DIE STADT DAHINTER
Peter Schünemann


An gewissen Winterabenden - solchen mit schwefelgelber, nebelverhangener Dämmerung - kann man am Rand des Marktplatzes unserer Stadt dem Pilzverkäufer begegnen. Eingeweihte erkennen ihn leicht an seinem langen fahlgrünen Mantel und seinem Bauchladen. Auf seine Kunden wartet er an dunklen Stellen, um einiges entfernt von den Ständen, Wagen und Buden, wo Fleisch und Gemüse, Käse und Fische, Glühwein oder ein Imbiss angeboten werden. Selten spricht ihn jemand an, aber das scheint ihm recht zu sein, denn auch er macht nie auf sich aufmerksam, und nicht jedem verkauft er etwas. Wie er bei solchem Geschäftsverhalten sein Auskommen findet, bleibt ein Rätsel, doch offensichtlich findet er es, denn er stand mit eben diesem Mantel und diesem Bauchladen schon da, als ich ein Kind von sechs oder sieben Jahren war und mein Vater eines Tages meine Hand losließ, mir zu warten befahl und einige Schritte ins Dunkel hinein ging, auf diesen merkwürdigen Menschen zu, der ihm entgegen nickte wie einem guten Bekannten, sofort den Deckel seines Bauchladens hochklappte, das Gewünschte herausreichte - ich konnte nicht erkennen was - und dann das Geld dafür annahm, mit nachlässiger Geste, als sei es nicht wichtig. Mein Vater, sonst immer zu Erklärungen bereit und oft genug damit mein Verständnis wie auch meine Geduld überfordernd - mein Vater verlor kein Wort über diesen Zwischenfall, den ich schnell wieder vergaß und doch hinter der Schwelle des Bewussten in meinem Gedächtnis bewahrte. Die Erinnerungen daran kehrten zuweilen wieder, in Träumen, in denen sich mir die wahre Gestalt des Händlers offenbarte: eine Un-Gestalt, die ständig fluktuierte, für eine Weile Konturen und Konsistenz gewann, dann wieder zerfloss und sich gleich darauf neu formierte, jedoch zu etwas gänzlich anderem ... Bisweilen erwachte ich aus einem solchen Traum seltsam getröstet; immer dann, wie mir mit den Jahren klar wurde, wenn ich tagsüber einen Misserfolg, eine Versagung, ein Leid erfahren hatte.

Nimmt es Wunder, dass ich, sobald ich genügend Geld in meiner Tasche glaubte, an einem der schwefelgelben Winterabende den Händler aufsuchte? Er ließ sich von mir finden - ich vermute, auch das gelang nicht jedem -, musterte mich von oben bis unten, nicht unfreundlich, eher amüsiert, und schüttelte dann den Kopf. "Nur für Erwachsene!", brachte er mit eigenartiger Klangfärbung und Satzmelodie hervor, halb knurrend, halb flötend.

Enttäuscht schlich ich davon.

In jener Nacht besuchte er mich wieder im Traum. Er trug eine seiner wunderbaren Gestalten, die einer gekrönten Königin, fast atemberaubend schön, wären da nicht einige Fehler gewesen, ein leichter Silberblick, ein kaum merkliches Hinken, eine scharfe Falte am rechten Mundwinkel - und natürlich der unpassende, doch wohl unvermeidliche Bauchladen, dessen Riemen sich über die alabasternen Schultern zogen und der zum Teil verhüllte, was das tief ausgeschnittene Kleid von den Brüsten der Frau sehen ließ. "Bald!", sagte sie, nun mit völlig melodischer Stimme, und schenkte mir ein atemberaubendes Lächeln. "Noch vier Jahre, dann ist es soweit!" - "Vier Jahre!", stöhnte ich verzweifelt. - "Sie werden schnell vergehen!", versprach sie mir, und in der Tat, sie rauschten vorüber, der Rest meiner Schulzeit, die Monate des Armeedienstes, eine Reise quer durch Indien. Als ich von dort zurückkam, musste ich nur noch wenige Wochen warten. Ich fing an, Geschichte und Philosophie zu studieren, noch nicht sicher, zu welchem Zweck - doch ich wusste, es war das Richtige.

Gegen Ende November begann für gewöhnlich die Zeit der schwefelgelben Abende. Am Buß- und Bettag absolvierte ich gemeinsam mit meinen Eltern und Geschwistern die alten Rituale, zu denen ich innerlich kaum noch in Beziehung stand. Als wir die Kirche verließen, lag der vertraute Nebel über den Dächern. Ich entschuldigte mich bei den Eltern, schob irgendein Treffen vor, das ich in eben jenem Moment erfand. Meine Mutter schaute mich verwundert an, denn üblicherweise verbrachten wir diesen Abend in Familie und bei Musik. Mein Vater jedoch nickte mir zu, mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, als wisse er schon lange über das Bescheid, was ich vorhatte.

Der Pilzverkäufer stand am gleichen Fleck wie immer. Zum zweiten Mal überwand ich nun die unsichtbare Barriere, die ihn umgab, und diesmal wurde ich nicht fortgeschickt. Er betrachtete mich lange, sehr ernst und schweigend. Ich fühlte mich geprüft, gewogen. Zu leicht befunden? Allmählich kroch Verzweiflung, kalt und schwarz, die dunklen Schächte in meinem Denken empor, mit Mühe bewahrte ich Haltung. Endlich aber nickte er, lächelte - atemberaubend, trotz seines faltigen, unrasierten Gesichtes -, klappte den Deckel des Bauchladens hoch, sagte "Sehen Sie! Wählen Sie!" und deutete auf die Reihen von kleinen, runden Gläsern, die da eng an eng standen, es schienen viel mehr zu sein, als der Kasten fassen konnte, sie waren kaum zu zählen. Eins erregte sofort meine Aufmerksamkeit, ein purpurrotes, in dem es auf und nieder wolkte. Doch das war wohl eine optische Täuschung, denn als ich es in der Hand hielt, erkannte ich darin nichts als getrocknete Pilze.

"Ein Krümelchen täglich genügt!" Er deutete mit Daumen und Zeigefinger die ungefähre Größe der Portion an, sagte, was ich ihm schuldig war, und nahm mein Geld entgegen, mit jener fast wegwerfenden Geste, die ich schon kannte. Er machte sie zu Recht; es kam nicht an auf die wenigen Münzen, diese armseligen Symbole, der Preis war ein anderer - ich wusste nicht, welcher, aber ich akzeptierte ihn. "In einem Jahr - wieder hier!", setzte er noch hinzu und bedeutete mir dann zu gehen, es gab nichts mehr zu tun oder zu reden; aber als ich mich schon etliche Schritte entfernt hatte, rief er mir nach: "Probieren Sie's hier, das wird Ihnen gefallen!" Ein gedämpftes Lachen folgte, amüsiert, doch nicht unangenehm.

Ich dachte gar nicht daran, diesen Rat zu missachten, im Gegenteil: Ich öffnete sofort das Glas und schnupperte neugierig an den Pilzen. Sie rochen nach Rauch, Mandeln, Zimt und etwas Undefinierbarem, Spritzigem. Pilze? Wohl eher nicht; dies hier glich keiner Speise oder Droge, die ich kannte. Ich beschloss trotzdem, es weiterhin "Pilze" zu nennen, der erste Einfall schien mir der beste. Vorsichtig brach ich ein Stückchen ab, legte es auf die Zunge, die sofort angenehm zu prickeln begann, schraubte das Glas wieder fest zu, steckte es sorgsam in die Manteltasche und schluckte endlich, endlich die winzige Portion hinunter.

Zuerst geschah nichts. Nur das Aroma der Probe lag wie eine Wolke in meinem Mund. Dann jedoch, urplötzlich, überflutete es meinen ganzen Körper. Ich blieb einen Moment lang stehen, mit geschlossenen Augen, gab mich dem Genuss hin, der mich frei und leicht machte, wartete eine Weile, ob noch etwas geschehen würde - aber selbst wenn nicht: allein dieses Gefühl wäre genug gewesen - und öffnete schließlich die Augen.

Und ich sah anders.

Da war noch immer der Marktplatz, in seiner Mitte erhob sich der Rote Turm, neben diesem rumpelte eine Straßenbahn über die Gleise, gerade verschwand ihr erster Wagen um die Ecke, und ihr letzter gab wieder den Blick auf das Denkmal des Komponisten frei, der in unserer Stadt geboren, aber woanders zu Weltruhm gelangt war. Die beiden großen Kaufhäuser, die Banken, das Rathaus und das Stadthaus - alles war noch da. Die wenigen Passanten, die ich bemerkte, gingen wie immer, waren gekleidet wie immer ... und doch wirkte dies alles, das ganze vertraute Panorama, durchscheinend, sich verlierend, war ein blasses Bild vor der Realität, die dahinter erschien: die andere Stadt.

Kleine Häuser, dicht gedrängt um den Turm, der als einziger Teil der gewöhnlichen Welt seine Konsistenz wahrte, denn es hatte ihn auch schon damals gegeben. Enge Gassen. Auf einer stand ich, und doch stand ich zugleich auf dem weiten Marktplatz - nur, ich fühlte die Gasse deutlicher. Und sprang zur Seite, als über mir ein Fensterladen aufgestoßen wurde, mit dumpfen Klang gegen die Hauswand prallte. Keinen Augenblick zu früh: ein Schwall von etwas Warmem, Dampfendem, stark Riechendem schoss knapp an mir vorbei, klatschte aufs Pflaster, verlief sich. Ich schaute nach oben: ein Mädchen hatte einen Topf ausgegossen, sie lachte schelmisch, nicht über mich, nein, über einen Burschen aus ihrer Welt, der nicht so viel Glück wie ich gehabt hatte und dessen eines Hosenbein nun durchnässt war. Doch er fluchte nicht, sondern warf ihr eine Kusshand zu. Es blitzte in ihren Augen auf. Sie nickte mit dem Kopf, hielt fünf Finger und dann noch einmal drei in die Höhe. Er zwinkerte verschwörerisch. Ich erriet den Sinn des stummen Gesprächs und beneidete ihn heftig. Gleich darauf verschwand ihr dunkler, schwerer Zopf, der aus dem Fenster gehangen hatte, und sie schlug den Laden wieder zu.

In den folgenden Wochen kehrte ich oft zurück in die andere Stadt, die ich bei mir "die Stadt dahinter" nannte. Infolgedessen veränderte sich mein Leben: Die Philosophie gab ich auf, um mich ganz der Geschichte zu widmen, vor allem dem späten Mittelalter; und in den regionalhistorischen Seminaren war ich bald ein gern gesehener Gast, der zur Freude des alten, weißhaarigen Lehrstuhlinhabers mit Detailwissen über das fünfzehnte Jahrhundert zu glänzen vermochte. Ich hörte Vorlesungen, beteiligte mich an Diskussionen, las viel und hielt selbst Vorträge, verbrachte lange Stunden in Archiven, in Kirchen, auf Friedhöfen und schrieb gegen Ende des Semesters eine Arbeit, die auffiel und den ersten Schritt zu akademischen Ehren bedeutete; doch all das tat ich leichthin, es mühte nicht sonderlich, ja ließ mich in gewissem Sinne gleichgültig. Mein wahres Leben begann, wenn ich eine Portion der Pilze auf die Zunge nahm, nie mehr und nie weniger als zu Anfang. Es mochte eine Droge sein, aber sie machte nicht süchtiger, und immer führte sie mich zuverlässig in die Stadt dahinter.

Mit der Zeit lernte ich, mich hier sicher zu bewegen. Anfangs wich ich noch den Schemen aus, die zu meiner gewöhnlichen Welt gehörten, seien es die von Menschen, Hunden, Fahrzeugen oder Gebäuden; ich betrachtete sie als Hindernisse. Doch eines Tages im Sommer folgte ich gedankenversunken einer Gasse und gelangte unverhofft auf einen kleinen Platz mit einem Brunnen, um den Buden und Bänke standen; Leute saßen hier, aßen, tranken, redeten, lachten und schauten Gauklern zu, die ihre Kunststücke zeigten. Der fröhliche Lärm brachte mich wieder zu mir, ich blickte mich um und erkannte an den Schemen, dass ich zugleich auf der Nordseite unseres Marktes stand, mitten im Erdgeschoss des großen Kaufhauses; ich hatte es einfach durch die Wand betreten, ohne das zu bemerken! - Erst von da an konnte ich die Stadt dahinter wirklich durchstreifen.

Ab und zu begegnete ich dabei auch anderen Menschen aus meiner Welt, die sich hier aufhielten. Meist gingen wir einander aus dem Weg, wechselten nur gelegentlich ein paar oberflächliche Sätze. Nach und nach allerdings kam ich mit einem der anderen Besucher in nähere Beziehung. Er arbeitete als Geschichtslehrer am Benedict-Thurm-Gymnasium, unserer traditionsreichen städtischen Lehranstalt, und wünschte sich sehr, mit eigenen Augen zu sehen, wie Thurm sie erbauen ließ; doch würde das hier erst in zweihundert Jahren geschehen. "Leider. Dabei ist die Quellenlage so unsicher", sagte er, "wir wissen längst nicht alles. Es hat damals etliche merkwürdige Vorfälle gegeben ... - Nun gut. Vielleicht ..." Er brach ab, aber ich erriet seine Hoffnung: eines Tages im Kasten des Pilzverkäufers das richtige Glas zu finden und dann alle Rätsel zu lösen. Ich erkannte einen Gleichgesinnten, er wohl ebenso; von da an sprachen wir häufig miteinander, auch über wichtige Fragen wie die, ob wir hier irgendwann einmal Substanz gewinnen würden. Die Bewohner der Stadt dahinter ahnten nämlich nichts von uns, was zumindest ich sehr bedauerte, denn ich konnte das Mädchen vom ersten Abend nicht aus dem Kopf bekommen. Sie war nun mit jenem Burschen verheiratet und erwartete ein Kind, doch ihr Blick blitzte noch so wie früher, sie schaute auch anderen Männern nach, also wäre es doch möglich gewesen, dass ... Ich wusste nicht, was meinen Gesprächspartner antrieb, wir redeten nicht darüber, aber glaubten beide, mit jedem Besuch hier ein wenig wirklicher zu sein. Was uns vor allem Hoffnung - worauf eigentlich? - machte, waren, seltsam genug, die Gefahren.

Ja, Gefahren; kein Paradies ohne Schlange. Die Wirkung des Pilzes setzte von einem Moment auf den anderen aus; ahnte man diesen Zeitpunkt nicht vorher, konnte es einen das Leben kosten. Ein Mann, den ich flüchtig kannte, bestieg hier einmal den Turm einer Kirche, die dort längst verschwunden war, und stand noch da oben, als es ihm passierte; er stürzte im freien Fall ab und brach sich auf dem gewöhnlichen Pflaster das Genick. Ich, der stumme Beobachter, sah drüben die Schemen von Krankenwagen, Polizisten und schockierten Zeugen. Niemand konnte sich diesen Unfall erklären; anderntags enthielten selbst die seriösesten Blätter nur Spekulationen. Wie auch nicht? Der Mann war buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht, weit entfernt von allen erhöhten Punkten, die es dort auf dem Markt gab. - Oder jene Frau Ende Dreißig, der ich oft begegnete, die aber nie mit mir sprach: Sie blieb in einer Wand stecken und starb darin. Einige Tage später las ich die Vermisstenmeldung und erwog, telefonisch einen Hinweis zu geben, doch das schien mir am Ende zu riskant: Die Kriminaltechnik war sehr fortgeschritten, ich wollte nicht aufgespürt werden und vielleicht im Irrenhaus enden.

Das Grässlichste und zugleich Seltsamste aber widerfuhr meinem Bekannten, dem Lehrer, der zu Hause als bedeutender Heimatforscher galt und mit seinen Ergebnissen die Fachwelt schon oft verblüfft hatte. Was Wunder! Er beobachtete alles hier sehr genau und speicherte es gründlich in seinem Gedächtnis; oft murmelte er pausenlos vor sich hin, so angestrengt memorierte er. Alle Notizen nämlich, die man hier machte, waren drüben wieder verschwunden, zurück blieben leere Blätter. Also prägte er sich jedes Detail tief ein, um es nach seiner Rückkehr sofort aufzuzeichnen. Er brachte es darin zur Meisterschaft; ich las mehrere seiner Arbeiten und war von ihrer exakten Bildhaftigkeit sehr beeindruckt.

Als ich ihn zum letzten Mal sah, betrat er gerade das Haus des Apothekers Piscator. Drei Tage später meldete die Zeitung auch sein Verschwinden. Ich glaubte zunächst, er sei ebenfalls ein Opfer des plötzlichen Aussetzens geworden, wenn auch nicht in Piscators Haus, denn dieses stand mitten auf einem der Plätze unserer Stadt. Gewöhnliche Wände, in denen man stecken bleiben konnte, gab es da also nicht, und der Lehrer, mit all seiner Erfahrung, hatte gewiss keinen Keller betreten, nachdem er schon eine Weile hier gewesen war. Was aber dann? Ich wollte es herausfinden, nicht nur, weil mich das Rätsel verunsicherte, sondern auch in der Hoffnung, ihm vielleicht doch noch helfen zu können.

Dann aber hörten die Kunden eines Obsthändlers unter dessen Stand ständig ein dumpfes Stöhnen und Lallen; es schien aus dem Boden zu kommen. Man grub schließlich an der Stelle nach und stieß auf eine Gruft. Darin lagen ein uraltes Skelett - und ein lebendiger Mensch mit schlohweißem Haar und blutig gekratzten Fingern. Der Unglückliche blickte gehetzt um sich, mit flackernden Augen, er jammerte und klagte unverständliches Zeug; man brachte ihn erst in ein Krankenhaus, dann in die Psychiatrische Anstalt unserer Stadt. Wie der Lehrer - ja, er war es! - in diese Lage geraten war, konnte sich abermals niemand erklären: das Grabmal war völlig von festem Erdreich umgeben, es gab nirgends einen Zugang zu ihm. Ein neues Mysterium, für mich noch mehr als für jeden anderen, denn die Gruft barg die sterblichen Überreste Piscators, in der Stadt dahinter aber war der Apotheker auch weiterhin noch sehr lebendig. Er hatte noch nicht einmal eine Grabstätte gekauft.

Von da an betrat ich Häuser nur noch am Anfang meiner Besuche, wenn die Wirkung der Droge gerade erst eingesetzt hatte, und nie blieb ich länger als dreißig Minuten darin. Eine Stunde, so wusste ich aus eigener Erfahrung und von anderen, betrug die kleinste Zeitspanne der Transformation - also sollte meine vorsichtige Beschränkung genügen. Doch eine unangenehme Anspannung verließ mich nie mehr, und ich begrub alle Hoffnungen, mit dem freizügigen Mädchen in näheren Kontakt zu kommen. Zu Hause forschte ich in den Archiven nach weiteren seltsamen Vorfällen; ich wollte vor allen Gefahren gewarnt sein. In dieser Zeit verlor ich immer mehr den Kontakt zu anderen Menschen, selbst zu meiner Familie. Universität, Essen, Haushalt, Archiv, Transformation und Schlafen - aus diesen Versatzstücken baute ich meine Tage. Meine Mutter, die von mir als Ältestem bald Enkel erwartet hatte, tröstete sich mit meiner Gelehrtenlaufbahn und den Möglichkeiten, die meine Geschwister ihren großmütterlichen Instinkten boten. Mein Vater sah mich stets nur wissend an, schwieg aber. Ich überlegte bisweilen, wohin er wohl gehen mochte, wenn er seine Portion hinunterschluckte - in der Stadt dahinter war ich ihm nie begegnet. Doch ich fragte ihn nie danach.

Ich hätte es tun sollen.

Mein Jahr war fast herum, als ich während meiner Besuche einige seltsame, ja bedrohliche Veränderungen bemerkte. Die Häuser warfen eigenartige Schatten, die nach mir zu greifen schienen. Aus Augenwinkeln trafen mich Spuren von Blicken - noch kein bewusstes Wahrnehmen, aber die Vorstufe dazu. Bisweilen wich mir jemand aus, zögernd, ihm war nicht klar, warum er das tat - doch er tat es. Und als ich einmal längere Zeit vor einem Haus stand, um seine Giebelschnitzerei zu betrachten, spähte eine alte Frau mit besorgtem Gesicht heraus, sah die Gasse hinauf und hinab, als spüre sie eine Gefahr, bekreuzigte sich dann und schlug die Tür heftig zu. Ich erschrak, ging schnell fort, und bis die Wirkung des Pilzes nachließ, streifte ich unruhig umher, gepackt von einer Art faszinierter Furcht. Was geschah mit mir? Ich hatte mir gewünscht, hier an Substanz zu gewinnen, doch alles, was ich inzwischen über die vielen mysteriösen Vorfälle wusste, legte mir nahe, besser nicht darauf zu warten. Und zugleich war mir klar: Ich würde so weitermachen, würde die Pilze - oder was auch immer - weiter zu mir nehmen und mir von ihnen die Welt verwandeln lassen; obwohl ich mir nun nicht mehr sicher war, wer sich verwandelte: die Welt oder ich selbst.

Am nächsten Buß- und Bettag ging ich wieder in jene dunkle Ecke des Marktplatzes, traf ihn dort an, erhielt ein neues Glas. Wir wechselten dabei kein Wort, und als ich einmal den Mund öffnete - warum? um Aufklärung zu erbitten? aber worüber? -, schüttelte er knapp den Kopf und presste die Lippen strichdünn zusammen. Ich schluckte meine Frage hinunter, noch ehe ich sie kannte, gab das Geld, nickte zum Abschied, er nickte wieder. Ich ging - diesmal zuerst nach Hause, wo ich meinen Kauf genau betrachtete. Die Pilze rochen intensiver, würziger, fast glaubte ich, allein der Geruch könne die Transformation einleiten. Hastig schraubte ich den Deckel wieder zu.

In diesem Moment läutete das Telefon.

Ich ließ es lange klingeln, zögerte, den Hörer zu ergreifen. Warten würde nur kurzen Aufschub bedeuten, sagte ich mir, ich sollte den Anruf besser sofort hinter mich bringen, - und trotzdem, ich wollte nicht, ich ahnte ein Unheil. Nach einigem Kampf nahm ich doch ab, mit schweißfeuchten Fingern, meldete mich und hörte am anderen Ende die tränenerstickte Stimme meiner Mutter, die offenbar am Rand eines Nervenzusammenbruchs balancierte.

Mein Vater war gestern Abend nicht nach Hause gekommen, aber mein Bruder hatte in einer Eckkneipe zufällig seinen Mantel gefunden, mit einem leeren dunkelblauen Glas in einer Tasche. Sonst gab es keine Spur von ihm.

Ich fuhr sofort zu ihr. Ich tröstete sie, mit Gesten, mit vielen Worten. Über das Wichtigste schwieg ich. Auf dem Tisch stand das blaue Glas; ihm haftete noch ein Hauch Geruch an, mir fremd und dennoch eigenartig vertraut. Ich wusste nicht, in welche Welten der Inhalt des Glases meinen Vater geführt hatte, aber ich wünschte ihm, er möge dort glücklich geworden sein - so glücklich, wie er hier niemals gewesen war. Diese Erkenntnis überkam mich ganz plötzlich; erst jetzt, angesichts des Verlustes, sah ich ihn genauer, begriff seine Gesten, den Klang seiner Stimme, die verborgenen Bedeutungen seines Mienenspiels. Ich wurde traurig und wiederholte in Gedanken meinen Wunsch, er solle Glück - oder zum mindesten Frieden - gefunden haben; aber ich glaubte nicht daran. Spät in der Nacht, nachdem ein Inspektor unsere Angaben zu Protokoll genommen hatte, kehrte ich nach Hause zurück und machte dort diese Aufzeichnungen.

Ich weiß nicht, was meinem Vater geschehen ist, weiß nicht, wer dieser seltsame Händler sein mag und wohin seine zwiegesichtigen Gaben uns bringen. Ich weiß nur: Ich werde auch weiterhin diese Gaben annehmen, mit wachsender Angst, von ihnen verschlungen zu werden. Aber ich kann nicht mehr auf sie verzichten. Wenn ich am nächsten Buß- und Bettag noch lebe, möchte ich kein purpurnes Glas wählen, sondern ein dunkelblaues. Ich wünsche mir das so sehr wie sonst nichts auf der Welt. Wie alle sehnlichen Wünsche wird sich auch dieser wohl nicht erfüllen. Dennoch werde ich nicht von ihm lassen, ebenso wenig wie ich davon lassen kann, morgen wieder die Stadt dahinter zu betreten, die vielleicht wirklich zu einer vergangenen Welt gehört, vielleicht auch zu etwas ganz und gar Anderem; aber das ist für mein Schicksal ohne Bedeutung.

© Peter Schünemann, April/Mai 2002 (neu überarbeitete Fassung)
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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