt von einer zinnenumgebenen Aussichtsplattform, auf der sich die besagte Pyramide erhebt, welche - wie das ganze Bauwerk - keine erkennbare Funktion hat. Diese Normalität ist die verwunderlichste Eigenschaft des Turms. Die Entwürfe der anderen Gebäude erscheinen wie Apotheosen des Verzerrten, grotesk Verdrehten, Bizarren; überhaupt wird Straubenhober, so viel ich verstehe, vor allem wegen der Noch-Statik seiner Werke gerühmt. Mit diesen obskuren, fast ätherischen Gebilden jedenfalls hat der solide Turm nichts, rein gar nichts gemein. Ein weiteres Rätsel.

Ich würde darüber gern mit jemandem sprechen, der - wie ich - die zweihundertfünfzig Stufen bis zur Aussichtplattform hinaufgestiegen ist. Doch daraus wird wohl nichts werden. Niemand der - wenigen - Einheimischen, die es gleich mir versucht haben könnten, will sich dazu äußern, mehr noch: keiner gibt auch nur zu, dass er es überhaupt getan (oder wenigstens versucht!) hat, obgleich ich mir in drei Fällen ziemlich sicher bin. Und die Touristen, die oben waren, haben nichts Wesentliches zu sagen. Am Turm selbst finden sie nichts Besonderes, aber die Aussicht lobt jeder von ihnen. Eine herrliche Stadt, wunderschöne Hügel im Umland. Besonders im Herbst, urteilte ein Mann, der seit Jahren zu den Stammgästen im "Goldenen Ross", dem besten Hotel unserer Stadt, gehört. Zu dieser Zeit sei der Blick über den Fluss, die Laubwälder und die Weinberge einfach unbezahlbar. Offenbar sehen diese Leute nicht das, was ich gesehen habe (das Gleiche vermutlich wie meine Mitbürger, die so hartnäckig schweigen). Es mag daran liegen, dass die Fremden ausschließlich bei Tag hinaufsteigen. Ausschließlich? Nun - nein. Ich bin lange einigen Gerüchten nachgegangen, über einen Besucher, der nachts auf dem Turm gewesen sein sollte. Es erwies sich als schwierig, die Quelle zu finden, aber schließlich entpuppte sie sich als ein geistig wenig beweglicher Page im "Ross". Er habe Nachtdienst gehabt und den Mann gehen und zurückkommen sehen, ja. Ja, und bei seiner Rückkehr sei er sehr verstört gewesen. Ja, und noch in der Nacht abgereist. Nein, die Adresse könne er nicht verraten. Erst als ich das verschmitzte Lächeln in seinem grob geschnittenen Gesicht richtig deutete und ein größerer Schein seinen Besitzer wechselte, erfuhr ich, was ich wissen wollte. Jener Nachtschwärmer war ein Münchner Geschäftsmann. Gewesen - denn als ich mich unter einem Vorwand an seine Firma wandte, hörte ich, dass er gestorben sei und nun sein Sohn das Geschäft leite. Recherchen im Lokalteil der Münchner Tageszeitungen, die ich von einem Privatdetektiv durchführen ließ, ergaben, dass dieser Mann sich das Leben genommen hatte, und dies gleich nach der Rückkehr aus unserer Stadt. Ich weiß nicht, was sich ihm beim Blick von der Aussichtsplattform offenbart hat; vielleicht das Gleiche wie mir, vielleicht Schlimmeres. Ich - wie auch die anderen Bürger unserer Stadt, von denen ich sicher glaube, sie seien oben gewesen - lebe jedenfalls noch und gedenke nicht, mich umzubringen. Wenngleich ...

Ich stieg bei Nacht auf den Turm. Das Friedhofstor wird zwar um zwanzig Uhr verschlossen, aber wir alle wissen, in welcher Mauerspalte der Schlüssel zu der kleinen, in das große Portal eingelassenen Pforte zu finden ist. Unsere Stadt stellt, trotz der vielen Touristen, noch ein Gemeinwesen im eigentlichen Sinn dar; wann immer auch einer von uns das Bedürfnis hat, nach seinen Verstorbenen zu sehen, dann soll er das tun können. Diese Großzügigkeit wird nicht missbraucht, nicht einmal von den, nun, extravaganteren unter unseren Jugendlichen.

Und die Tür des Turms ist ohnehin nie abgeschlossen.

Warum ich mein Vorhaben ausgerechnet in der Nacht des siebenten Juli ausführte, obendrein gegen viertel zehn? Zum Teil mag es mit meiner Vorliebe für obskure, dunkle Literatur zu erklären sein, die ich pflege, seit ich lesen kann. Ich verspürte jedenfalls keine Angst, und wieso auch? Alles ging wie erwartet: Schnell war der versteckte Schlüssel gefunden, die kleine Pforte geöffnet, der Friedhof durchquert; bald stand ich vor der Tür des Turms, die halb geöffnet war; ein leichter Wind bewegte sie in den Angeln, doch da der Friedhofsgärtner sie stets gut ölt, verursachte dies kaum ein Geräusch. Zuerst irritierte mich die halbe Öffnung: ob jemand gerade oben war? Mit Gesellschaft hatte ich nicht gerechnet, ich dachte an Umkehr, entschied dann aber, an meinem Vorhaben festzuhalten; vielleicht konnte ich ja mit diesem Jemand über den Turm sprechen, zumindest aber hätte ich von nun an sicher gewusst, dass er oder sie ebenfalls oben gewesen war, was den Weg zu neuen Beobachtungen und Überlegungen öffnen würde.

Aber ich begegnete niemandem. Kurz zuvor hatte die Stadtverwaltung elektrisches Licht in den Turm legen lassen; die - stillosen - grellen Neonröhren leuchteten jede Ecke des Untergeschosses und der Treppen aus, auch gab es nirgendwo Nischen, verborgene Winkel, Seitenkammern, in denen man sich hätte verbergen können. Wenn in dieser Nacht noch jemand außer mir hier hinaufgestiegen war, dann war er schon wieder fort und hatte einfach vergessen, die Tür zu schließen. Einen Moment lang, freilich, schien es mir, als hörte ich ein leises Stöhnen; da befand ich mich knapp über der Mitte des Turms, und das Geräusch kam von oben. Nach kurzem Zögern und dem flüchtigen Gedanken an Umkehr stieg ich weiter hinauf. Ich hatte keine Angst, und wahrscheinlich spielte mir nur mein Gehör einen Streich: es mochte der Wind gewesen sein, ein Nachtvogel, ein Tier ... Die Plattform war denn auch leer, niemand wartete dort. Ich zuckte die Schultern, trat an die Brüstung heran und schaute.

Unten lagen die Gräber, still, friedlich, im Mondlicht wirkten ihre Linien weicher. Der marmorne Engel über der Reissmannschen Grabstätte, der bei Tag immer aussah, als frage er dich streng nach jeder Schuld in deinem Leben, hob seine rechte Hand jetzt nicht mehr wie ein Ankläger, sondern wies mit tröstender Gebärde nach oben. Und die uralte, ehrwürdige Gruft meiner Familie - wir gehören seit über fünfhundert Jahren zur Oberschicht der Stadt - schien mir mit einem Mal beinahe anheimelnd. Als kleiner Junge hatte ich mich vor ihr gefürchtet; mit dem Älterwerden verlor sich diese Furcht; nun, jenseits der Vierzig, suchte ich die Gruft in unregelmäßigen Abständen auf, um der Toten zu gedenken oder einfach nur nach dem Rechten zu sehen. Ich tat meine Pflicht, meist recht gleichgültig, gern und bewegten Gemüts wohl nur an den Sterbetagen meiner Eltern und meines geliebten Großvaters, des Vaters meiner Mutter. In jener Nacht aber hatte ich den Eindruck, als müsse ich mich nur dort, inmitten der schweigenden Katafalke, auf den für mich bestimmten Platz legen und einschlafen, und alles wäre gut. Der Ruf war so stark, dass ich mich schon halb von der Brüstung abwandte, den ersten Schritt auf die Turmtreppe zu tat - da erinnerte ich mich, weswegen ich hier oben stand, und sah mich weiter um.

Die Stadt: ich kannte die Stadt nur allzu gut. Sie ist nicht groß, und ich habe, abgesehen von fünf Jahren des Studiums und einigen Reisen, mein gesamtes Leben in ihr verbracht. Jetzt fiel es mir nicht schwer, jeden Platz zu benennen, Hotels und Pensionen an ihren erleuchteten Fenstern zu erkennen, die Straßenzüge anhand der Laternen zu identifizieren und die roten Warnlichter für Flugzeuge (ich überlegte, ob ich jemals ein Flugzeug an unserem Himmel gesehen hatte) den höchsten Schornsteinen zuzuordnen: Kresslers Süßwarenfabrik im Süden, Hagedorns Suppen und Soßen im Westen, Untherreuthers Autoteile im Norden.

Über den Platz vor dem Friedhof bewegten sich noch ab und zu Menschen, bisweilen in größeren Gruppe: Die Abendvorstellung eines Kinos oder Theaters schien zu Ende zu sein. Ein Taxi näherte sich der Einfahrt Brunnenstraße, blieb vor dem großen Eckhaus stehen, nahm nach drei, vier Minuten seinen Fahrgast auf und entfernte sich mit erloschenem Schild - für mich ein völlig lautloser Vorgang. Die Höhe und Abgeschiedenheit des Turms trennten mich von allen Geräuschen. Die Gasse hinter der Mauer, an welcher er sich erhob, war für Fahrzeuge aller Art gesperrt. Auch ging man nachts nicht gern durch sie hindurch, was ich immer einer abergläubischen Furcht vor dem Friedhof zugeschrieben und insgeheim belächelt hatte.

Jetzt glaubte ich den wahren Grund zu erkennen: es war die Nähe des Turms, der man aus dem Weg ging. Unbestreitbar hatte er, selbst in dieser warmen, milden Julinacht, etwas Kaltes. Nichts Körperliches: der glatte Basalt hatte seine tagsüber aufgespeicherte Wärme noch nicht verloren. Sein tiefes Schwarz mochte den Eindrück von Kälte verstärken, doch diese selbst kam nicht aus physischen Dimensionen. Mir schien es, als hole der Turm sie auf irgendeine Weise direkt aus meinem Inneren, als zerre er die Erinnerung an alle einsamen, traurigen, wut- oder hasserfüllten Stunden hervor, die ich jemals erlebt hatte, und verwandle sie in ein kaltes Zittern, das den ganzen Körper in Wellen überfiel - tatsächlich hatte ich angefangen, mir die Hände warmzureiben (vergebliches Unterfangen!), und meine Zähne schlugen aufeinander. Was jedoch diese Reaktion in mir auslöste, verstand ich nicht; der Turm war ein ganz normaler Turm, bemerkenswert höchstens durch seine Schlichtheit, fast Langweiligkeit. Trotzdem ...

Ob es bei Straubenhobers anderen Gebäuden ebenso war? Bei jenem skurrilen, phantastischen, an Launen der Natur erinnernden Bauwerken, die sich in Sydney, Tokio, New York, Johannesburg und wer weiß wo erhoben? Wahrscheinlich nicht, antwortete ich mir im nächsten Augenblick selbst: Sie sind so anders als das hier, sie mögen vielleicht verrückt sein, aber auf freundliche Weise ...

Und dann, ganz zufällig, ich hatte nicht danach gesucht, ich hatte ja nicht einmal den Schatten einer Ahnung gehabt, dass es so etwas geben könnte - dann entdeckte ich den zweiten Turm, die Vorlage für die Kopie aus schwarzem Stein, auf der ich zitternd stand, die mir solche Angst einflößte und doch, gemessen an ihrem Urbild, beinahe lächerlich wirkte. Den zweiten Turm hatte kein Mensch erbaut - dafür war er zu ... endgültig. Von absolutem Schwarz. Vollkommene Finsternis. Nicht nur, dass er Sterne und Lichter verdeckte: auch da, wo er nicht war, war in seiner Umgebung kein Licht zu sehen; ganz so, als sauge er alles auf, wie ein Schwarzes Loch im All.

Er erstreckte sich von der Erde zum Himmel in unbarmherziger Geradheit und Glätte. Obwohl er kilometerweit entfernt sein musste, konnte ich seine Mauern wie aus nächster Nähe erkennen, ohne einen Vorsprung, ohne eine einzige Unregelmäßigkeit, ohne jede Fuge.

Und was bedeutete "von der Erde zum Himmel"? Eine Narretei des Verstandes, hervorgerufen durch die erinnerten Bilder dutzender Türmen, die alle begannen und endeten, Basis und Spitze hatten: dieser hier nicht. Das Auge wollte sehen, was es hätte sehen müssen - was Gedächtnis und Gewohnheit ihm vorschrieben. Wir fälschen pausenlos die Daten, die die Welt uns übermittelt; nur so bleibt sie für uns ein erträglicher Ort. Hier jedoch versagte alle Kunst der Selbsttäuschung. Dieser Turm stand auf Nichts, er erhob sich ins Nichts - nein, auch das schon wieder eine Täuschung, weil das Eigentliche, was zu sehen war, nicht ins Schema einer durchdrungenen, erklärten, in Vorgänge, Zustände und Formeln sortierten Welt passte. Es war schlimmer. Der Turm war Nichts. Ein Loch in der Erde, ein Loch am Himmel, ein Riss durch die Welt.

Und er wuchs. Ich stand auf der Plattform seiner lächerlichen Kopie und starrte hinein in dieses Nichts, starrte und starrte. Die Zeit schien stillzustehen und gleichzeitig zu verfliegen, ich fühlte Jahrhunderte quälend langsam an mir vorbeiziehen und sah doch den Riss schneller und schneller wachsen, alles verschlingend, allem ein Ende bereitend. Er würde nicht von selbst zum Stillstand kommen, und nichts konnte ihn aufhalten. Ich wusste nun, warum Julius Pfannzell sich umgebracht hatte - denn da, wo am Tag sein Weinberg, sein Haus, seine Gärten zu sehen waren, da erkannte man in der Nacht den Riss. Pfannzell muss ihn gesehen haben, zuerst vielleicht nur ein kleines Loch in einem Keller, das sich ausbreitete, anfangs um Millimeter, dann um Zentimeter, um Meter - und irgendwann hatte Pfannzell es nicht mehr ertragen können. Und dann Straubenhober - auch er, wer weiß zu welchem Anlass, hatte den Riss gesehen, wie ich ihn jetzt sah, gefühlt, wie ich ihn fühlte; aber er war nicht daran gestorben, er, der Künstler, hatte hier, auf unserem Friedhof, Sein Abbild geschaffen, eine Warnung für alle, die Augen hatten zu sehen. Und war dann fortgegangen, hinaus in bessere Gegenden der Welt, wo seine extravaganten, unwirklichen Kreationen ihn überdauern würden - für eine kleine Weile, denn Es wuchs. Es würde sich nicht mit unserer Stadt begnügen, würde Berlin erreichen und München, Sydney ebenso wie New York, Johannesburg genau wie Tokio. Ich schaute auf die Apokalypse, die keine himmlischen Heerscharen ins Gute wenden würden; nichts konnte dem Tier wehren. Es gab keine Heerscharen. Bald würde es nicht einmal mehr einen Himmel geben. Und das Tier war nicht zu töten; weil Es Nichts war.

Aber dann, mit einem Mal, machte mich das, was ich sah und was ich wusste, vollkommen ruhig. Ich hörte auf zu zittern, ich fror nicht mehr. Warf noch einen letzten Blick hinüber und verließ dann die Plattform, ohne Hast und ohne Angst; ich atmete tief und gleichmäßig, und als ich daheim in den Flurspiegel schaute, bemerkte ich, dass ich lächelte. Ich schlief in dieser Nacht wunderbar, schlief bis in den späten Morgen hinein, in einen Morgen, der den Verfall nicht zeigt. Dann fuhr ich hinüber in Pfannzells Weingärten, wo die Rebstöcke zwar keine Früchte mehr tragen, aber mittlerweile ein Ausflugslokal eröffnet hat, welches immer gut besucht ist, die Gegend ist angenehm und mild. Ich trank dort, auf der offenen Terrasse, einen 97er Dornfelder, einen guten trockenen Roten; kein Sauckenberg doch immerhin ... Er schmeckte mir. obgleich ich die ganze Zeit wusste, was um mich war. Wir sehen Es tagsüber nicht und auch des Nachts vielleicht nur von Straubenhobers Turm aus; aber Es ist, Es greift um sich, wird eines Tages unsere Stadt erreichen. Was wird dann geschehen? Ich vermute, wir werden auch dann noch unsere Leben führen, unsere Arbeit tun, unsere Kinder großziehen, Touristen versorgen, uns streiten und versöhnen ... Aber es werden keine Kinder mehr zur Welt kommen, wir werden sein wie Julius Pfannzells Haus und Weinberge und Reben, nur noch Tagschatten der verlorenen Dinge, fruchtlose Schatten. Macht mir das Angst? Nein, seltsamerweise nicht. Ich werde mich nicht umbringen. Ich werde auch nicht die Stadt verlassen. Was sollte das nützen? Hier, wo ich herkomme, wird mein Vergehen am sanftesten sein.

© 31.10.2002, Peter Schünemann
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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