Ich begegnete Prof. Lukas das erste Mal wenige Monate vor seiner bedeutungsvollen
Reise nach Paris, auf einer Stehparty nach einem Konzertabend in Zürich.
Ein Bekannter stellte uns einander vor und wir unterhielten uns ausgezeichnet
über die soeben gehörte musikalische Darbietung, wobei ich die bemerkenswerten
Kenntnisse von klassischer und allgemeiner Musik beim dem Fünfundfünfzigjährigen
zu schätzen lernte. Was um so erstaunlicher war, als er auf ein lobendes
Wort meinerseits verschmitzt lächelnd darauf hinwies, daß er keineswegs
diese Kunst studiert habe, sich sein Wissen quasi in seiner Freizeit, aus privatem
Interesse angeeignet hatte. Seiner Qualifikation hatte das in keinster Weise geschadet,
er verstand einiges mehr von den klassischen und zeitgenössischen Komponisten
als mancher blasierte Universitätsabgänger es je würde.
Hin und wieder, so erzählte er mit seiner ruhigen, gesetzten Stimme, würde
er Konzertkritiken für das Feuilleton schreiben. Allerdings nur, um sich
mit diesen und anderen Publikationen, beispielsweise über weitgehend in Vergessenheit
geratene, historische Instrumente, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sein eigentliches
Interesse seien vielmehr unbekannte Talente und die Entdeckung derselben; keine
"Studierten", sondern Musiker mit einer Begabung, wie man sie nicht
einfach lernen könnte; Genies, berufen zur Musik und doch durch Ignoranz
der Gesellschaft unterdrückt und dazu bestimmt, niemals den Bekanntheitsgrad
und die Anerkennung zu erlangen, welche ihnen zustünden. Sonderlich häufig
fände er solche Begabten nicht, aber wenn, dann fast ausschließlich
in den unteren Schichten der Gesellschaft, wo sie nie die Chance auf Förderung
erhielten und sich ihr Überleben durch mindere Tätigkeiten oder Tingel-Tangel-Engagements
sicherten.
Auf meine Frage, wie vielen er denn nun schon zur Berühmtheit verholfen habe,
mußte er eingestehen, das es soweit noch nicht gekommen sei, aus verschiedenen
Umständen, die er nicht näher erläutern wollte. Aber, so fuhr Prof.
Lukas fort, kürzlich in Paris habe er einen Mann gehört, der, nun, man
kann es nicht beschreiben, er spiele einfach phantastisch, wie ein Wirbelwind,
und Melodien, wie sie sein Ohr noch nie zuvor vernommen habe. Ganz eigene Kompositionen,
mit einer Kraft und düsteren Imagination, als stammen sie nicht von dieser
Welt, die er auf seiner Geige aber zu uns herabholt. So schwärmte er mir
an diesem Abend das erste Mal von seinem Schützling vor, wie er ihn bezeichnete,
und später immer wieder, denn Prof. Lukas und ich trafen uns fortan unregelmäßig
zu hochgeistigen Gesprächen, zu denen ich bei weitem am wenigsten gehaltvolles
beitrug. Doch der Fakt, daß ich als Handlungsreisender für exklusive
Musikinstrumente eines Schweizer Herstellers eher dröger Geschäftsmann
als von der Muse geküßter Künstler war, schien ihn nicht zu stören
und ich möchte behaupten, daß wir beide einander als gute Freunde sahen.
Um so mehr betrübte mich, was aus Prof. Lukas geworden war, nach seiner Rückkehr
aus Paris, wo er sein neuentdecktes Talent für mehrere Wochen besuchte. Ich
kann mich noch sehr gut an seine Freude vor der Abreise erinnern, sein rosiges,
lebhaftes, etwas feistes Gesicht. Ich erhielt einen begeisterten Brief von ihm
aus der Stadt an der Seine, aus der ersten Woche nach seiner Ankunft. Dies war
aber auch das letzte Lebenszeichen, bis ich nach ganzen zwei weiteren Monaten
erst einen Anruf von ihm erhielt.
Freudig wollte ich von ihm wissen, wie es denn in Paris gelaufen sei, wie lange
er denn schon wieder zurück in der Schweiz wäre und so fort, doch er
ließ mich gar nicht zu Worte kommen. Und, hätte er seinen Namen nicht
genannt, ich wüßte nicht, ob ich ihn an Stimme und Sprechweise überhaupt
erkannt hätte.
Er sprach außerordentlich hastig und sehr laut, möglicherweise wegen
einer schlechten Telefonverbindung, wie ich damals vermutete. Die Worte quollen
nur so aus ihm hervor und er berichtete, sinngemäß, von einem furchtbaren
Zwist zwischen ihm und "dem Deutschen" (jenem Geigenspieler, wie ich
schloß), ohne dabei trotz der vielen Worte auf Details einzugehen. Er sei
schon seit Wochen wieder im Land, nur habe er erst die Enttäuschung überwinden
müssen, die jener Streit in ihm hervorgerufen hatte, und sich seitdem von
allen Leuten ferngehalten. Es täte ihm leid, sich nicht wenigstens bei mir
gemeldet zu haben und er bat mich, ihn heute abend in seiner Wohnung zu besuchen.
Natürlich begab ich mich sofort zu meinem Freund, neugierig, was er zu berichten
hatte. Nun, erzählen tat er viel, praktisch ununterbrochen sprach er über
alle möglichen und unmöglichen Dinge und ließ mir so die Zeit,
neben dieser von ihm ungewohnten Verhaltensweise auch über seinen körperlichen
Zustand nachzusinnen. Er hatte ohne Zweifel ein gutes Stück abgenommen, wirkte
regelrecht ausgezehrt und die ehemals vornehm zu nennende Blässe seiner Haut
erschien mir ungesund, gar krankhaft. Seine Augen wanderten unstet umher, blieben
an nichts lange hängen, genausowenig wie sein Mund stillstand. Irgendwann
gelang es mir, seinen sich in Banalitäten verlierenden Redestrom zu unterbrechen
und ich fragte ihn ernst, ob er denn krank sei.
Tatsächlich schwieg er für einen Moment, um im nächsten schon beinahe
erschrocken von seinem Sessel aufzustehen und zu einem Grammophon zu laufen, welches
ich bis heute noch nie bei meinen zahlreichen Besuchen erblickt hatte. Dabei sprach
er wieder, hastig und übereilt, bis die ersten Töne aus dem Grammophon
erklangen, in beachtlicher Lautstärke; sie waren zwar noch nicht unangenehm,
aber auffallend. Da stellte er nun auch sein belangloses Gerede ein und legte
für eine Sekunde den Kopf leicht schräg zur Seite, als ob er auf etwas
kaum hörbares lauschen würde. Was er nun hörte oder auch nicht,
schien ihn zufrieden zu stellen, denn er ließ sich nun Zeit, wieder zu seinem
Sessel zurückzukehren, ohne dabei ein Wort zu verlieren.
Nachdem er wieder vor mir Platz genommen hatte, bedachte er mich mit einem prüfenden
Blick und wurde wohl meiner allgemeinen Verwunderung gewahr. "Mein Freund,
ich sehe das Erstaunen in Ihrem Gesicht. Sagen Sie nichts! Ich weiß, das
ich mich verändert habe. Ob ich krank bin? Vielleicht... keine Krankheit
im herkömmlichen Sinne, denke ich... Seit Paris geht es so... Sie kennen
das vielleicht, wenn es still um einen herum ist, man aber ein leises Klingeln
oder Summen im Ohr vernimmt, nach einem lauten Konzert beispielsweise, oder wenn
jemand ein Gewehr direkt neben ihnen abfeuert. In solchen Fällen ebbt es
meist wieder ab, nach einiger Zeit, nicht allzu lange... manchmal wird es aber
auch chronisch, der Volksmund nennt dies treffend Ohrensausen. Mediziner nennen
es Ohrgeräusche oder lateinisch Tinnitus. Betroffene beschreiben dieses Phänomen,
je nach Ausprägung als wenig bis sehr störend. Nun, ich befürchte,
selbst zu den Betroffenen zu gehören! Das... Konzert meines Freundes in Paris
war wohl zu viel für meine alten Ohren und hat einen wahrhaft bleibenden
Eindruck hinterlassen..."
Ich erkundigte mich besorgt, ob er denn schon in Behandlung sei; man müsse
doch etwas gegen dieses Ohrensausen unternehmen können. Mit gesenkten Lidern
schüttelte er den langsam den Kopf.
"Wenn es Sie beruhigt - ja, ich war bei einem Arzt vorstellig, bin mir mittlerweile
aber sicher, daß kein Arzt der Welt etwas dagegen unternehmen kann. In meinem
Fall... irreparabel. Fragen Sie nicht wieso, ich kann es Ihnen nicht erklären,
jedenfalls nicht heute. Wenn Sie einwenden, daß ich bei solchen Beschwerden
nicht so laute Musik hören sollte - unter normalen Umständen würde
ich Ihnen wohl recht geben. Aber verstehen Sie - diese Geräusche sind so
unangenehm, sie werden lauter, stetig und unaufhaltsam, wenn ich mein Gehör
nicht mit anderen Tönen ablenken kann. Besonders nachts, wenn es still im
Haus ist... unerträglich, sage ich Ihnen."
Ob dies denn der Grund sei, warum er so aufdringlich, Verzeihung, viel und schnell
und laut spreche, das eine Unterhaltung mit ihm fast unmöglich werde, fragte
ich.
"So ist es, ja. Für Zuhause habe ich ja dieses Ungetüm von Grammophon,
eine Spezialanfertigung übrigens - sie läuft praktisch nonstop, bis
zu zwölf Stunden! Hat mich ein Vermögen gekostet, das anfertigen zu
lassen... Sehen Sie, draußen, unter Leuten, wenn um mich herum reges Treiben
herrscht, ist es auch noch auszuhalten - doch wehe, ich laufe versehentlich in
eine stille Gasse, alleine! Manchmal... manchmal denke ich es ist diese... Melodie...
keine bedeutungslosen Ansammlungen von Tönen, produziert von einem geschädigten
Gehör..." Er sann still vor sich hin, angestrengt der Musik lauschend.
"Welche Melodie meinen Sie, Prof. Lukas? Diese, die gerade gespielt wird?
Oder eine Komposition Ihres Pariser Wunderkinds? Wer ist dieser Mann überhaupt,
Sie haben mir nie viel von ihm berichtet, nur das Sie sich mit Ihm kürzlich
zerstritten haben, vor Ihrer Rückreise."
Meine Fragen verpufften scheinbar in seinen Bemühungen zu hören (oder
nicht zu hören?) und es schien fast, als hätte er mich vergessen, bevor
er dann doch zu einer Antwort ansetzte.
"Sprechen Sie ruhig, mein Freund, Ihre Stimme ist angenehm... sie hilft mir,
dieses Töne zu verdrängen...Verzeihen Sie mir, ich kann Ihre Fragen...
heute nicht beantworten, ich bin etwas mitgenommen. Ich glaube, ich brauche ein
wenig Ruhe und sollte Sie nicht weiter mit meinen Problemen belasten."
Ich kam dieser höflich formulierten Bitte, ihn alleine zu lassen, nur ungern
nach, denn ich hatte doch einige Bedenken, was dieses unangenehme Gebrechen meines
Bekannten betraf. Es war ganz offensichtlich, daß es ihm schwer zu schaffen
machte, aber ich war außerstande, wertvollere Ratschläge zur erteilen,
als es doch mit absoluter Stille und Ruhe zu versuchen anstelle der angewendeten
umgekehrten Methode. Mit einem zaghaften Lächeln, aber diesen Vorschlag ablehnenden
Gesichtsausdruck begleitete er mich zur Tür und ich machte mich etwas verwirrt
auf den nächtlichen Heimweg.
Die kommenden Wochen und Monate verfolgte ich den langsamen nervlichen Verfall
meines Freundes Prof. Lukas vermehrt aus der Distanz. Er nahm keine Ratschläge
an und wurde in seinem Verhalten, immer mehr und lauter und ununterbrochen zu
reden, immer aggressiver und unbändiger. So, als fürchte er die Stille,
das Schweigen, wie einen Todfeind, den er mit diesen Gegenmaßnahmen in Zaum
zu halten meinte. Oh, wie schlimm war die durch dieses Verhalten ja als logisch
abzusehende Heiserkeit, die ihn einmal mehrere Tage plagte! Sein Grammophon lief
in dieser Zeit ohne Unterlaß und er begab sich kaum außer Haus in
dieser Zeit.
Selten nur sprach er in seinem Wortstrom über sich und sein Leiden, oder
gar den Aufenthalt in Paris, den ich mit fester Überzeugung als Ursache des
ganzen vermutete. Manches Mal meinte ich, ihn soweit zu haben, daß er mit
etwas bedeutsames mitteilen wollte - um diesen Gedanken dann doch unvermittelt
beiseite zu schieben. Er schien sich mit etwas zu quälen, ohne sich dazu
durchringen zu können, es mir mitzuteilen. Ich resignierte zwar nicht, respektierte
ihn aber soweit, daß ich ihn nicht weiter mit Fragen bedrängte und
versuchte, unsere gelegentlichen Besuche für ihn einigermaßen erträglich
zu gestalten.
Im Juni lief mir Prof. Lukas überraschend in der Stadt über den Weg,
schwerst beladen mit seinem besonderen Grammophon, jener Spezialanfertigung, die,
wie er mir schwitzend und mit hochrotem Gesicht berichtete, vergangene Nacht mitten
im Betrieb ihren Geist aufgegeben hat. Selten hatte ich ihn so beunruhigt gesehen!
Nun, ob er denn trotzdem gut geschlafen habe, wollte ich wissen, bemüht scherzhaft
auf seine besondere Eigenart anspielend und versuchend, den schier unbremsbaren
Redefluß zu unterbrechen. Sein gehetzter, unsteter Blick strafte meine Witzelei
sofort und ich bemerkte nun, als er das Gerät neben sich auf den Bürgersteig
abgestellt hatte, seine zitternden Hände. Mein betroffener Blick muß
sehr auffällig gewesen sein, denn sofort begann er, ganz unverfänglich
seine Hände zu massieren und zu kneten, daß man es mit der Angst bekam,
er könne sie zerbrechen.
Tatsächlich kam sein Geplappere ins Stocken und wieder hatte ich das Gefühl,
das er mir andere Dinge mitteilen wollte als das oberflächliche Gerede, das
man sonst von ihm zu hören bekam. Beinahe verschwörerisch, sich umsehend,
sprach er dann weiter. Es war dabei das erste Mal, das er mich duzte, was ich
ihm natürlich, insbesondere angesichts seines Zustandes, nicht übelnahm.
"Nein, mein Lieber, geschlafen habe ich ganz und gar nicht gut. Zunächst
habe ich nichts von der fehlenden Musik bemerkt, bis dieser Traum begann, ganz
allmählich, mit denselben sphärischen Tönen und Klängen, die
ich sonst höre, in meinem Kopf, wenn alles still ist, du weißt schon.
Sie wurden lauter, mischten sich mit ganz fremdartigen Nuancen, mit keinem Instrument
das ich kenne zu beschreiben, oder gar reproduzierbar, schmerzend, bohrend, wie
ein pulsierendes Geschwür, das meinen Kopf sprengen wollte. Ich wachte schließlich
davon auf, dem Himmel sei Dank, ich glaube, das noch etwas weitaus Schlimmeres
diesem Klangchaos gefolgt wäre. Frag mich nicht was, ich weiß es nicht
und werde es hoffentlich niemals erfahren! Die ganze verbliebene Nacht habe ich
wachgesessen und laut aus den verschiedensten Büchern vorgelesen, um mich
zu beruhigen. Deswegen bin ich, verzeih, so unausgeruht, ich weiß, ich bin
eine Nervensäge, ich sollte dich nicht mit meinen Problemen belasten, meinen
besten Freund, Victor."
Wir wechselten noch einige wenige Worte, dann ließ mich Prof. Lukas sehr
nachdenklich zurück. Sein Tinnitus schien abnorme Maße anzunehmen und
ich beschloß, mich bei Gelegenheit umzuhören, bei befreundeten Ärzten,
nach neuen Behandlungsmethoden für dieses Phänomen, das den armen Kerl
so sehr mitnahm. Die ganze Bedeutung und Tragweite seiner Worte war mir zu dieser
Zeit noch nicht bewußt.
Ich trat kurze Zeit später eine zweiwöchige Geschäftsreise nach
Venedig an und erfuhr erst nach meiner Rückkehr von Prof. Lukas' tragischem
Unfall. Unverzüglich machte ich mich auf, ihn in dem Luzerner Sanatorium
zu besuchen, in das man ihn verbracht hatte.
Nach einigem Hin und Her ließ man mich zu ihm, denn es stellte sich heraus,
das er mehrfach meinen Namen erwähnt haben soll während seiner "Anfälle",
wie die Ärzte es nannten. Durch sie erfuhr ich auch erst die näheren
Umstände seines Unfalls, bei dem ihn ein viel zu schnell fahrendes Auto mitten
in der Stadt angefahren und danach die Flucht angetreten haben soll. Das er dabei
durch schwere Kopfverletzungen beidseitig das Gehör verloren habe, sei wohl
als Glück im Unglück zu bezeichnen, denn sonst war er einigermaßen
unversehrt davongekommen. Allerdings hatte die Ärzteschaft wenig Zuversicht,
diesen Zustand operativ beheben zu können, er würde sich wohl damit
abfinden müssen, den Rest seines Lebens taub zu sein.
Was dies für einen Musikfreund wie Prof. Lukas bedeuten mußte, kann
man sich leicht vorstellen. So erwartete ich ihn in einem niedergeschmetterten
Zustand, doch die Realität übertraf jede Vorstellung. Mir wurde klar,
warum man ihn nicht im Krankenhaus belassen, sondern in dieses Sanatorium gebracht
hatte.
In einem winzigen Zimmer im obersten Stockwerk, immerhin mit Fenster und somit
weitreichendem Ausblick auf die Stadt, lag mein armer Freund, mit Riemen an den
Händen und Beinen ans Bett gebunden. Augenscheinlich ruhig lag er da, und
die Schwester, die mich begleitet hatte, ließ mich auf meinen Wunsch hin
mit ihm allein. Ich setze mich auf einen Hocker neben das Bett und betrachtete
sorgenvoll das ausgezehrte, fahle Gesicht von Prof. Lukas, mit dem schütteren
Haar auf dem Kissen, dessen Körper unter der dünnen, blütenweißen
Bettdecke leicht zu zittern schien (ich bin mir sicher, nicht vor Kälte).
Unter seinen geschlossenen Lidern zuckten die Augäpfel in wildem Tanz hin
und her, als plage ihn ein schlimmer Traum.
Einige Minuten saß ich wohl so da und schaute geistesabwesend aus dem hohen
Fenster in die Abenddämmerung, bis mich ein langanhaltendes Keuchen, wie
wenn jemand scharf die Luft einsog, aus den Gedanken riß. Meine Augen wanderten
zum Kopfkissen und trafen sich mit denen des Kranken, die mit schauerlichem Entsetzen
nun weit aufgerissen aus den Höhlen starrten. Ich war so überrascht,
daß ich nicht zurückwich, als es ihm gelang, mit seiner linken Hand,
obwohl festgeschnallt, meine auf der Bettkante ruhende rechte Hand zu packen.
Steif saß ich dort, fühlte seine schwitzende, jämmerlich kalte
Hand auf meiner - und erlebte den entsetzlich lauten, weibisch kreischenden Schrei
beinahe körperlich, der seinen spröden dünnen Lippen entwich.
Ich begann, tröstend auf ihn einzureden, seine Hand zu tätscheln, ihn
irgendwie zu beruhigen, in dem Moment nicht realisierend, das er ohnehin kein
Wort von mir verstand. Irgendwie gelang es mir doch, oder er erkannte mich einfach
wieder, jedenfalls verstummte er schließlich, wenn auch nur für einen
kurzen Moment. Seine Finger krallten sich in meinen Unterarm, versuchten, mich
zu ihm herabzuziehen. Gleichzeitig begann ein schier endloser Strom an Worten,
meist wirr und zusammenhanglos, dann wieder klar und deutlich, doch erzählten
sie von Dingen, wie sie, so dachte ich damals, nur das Gehirn eines Geisteskranken
wiedergeben konnte.
Ich war nun an Prof. Lukas' seltsame Sprechweisen gewöhnt, diese Hast und
Eile jedoch übertraf alles, so als hätte er etwas nachzuholen, oder
nur noch sehr wenig Zeit, in der er mir eine Unmenge von Dingen mitteilen wollte.
Unverständliche, sich aber wiederholende Fragmente, die ich nur vage lautsprachlich
als "Iäh", "Fthagn" und "Katulu Rlyeh" wiedergeben
kann, wechselten mit deutlichen Passagen, in denen er mir eine ungeheuerliche
Geschichte erzählte.
Eine Geschichte, die in Paris begann, mit einem musikalischen Talent namens Zann
(ich verstand dies als den Nachnamen, ohne mir dessen sicher zu sein), jenes Genie,
von dem er mir bei Gelegenheit immer wieder vorgeschwärmt hatte. Bei seinem
letzten Besuch in Zanns Wohnung war es zu einem Streit zwischen beiden gekommen,
wie er mir bereits früher grob geschildert hatte. Entgegen dem alten Bericht
über diesen Zwist, in dem er nicht auf die Hintergründe und Umstände
desselben eingegangen war, erzählte Prof. Lukas nun wesentlich ausführlicher.
Als mein Freund sich in derselben Nacht nach einem Spaziergang wieder beruhigt
und versöhnlich gestimmt Zanns Zimmer aufgesucht habe, hörte er ihn
eine wilde Melodie inszenieren, eindringlicher und lauter als je zuvor, eine Eigenkomposition,
die er als verzerrte Variation eines Stückes erkannte, welches Zann jede
Nacht alleine für sich spielte. Er betrat unbemerkt das Zimmer und fand Zann
wie in Trance auf einem Stuhl sitzend vor, unbändig die Saiten seiner Geige
traktierend, als hinge sein Leben davon ab. Trotzdem ihm fast das Trommelfell
barst, hörte er weiter zu, fasziniert und zugleich erschreckt von dem, was
Zann dem Instrument an Tönen entlockte, oder vielmehr entriß.
Ab diesem Punkt muß ich die Geschichte von Prof. Lukas beginnen anzuzweifeln
- oder vielmehr tat ich es zunächst, so spukhaft und surreal erschien sie
mir zu dem Zeitpunkt, dazu noch so verworren und verzweifelt von einem offensichtlich
sehr kranken Mann erzählt.
Mein Freund hatte eine unbestimmte Zeit ohne von Zann registriert zu werden an
der Tür gestanden, als auf dem Höhepunkt der inszenierten Kakophonie
die einzige Lichtquelle im Raum, eine Kerze auf dem Tisch vor dem fanatischen
Geiger, durch einen brausenden Windstoß vom offenen Fenster her urplötzlich
erlosch. Zum gleichen Zeitpunkt erhob sich zusätzlich zu Zanns Spiel ein
urgewaltiges Tosen, schrilles Kreischen, schmerzendes Pfeifen, ein Inferno. Lukas
stand in diesem Moment nicht weit vom Fenster fort, und er schilderte mir seine
Eindrücke mit fieberhaftem Glühen in den rotunterlaufenen Augen, das
ich meinte, sie würden gleich zu bluten beginnen:
"Bei Gott, Victor, stell' dir einen Windstoß vor, der keiner ist, jedenfalls
nicht so, wie er in der Natur vorkommen darf. Ein schneidend scharfes, blasphemisches
Gebilde, Ding aus irrationalen Tönen und Lauten... aber es war nicht Zanns
Melodie... es kam von außerhalb... der Himmel weiß, von woher wirklich,
von wie weit außerhalb dieser Schall zu uns herabgekommen ist... wie die
hirnlosen Flötenspieler am Hofe Dessen, Der Nicht Genannt Werden Darf, im
Zentrum des Kosmos... er hat ein Bewußtsein, da bin ich mir ganz sicher!...
es hat versucht, mit mir zu kommunizieren, direkt hier drinnen, in meinem Kopf!
Ich weiß nicht, wie ich aus diesem verfluchten Zimmer entkam, oder was mit
Zann geschah. Aber seitdem... Victor, diese Qualen, diese Schmerzen, du kannst
es dir nicht vorstellen... ein solches Etwas, das dir mit der Symphonie eines
Schwachsinnigen im Schädel herumspukt, ganz heimlich zu Beginn, das man es
noch mit lauter Sprache und Musik überlagern kann, damit es nicht zu meinem
Verstand durchdringt... kein Tinnitus, oh nein... jetzt verstehst du mein Benehmen,
nicht wahr, Victor? Ich war nicht verrückt, ich bin nicht verrückt,
das mußt du mir glauben! Der Herr sei meiner Seele gnädig... seit diesem
verdammten Unfall, als ich mein Trommelfell verlor, höre ich es ununterbrochen!"
Mir zittern die Hände bei dem Gedanken an die nun folgenden Sekunden an jenem
Abend und ich frage mich, wie weit ich bei meiner Schilderung gehen darf - ich
wünschte, mein Geist hätte sich umnachtet und mir vielleicht seliges
Vergessen beschert!
Nach seinen letzten, hinausgeschrieenen Worten verfiel er in eine gegenüber
seinem so lauten Monolog beinahe schmerzhafte Stille, lauschte, horchte... und
ich selbst meinte ein feines Singen und Klingen und Rauschen zu vernehmen... waren
es meine von seinem Reden angestrengten Ohren, oder war da wirklich etwas?
Ich blickte direkt in Prof. Lukas totenbleiches, verzerrtes Gesicht, zu dem sein
offenstehender Mund, ein schwarzes, zahnloses Loch einen krassen Kontrast bildete.
Er wisperte etwas, bildete ich mir ein, ohne die Lippen zu bewegen... ja, da kamen
Laute aus seinem Mund und ich näherte mich unwillkürlich, um vielleicht
zu verstehen, was er mitteilen wollte.
Als mir klar wurde, was es war, das ich da vernahm, war es bereits zu spät.
Aus nächster Nähe verfolgte ich mit einem seelenlosen Entsetzen die
Veränderungen, die sich in Sekunden abspielten. Ich sah Prof. Lukas' Kieferknochen
sich verschieben, verbiegen, zerbersten, sah, wie sich der Schädel rundherum
auszubeulen begann, von innen heraus, als wolle etwas aus ihm schlüpfen.
Die Adern unter der dünnen Haut schwollen gleichzeitig an, seine Augen, von
denen nur noch das Weiße zu sehen war, quollen weit, weit aus den Höhlen
hervor, unter einem ungeheuren Druck, der sich einen Weg aus seinem Haupt zu bahnen
versuchte. Die Deformationen wanderten auf seinem Kopf umher, pulsierten, formten
Beulen und Senken, und in einem letzten Aufbäumen klammerte Lukas sich mit
beiden Händen an meinen Armen fest, unentrinnbar hielt er mich im Griff -
als sein Schädel in einer Wolke aus Knochen, Hirn und Blut von innen heraus
zerbarst. Etwas anderes kam ebenfalls aus ihm heraus, umgab mich nunmehr einzigen
leben den Menschen in dem Zimmer genauso wie die abscheuliche Masse, die einmal
Prof. Lukas Gesicht gewesen war und mir nun überall am Leib klebte.
Mit der furchtbaren Explosion des Schädels wurde die Melodie freigelegt,
jene irrsinnige, idiotische Kakophonie, die meinen Freund in den Wahnsinn und
einen entsetzlichen Tod getrieben hatte, von einem geisteskranken Künstler
implantiert und stetig gewachsen. Ich fand mich in einem fürchterlichen Orkan
wieder, der alles im Zimmer durch die schiere Gewalt des Schalls durcheinanderwirbelte,
ja den Raum selbst zu krümmen schien. Ich beugte mich vor Schmerz und Grauen
über Prof. Lukas' Leichnam zusammen, die Hände auf die Ohren gepreßt,
als ob dies etwas nützte gegen den blasphemischen Chor der Schwachsinnigen,
Sterbenden, längst Toten.
Wie lange ich mich in diesem Chaos befand, vermag ich nicht zu bestimmen. Irgendwann
mußte ich das Bewußtsein verloren haben und wurde erst von einem Arzt,
begleitet von zwei ebenso wie er entsetzt dreinblickenden Schwestern wieder in
die Realität zurückgeholt. Ich lag immer noch im Krampf auf Prof. Lukas'
Krankenbett und seinen Überresten, das Zimmer war völlig verwüstet
und das hohe Fenster zerborsten, aber... es war still! Oh wie genoß ich
diese Ruhe, diesen süßen Frieden! Wie angenehm erschien mir die besorgte
Stimme des Arztes, wie normal! Ich wimmerte, lachte, weinte in einem fort und
war erst am folgenden Tag in der Lage, einen ersten Bericht von dem Geschehenen
abzugeben. Selbstverständlich habe ich das meiste, was Sie just gelesen habe,
verschwiegen, denn eines wollte ich gewiss nicht: als Patient in dieser Anstalt
landen! Ich ersann eine wirre Geschichte, von jemandem, der durch das Fenster
eingedrungen war, Lukas in den Kopf geschossen und mich niedergeschlagen habe
und dann wohl wieder unerkannt verschwunden sei, berief mich bei skeptischen Fragen
aber auf meinen Schock und fehlende Erinnerungen...
Nach gewisser Zeit beruhigten sich die Wellen wieder, und ich blieb nicht länger
in Behandlung, da sich mein Zustand den Ärzten nach wieder normalisiert habe.
Sie haben sich getäuscht.
Diese bittere Erkenntnis machte ich in der ersten Nacht, die ich wieder im eigenen
Heim verbrachte. Ich erwachte urplötzlich mit einem heiseren Schrei, lag
anschließend still und bewegungslos wach, lauschend, horchend, da ich meinte,
etwas vernommen zu haben. Wahrhaftig, nach geraumer Zeit hörte ich es. Ein
leises Wispern, ganz weit im Hintergrund, nur wenig lauter als das Geräusch
der Blut pumpenden Adern... aber es war da, in meinem Kopf. Zart, fast nur zu
erahnen, aber unerbittlich. Ich begann mit mir selbst zu reden, mir Mut zuzusprechen,
dann redete ich mal völlig sinnlose Dinge, dann wieder zitierte ich Bibelverse
und anderes, was mir in den Sinn kam, und war dann beruhigt, es nicht mehr zu
hören...
Ich wußte was dies zu bedeuten hatte. Wie sehr wünschte ich, das dieser
Effekt lediglich von einem in Mitleidenschaft gezogenen Gehör verursacht
wird. Zu gerne nur würde ich glauben können, dass jenes Ding, das bei
Prof. Lukas' Tod geboren wurde, gar nicht existierte oder wenn, durch das Fenster
entkommen ist, auf Nimmerwiedersehen. Vielleicht ist es das tatsächlich,
aber ich bin überzeugt, dass es etwas in mir zurückgelassen hat. Dieser
Gedanke, verstehen Sie, wie die Melodie... er will mir einfach nicht mehr aus
dem Kopf...
© Ingo Ahrens
© Graphik: Ingo Ahrens
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