PRATTS MANIFESTATIONEN
E. M. Angerhuber


Ich kam spät wie immer nach Hause, zur gewohnten Stunde, und zog mich wie gewöhnlich im dunklen Zimmer vor dem Spiegel aus. Es war kalt in der ungeheizten Wohnung, draußen fiel ein nicht enden wollender Schneeregen, der meinen Mantel durchnäßt hatte und mir die Haare am Schädel kleben ließ. Ich rekapitulierte die vergangenen Stunden:
Pratt hatte einmal wieder jede Menge Unnützes und Überflüssiges erzählt. Nicht nur daß seine egozentrischen Redensarten überflüssig waren, nein, sie hatten sich auch schon des öfteren als gefährlich, geradezu wahnwitzig erwiesen. Pratt schien ein verborgenes Vergnügen daran zu empfinden, anderen seine paranoiden Ängste aufzuzwingen und jede gute Stimmung im Keim zu ersticken. Immer wenn er die Cafébar betrat, wo unsere Freunde sich am fortgeschrittenen Abend zu treffen pflegten, und uns zusammensitzen sah, mußte er sich dazwischendrängen und mit seinen bedrückenden Reden für Verwirrung sorgen. Er war gewiß nicht beliebt, dennoch hatte ihm noch nie jemand die Meinung gesagt. Vielleicht aus Mitleid oder aus einem anderen, mir nicht einleuchten wollenden oder unbekannten Grund. Pratt gehörte schon länger als ich dazu, vielleicht war er vor Jahren ein gerngesehener Gast gewesen, ein unterhaltsamer oder charmanter Mensch. Diese Zeiten schienen jedoch schon lang vergangen zu sein.

Während ich meine Kleider über die Rücken einiger Stühle hängte, erinnerte ich mich an das, was Pratt an diesem Abend gesagt hatte.
"Das wahllose Einschlürfen der Lettern", hatte Pratt gesagt, "ist die schlimmste Folge der Ahnungslosigkeit. Wenn man die richtige Mischung nicht trifft, entstehen fatale Folgen. Sogar die fatalsten Folgen, auch wenn ihr euch in diesem Augenblick nichts Fataleres vorstellen könnt als das Versiegen der Bierquelle."

Das war nur eine von Pratts üblichen Redensarten, und so oder ähnlich hatte ich die Warnung vor dem "wahllosen Einschlürfen der Lettern" schon zu hören bekommen. In der Tat hatte keiner von uns Pratt jemals mit einem Buch in der Hand gesehen, obwohl es in unserer Cafébar durchaus üblich war, lesend allein an einem Ecktischchen zu sitzen.
"Die Zeit", hatte Pratt gesagt, "ist die erbarmungsloseste und schreckliche Macht im Universum. Sie kann durch die falsche Mischung falsch manipuliert werden, versteht ihr? Die falsche Mischung manipuliert auf die falsche Art. Nur weil ein Ding einen harmlosen Namen hat, heißt das noch lange nicht, daß es harmlos ist. Dinge mit schrecklichen Namen sind hingegen oft harmlos."

Ich ging zu Bett und wollte meine Brille in die Schublade meines Nachttisches legen, als mein Blick auf den Spiegel fiel und mir mein Gesicht blaß und mit glühenden Augen, deren Ausdruck denen von Pratt glich, entgegenstarrte. Genau so hatte Pratts Gesicht ausgesehen, als er von der falschen Manipulation der Zeit sprach. Aber keiner von uns hatte verstanden, was er meinte. Wir hielten ihn für einen harmlosen, wenngleich nervenaufreibenden Irren.
"Nur das eine Wort", hatte er geflüstert und sich verschwörerisch über die Tischplatte gebeugt, als handle es sich um eine ungeheuerliche Offenbarung. "Ein einziges Wort."

Ich schlief und träumte wirr. Vielleicht lag es am Prasseln des Schneeregens, der mein Fensterbrett mit unverminderter Härte traf, wie eine Vielzahl winziger Peitschenhiebe. Ich sah die Dinge in meinem Zimmer verändert, und was das Schlimme war: nicht nur die Dinge in dem Zimmer, sondern das Zimmer selbst war in seinen Grundzügen verzerrt, in seinen Proportionen gestört und erweckte den Eindruck, als sei es korkzieherartig in sich selbst verdreht. Wie eine Zeitspirale. Gibt es so etwas?

Ich hörte das Lied, das sie am Abend in der Cafébar immer wieder gespielt hatten. Julie hatte die Jukebox bedient, es war wohl ihr momentanes Lieblingslied. Münze um Münze hatte sie eingeworfen, um sich immer wieder nach den gleichen Takten zu drehen, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hände um den eigenen Körper geschlungen, als umarme sie sich selbst. Ihre langen blonden Haare berührten fast unsere Tischplatte, als sie vorübertanzte. Auf ihrem Gesicht lag ein ganz entrückter Ausdruck. Entrückt, wie die Worte von Pratt, der sie mißtrauisch beobachtete.
Ich hörte im Traum nicht, was er sagte, aber ich sah seine Augen Julies Bewegungen folgen. Ich fürchtete, daß an den Wänden Worte erscheinen würden, die nicht dorthin gehörten. Fatale Worte, die fatale Folgen zeitigen könnten, neongelb auf dem dunkelvioletten Hintergrund der Wände. Wie giftige Sterne, deren Arme denen abstrakter Seespinnen glichen.
Ich erinnere mich an Julies Gesicht. Es war schön und sanft, aber ihre Lippen flüsterten eine Wiederholung der Worte Pratts, wie eine Spieluhr, die man immer wieder aufzieht.

Als ich am nächsten Morgen die Wohnung verließ, lag dichter Schnee auf der Straße, und es war sehr kalt. Die Welt schien so sonderbar verändert mit dieser weißen Decke, daß es mir schwerfiel, meinen gewohnten Weg zu gehen. Unterwegs zu meiner Arbeitsstelle hielt ich den Blick auf den Boden und auf meine Füße gesenkt, denn das weiße Leuchten um mich herum blendete mich. Ich wußte: nichts von dem, was Pratt gesagt hatte, war wahr; es handelte sich bei seinen Ausführungen nur um die wirren Gedankenspielereien eines harmlosen Irren. Es lohnte sich nicht, überhaupt darüber nachzudenken. Dennoch hatten sich seine Worte wie Würmer in einen Apfel in mein Hirn gebohrt und wiederholten sich selbst ohne mein Zutun im Takt meiner Schritte. Sie schienen auf merkwürdige Art zu meinen Schritten zu passen, als seien sie genau für mich gemacht.
"Das wahllose Einschlürfen der Lettern erzeugt Schmerz und immer wieder nur Schmerz", sagten meine Schritte auf dem makellosen Weiß des Neuschnees.
Ich ging langsam zur Arbeit. Im Gebäude brannte schon Licht, obwohl es noch sehr früh war. Eigentlich war ich viel zu früh dran, aber das störte mich nicht, denn ich habe gern morgens meine Ruhe und gehe die Dinge langsam an, bevor meine Kollegen mit ihrem Geschwätz hereinströmen und alles durcheinanderbringen. Wenn ich allein im Büro bin, gehe ich um alle Schreibtische und sehe mir an, was darauf liegt. Schriftwechsel, Bestellungen, die Fotos von Angehörigen, Stifte und Schreibgerät. Im schummerigen Dunkel eines frühen Wintertages haben die Dinge im Büro eine eigene Qualität, fast wie ein eigenes Leben, das sie später, beim profanen Licht der Neonröhren, einbüßen.
Ich wiederhole gern ein Gedicht leise für mich, während ich um die Schreibtische in meinem Büro herumgehe.
Aber heute war das nicht möglich, denn die Putzfrau schien genau in meinem Büro beschäftigt zu sein, wie es der Zufall wollte. Ein unangenehmer Zufall, da ich so früh noch nicht mit der Anwesenheit eines anderen Arbeitnehmers gerechnet hatte.
Ich wartete auf der Toilette, bis sie das Büro verließ, und ging dann so leise wie möglich an meinen Platz.

Die Worte auf dem Papier verschwammen vor meinen Augen, als der Wecker schrillte. Ich hatte von Pratts "fatalen Worten" geträumt, die sich wie von selbst auf zauberische Weise dem Papier einprägten, ähnlich schwarzen Brandzeichen. Schlürfte ich diese Lettern verbotenerweise ein, obwohl sie eine fatale Wirkung zeitigten? Wahllos, in der falschen Reihenfolge, unwissentlich?
Die Worte wollten nicht vor meinen Augen stillhalten, sondern entwickelten ein eigenes Leben auf dem sandfarbenen Blatt, das Pratt mir am vorigen Abend beim Hinausgehen heimlich in die Hand gedrückt hatte. Sein Blick war der eines Verschwörers gewesen, und ich wollte ihn nicht enttäuschen, also steckte ich das Blatt in die Manteltasche und trug es mit nach Hause, wo ich es vergaß, bis es im Traum wieder vor mir auftauchte.
Das Blatt schwebte einen halben Meter über meinem Bett und schien von einer unbekannten Lichtquelle angestrahlt zu werden, die sich hinter mir befand, und war übersät mit einer Vielzahl winziger schwarzer Zeichenfolgen, die sich wie schlanke Schlangen wanden. Sie hatten keine Aussage und keinen Sinn, nur das wurmähnliche Winden und Umeinanderschlängeln, das vor meinen brillenlosen Augen verschwamm, aber eine leise Stimme schien aus dem verdeckten Raum hinter mir zu flüstern: "Die Zeit ist die dramatischste, erbarmungsloseste Macht auf der Welt. Hüte dich vor ihren Verstrickungen, die aus dem wahllosen Einschlürfen der Lettern resultieren."

Als ich an diesem Morgen mein Büro betrat, schienen die vollbeladenen Bücherregale in der großen Lesehalle mit eisigem Schweigen zu mir herabzudrohen. Millionen, unzählbar große Mengen von Wörtern drängten sich in der Bibliothek auf engstem Raum. Ich lächelte bei dem Gedanken, daß Pratt vor Angst erstarren würde, wenn er sich einer solchen Überzahl von Lettern gegenübersähe. Gewiß waren nicht alle diese Lettern auf irgendeine Art geordnet, die in Pratts Augen eine hinreichende Sicherheit vor den Verstrickungen der Zeit garantieren würde. Gewiß konnten die schlimmsten Verstrickungen aus der ungeordneten Lektüre dieser Worte entstehen, die sich dort Buchrücken an Buchrücken befanden. Aber jeder ist nur für sich selbst verantwortlich, und ich konnte nicht die Konsequenzen für Pratts Handeln oder Mißverstehen übernehmen. Mein Arbeitsplatz befand sich nun einmal zufällig in einer Bibliothek, und hin- oder hergedacht war es immer noch ein recht guter Arbeitsplatz, verglichen mit anderen.
Ich wartete auf der Toilette, bis die Putzfrau das Büro verlassen hatte, und tastete mich im Dunkeln zu meinem Schreibtisch vor, der bedeckt war mit Akten und losem Papier. Die Buchstaben auf jenen Blättern verschwammen in der Morgendämmerung vor meinen Augen, ich hob unwillkürlich die Hand und berührte meine Stirn —

— die keine Brille trug, wie es für mich an einem Arbeitsmorgen normal gewesen wäre. Ich lag im Bett, ich hatte geträumt. Wieder einmal von Pratt und seinen"fatalen Worten" geträumt. Warum nicht lieber von Julie, deren lange blonde Haare fast meine Tischplatte berührten, wenn sie entrückt zu ihrem Lieblingslied tanzte. Ich erinnerte mich an den scheelen, verschlagenen Ausdruck von Pratts Augen, die mich durch das grünviolette Gefunkel in der Cafébar anglitzerten.
"Die Zeit", hallte Pratts Stimme in meinen Gehirnwindungen wider, "ist die größte metaphysische Bedrohung, wenn man sie durch das wahllose Einschlürfen der Lettern aus dem Gleis wirft. Ihr kennt nicht ihre Gefahren. Ihr nehmt ein Buch und schlagt es auf und lest drauflos, als gälte es einen Wettbewerb zu gewinnen. Aber das wahllose ..."

Mein Schreibtisch war überladen mit Akten und losem Papier, als ich mich im Dunkeln des frühen Wintermorgens dahinter niederließ. Einen Augenblick lang legte ich meine Hände flach auf die Tischplatte und horchte still in mich hinein, wie in das Getriebe einer Uhr, die ihre Federn in meinem Innern schnellen und rotieren ließ. Pratts Worte verhallten sanft, fast unhörbar leise in der Finsternis zwischen den Bücherregalen, und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich die leuchtenden gelben Neonzeichen, die sich vor mir auf der schwarzen Tischplatte manifestierten.
Ungeordnet. Kryptisch. Stärker als du. In Unordnung, wallend, wabernd, umeinandergewunden wie schlängelnde Würmer.
Um mich vom Lesen abzuhalten, wollte ich mit der Hand meine Augen bedecken. Meine Augen, die keine Brille trugen, wie es für mich an einem Arbeitsmorgen normal gewesen wäre.
"Nur das eine Wort", sagte Pratt. Aber ich wußte nicht, welches.

© M. Angerhuber, 2000
deutsche Erstveröffentlichung: DAS DUNKLE ARCHIV (Ed. Uwe Vöhl), Mai 2000
Illustration © Malte Schulz-Sembten
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