DER NACHT-TRÄUMER
Paul Bradshaw


TEIL 1: DER MANN, DER NACHTS TRÄUMTE

Ich sann gerade über meine Auslöschung nach, als sich eine sanfte kühle Brise erhob und leise gegen meine Schaukel stieß. Ich konzentrierte mich so intensiv, wie es mir möglich war; aber bald mußte ich mich geschlagen geben, denn Fragen erzwangen sich mit Gewalt Einlaß in mein gequältes Hirn. Warum konnte ich das dunkle Geheimnis aus meiner Vergangenheit nicht vergessen? Sah der Vollmond tatsächlich mit einer verschlagenen Fratze auf mich herunter? Und wie war es wirklich für sie dort im Reich der verdammten Seelen?

Ein sonderbarer Geruch kam von irgendwoher, und da ich den Ursprung dieses Übeldunstes nicht kannte, versuchte ich ihn aus meinem Leben zu verdrängen. Doch schien dies keine gute Idee zu sein, denn meine Gedanken wandten sich wieder dem schrecklichen Geheimnis aus meiner Vergangenheit — etwas, an das ich mich im Detail entsinnen konnte, obwohl ich mein Gedächtnis anflehte, sich nicht darauf zu fokussieren. Mein Geist schien nur darauf bedacht, meine Träume zu entdecken, und nicht darauf eingerichtet zu sein, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, das mit der Wirklichkeit zu tun hatte.

Der Park war zu dieser Nachtzeit menschenleer, bis auf mich selbst natürlich. Ich umklammerte die Ketten der Schaukel und sah mich nach allen Richtungen um. Ich wäre fast von dem hölzernen Sitz gerutscht, der kalt und hart und vom Tau leicht feucht war. Die rachitische Brise blies mich nach vorn, und ich fühlte mich ungewöhnlich erregt. Es war, als sei ich in meine Kindheit zurückversetzt worden und würde von einem übereifrigen Verwandten angeschubst. Die Erinnerung an das Grauen begann an die Oberfläche zu steigen, aber mein Geist schnappte es weg, bevor das Bild sich materialisieren konnte. Beinahe hätte ich einen frustrierten Schrei ausgestoßen, nahm mich aber zusammen, als ich einen dunklen Umriß sah, der auf mich zukam.

Seine Fußschritte waren nicht schnell, eher wie ein Schlendern oder vielleicht ein lässiges Spazieren. Seine Kleidung war von tiefem Schwarz und verlieh ihm Ähnlichkeit mit einem riesigen Schatten, der sich wie eine gespenstische Erscheinung durch das Gras bewegte. Ich fühlte mich dazu gezwungen, seine Gesichtszüge zu mustern, für den Fall, daß ich ihn wiedererkennen würde, als irgendjemanden aus meiner Vergangenheit vielleicht? Er verschmolz mit dem Dunkel der Nacht, und als ich meinen Blick einen Moment lang nach oben richtete, bemekrte ich, daß das Gesicht des Mondes sich in offensichtlichem Lachen rollte.

Der Fremde nahm Platz auf der Schaukel neben meiner. Ich war auf der Stelle fasziniert von dem rätselhaften Mann und versuchte noch angestrengter, seine Gesichtszüge zu erspähen. Seine massige Gestalt wirkte ziemlich absurd und lächerlich auf dem Sitz der Schaukel, obwohl ich nicht in der Stimmung für Späße jedweder Art war. Dann erfaßte das Licht des Mondes sein Antlitz, nur für eine Sekunde, und ich konnte mit Mühe einen jähen Aufschrei unterdrücken, als ich auf dieses fahle, eindringliche Gesicht blickte, das wie eine Maske aus weißem Plastilin wirkte. Außerdem fiel mir auf, daß er sich wie ein spielendes Kind vor und zurück wiegte; als ich jedoch wieder zu Sinnen kam, merkte ich, daß ich es war, der hin und her schaukelte, und zwar ohne die Hilfe des Windes.

Eine plötzliche Bö biß in mein Gesicht, und ich zuckte zusammen. Der Fremde machte mich nervös, also versuchte ich seine Gegenwart zu ignorieren, um statt dessen mit meiner Nacht-Träumerei fortzufahren. Dies gestaltete sich jedoch als überaus schwierig, denn ich hatte das merkwürdige Gefühl, daß er sich vielleicht von irgendeinem dunklen Ort der Verdammnis materialisiert hatte.

Ich erhaschte einen Blick auf seine Haut in den Strahlen des Mondes — seine auf seinem Schenkel liegende Hand, die wirkte wie aus Fensterkitt. Sie sah unmenschlich aus, als wäre der Fremde nicht aus Haut und Knochen, sondern ein Verwandter einer lebenden Schaufensterpuppe.

Um meine überreizten Nerven zu beruhigen, entschied ich mich dafür, in den schwarzen Himmel hinaufzustarren. Die Dunkelheit hat mich schon immer fasziniert. Viele absonderliche Dinge finden in der Dunkelheit statt, Dinge wie Träume und Nachtmahre, Folter und Tod, Schatten und Illusionen. Dennoch stellte ich fest, daß sich meine Nerven in der Gegenwart der sonderbaren Gestalt nicht beruhigen wollten.

Der Fremde zog seine andere Hand aus der Jackentasche und blickte immer noch unverwandt zu mir herüber. Ich schöpfte sofort Verdacht und stellte mir vor, er sei einer jener ghulischen Perversen, die um Mitternacht in den Parks herumpirschten und –schlichen.

Er erhob sich und erschreckte mich mit seiner massiven, einschüchternden Statur. Seine düstere Masse verdeckte einen Moment lang das Mondlicht, auch wenn die Myriaden der Sterne immer noch in der Schwärze funkelten und glitzerten. Er schaute mir in die Augen, so als wolle er mich auffordern aufzustehen und ihm zu folgen. Ich war ängstlich, zugleich aber auch extrem neugierig, so daß ich mich tatsächlich erhob und auf eine Reise in die kalte Nacht gefaßt machte.

Während ich ein paar Schrite hinter dem dunklen Fremden herging, fiel mir auf, daß er humpelte und hinkte, als litte er starke Schmerzen. Jeder Schritt war ein Kampf für ihn, und ich verspürte eine gewisse Erleichterung, denn ich wußte, falls ich einen Grund zur Flucht haben sollte, würde er nicht in der Lage sein, mir schnell hinterherzulaufen. Doch sann ich immer noch darüber nach, warum ich wohl den Zwang verspürte, ihm zu folgen; mir war, als ob eine gewaltige, unsichtbare Magnetkraft mich zöge und zerrte.

Der Mann sah mich an, auch wenn ich seine Gesichtszüge wiederum nicht klar erkennen konnte. Ich folgte seiner mühseligen, stolpernden Reise durch das Gras und auf den Fußweg und nahm mir einen Augenblick Zeit, um zum Mond hinaufzuschauen, dessen Gesicht jetzt vor obszönem Gelächter zu brüllen schien. Dann warf ich einen letzten Blick zurück zur Schaukel und bemerkte das geisterhafte Abbild eines winzigen Mädchens in einem blauweißen Sommerkleid und kurzen weißen Söckchen, dessen Gesicht vor jungfräulicher Unschuld strahlte. Aber dann verschwand sie ebenso plötzlich, wie das Bild aus meiner elenden Erinnerung aufgetaucht war.

Der Fremde führte mich über grau-schwarzes Kopfsteinpflaster; vorbei an baufälligen und morschen Ruinen; durch schweigende, unheimliche Straßen, die nach toten Dingen rochen; pechschwarze Passagen hinunter, die mir immensen Schrecken einjagten; über verlassene Gassen, die in einen ranzigen Nebel gehüllt waren; an den buckligen Ufern eines verschmutzten Flusses vorüber; und zuletzt auf eine weitläufige Lichtung, die nach Rost und Verwesung stank. Ich war außer Atem und fürchtete mich, denn ich hatte keinen Anhaltspunkt, warum ich hierher gebracht worden war, aber hauptsächlich, weil ich — während ich in der eisigen Kälte schnaufte und japste — feststellte, daß ich diesen verwünschten Ort wiedererkannte.

"Warum haben Sie mich hierher gebracht?" fragte ich.

Ich erhielt keine Antwort. Ein sentimentales Schweigen folgte, und mir kamen unvermittelt schreckliche Gedanken, daß dieser Fremde beabsichtigte, mir Leid und Qualen zuzufügen. Die Sekunden verstrichen, bis er sich auf ein turmhohes Lagerhaus zu in Bewegung setzte, das offenbar vor langer Zeit aufgegeben worden war. Er mißachtete meine Frage und bewahrte ein Schweigen, das mich zugleich erzürnte und verletzte. Ich beobachtete sein ungelenkes Tapsen und das Wasser, das bei seinen Schritten aus den Pfützen aufspritzte, die im Mondlicht schimmerten. Ich lief ihm wie auf Befehl hinterher, und meine Schuhe sanken sofort in nassen Lehmboden und Schlamm ein, als ich das Werksgelände überquerte. Ein großes Stahltor stand einen Spalt breit offen, und der Fremde verschwand darin und in dem enormen Gebäude.

Kurz bevor ich ebenfalls eintrat, hob ich meinen Blick für einen Moment zum Himmel. Diese düstere, rätselhafte Leere hatte für lange Zeit mein Leben beherrscht und meine geistige Gesundheit praktisch zerstört. Ich mied seit langem den Schlaf und zog es vor, meine schwarzen Stunden mit Nacht-Träumen zu verbringen und mich langen Spaziergängen und Ruhephasen im Park hinzugeben. Ich pflegte zu den Sternen hinaufzublicken und zum fahlen Mond, und ich war über die Jahre von ihnen verzaubert worden, so daß ich schließlich eine unbeschreibliche Bewunderung für sie empfand — besonders für die Dunkelheit.

Der Fremde war stehengeblieben und starrte mich jetzt an. Dies unterbrach meine Gedankenkette, und ich wagte mich weiter in das kalte Gebäude hinein vor. Wir stolperten über lose Ziegelsteine und andere Dinge, die auf dem Boden des Lagerhauses verstreut lagen, und in meinem Mund spürte ich Staub und Spinnwebfäden. Ich blickte nach oben, wo ich das Gewirr von Deckenbalken und Sparren ausmachte, das die Decke wie ein bizarres Puzzle übersäte. Meine Angst nahm ums Zehnfache zu; warum hatte der Fremde mich an diesen bedrohlichen Ort gebracht? Schlimme Erinnerungen summten und surrten in meinem Hirn, und grauenvolle Visionen von Tod und Agonie traten in meinem Kopf zutage.

Er blieb erneut stehen und sah mich an, bevor er mit einem Wurstfinger aufwärts deutete. Ich betrachtete die ferne Decke und blinzelte, um das sehen zu können, was sich in der zwielichtigen Schwärze verbarg. Und dann gelang es mir mit Mühe, einen Schrei zu unterdrücken, als ich etwas wahrnahm, das ich voller Grauen zu sehen erwartet hatte.

Es schwang, schaukelte, auf und ab, hin und her, vor und zurück. Langsam und still, wie im Tode. Zwanzig, dreißig Fuß hoch in der düster-trüben Luft. Eine dunkle, dunkle Gestalt, schweigsam und ernst. Ich verspürte nicht den Wunsch, diese bedauerliche Kreatur aus der Nähe zu sehen, aber der riesige Magnet packte mich und zerrte mich in Richtung der baufälligen Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte.

Im Handumdrehen war ich dort, auch wenn es eine ganze Lebensspanne zu dauern schien. Ich befand mich direkt gegenüber der schaukelnden Figur und kämpfte mit einem Würgereiz, als ich die behelfsmäßige Schlinge sah, die fest um ihren Hals gezurrt war. Und die Gesichtszüge, von Schatten verhüllt; ich brauchte sie nicht wirklich zu sehen. Ich wußte bereits, daß sie mit meinen eigenen übereinstimmten.

Zwischen Lebenden und Toten gefangen; doch war das immerhin nur für eine gewisse Zeit so. Ich schaute hinab auf die verstreuten Pfützen. Der Fremde entfernte sich jetzt von dem Lagerhaus, wankend wie ein Krüppel, und nur für einen Sekundenbruchteil konnte ich die Fäden sehen, die von seinen Armen, Beinen und seinem Kopf ausgingen; beinahe völlig von der Nacht-Gräue verhüllt, reichten sie himmelwärts hinauf in die Finsternis, in denselben dunklen Himmel, der dazu gedient hatte, meine geistige Gesundheit zu zerstören.

TEIL 2: LYRA

Ich werde mich immer an die Zeit erinnern, die ich mir ausgesucht hatte, um neben dem Briefkasten auf der kalten, leeren Straße zu stehen, denn dies war zufällig die erste Gelegenheit, bei der ich Lyra wahrnahm. Es war eine Zeit großer Verwirrung für mich; ich vermutete, daß ich irgendwie dem ewigen Schlaf des Todes entflohen war, wenn auch vielleicht nur vorübergehend, denn ich erinnerte mich daran, wie ich auf dem staubbedeckten Boden des verlassenen Lagerhauses erwacht war. Ich stellte mir vor, daß ich von der Finsternis des Todes verschlungen und wieder ausgespien worden war, und daß ich mich jetzt, anstatt an jenem Ort zwischen den Lebenden und den Toten, auf irgend einer anderen Existenzebene befand.

Ich sah zu meinem eigenen gequälten Ich auf, das immer noch an den hohen Balken über mir schwang, und mir wurde übel bei diesem erbärmlichen Anblick; also wandte ich mich ohne zu zögern um und schritt hinaus aus dem grimmigen Haus in die eben erblühende Morgendämmerung. Dennoch kam ich nicht rasch von der Stelle, denn ich bemerkte eine auffällige Veränderung meiner Gangart. Meine Füße schienen von einer schrecklichen Schwere erfüllt, so daß meine Schritte bleiern und mühselig waren. Dies machte mich schaudern, denn ich erinnerte mich an den dunklen Fremden, und ich hätte fast aufgeschrien, als ich mir vorstellte, daß ich jetzt vielleicht auch ein Instrument jenes infernalischen Puppenspielers war, den ich als ›die Dunkelheit‹ kannte.

Aber ich beruhigte mich wieder, als ich sah, daß von meinem Körper keine Fäden ausgingen. Ich war immer noch menschlich, oder zumindest so menschlich, wie ein Toter nur sein kann. Als ich mir meinen Weg aus dem Fabrikhof bahnte und auf die Straßen zuging, wollte die Erinnerung an jenen Vorfall aus meiner Vergangenheit einmal wieder in meinem Kopf zur Oberfläche steigen. Ich verfluchte sie und flehte sie an, endgültig aus meinem Geist zu verschwinden, denn ich hatte stets furchtbare Qualen erlitten, wenn ich mich des gefürchteten Geheimnisses entsann. Während ich mich abmühte, die Erinnerung aus meinem Hirn zu schütteln, stellte ich fest, daß meine Füße mich in Richtung Stadtzentrum trugen.

Nach einer gewissen Weile gelangte ich schließlich an diesen Ort und stand neben dem Briefkasten auf der kalten, leeren Straße. Schwärze umgab mich, mit Ausnahme des klaffenden Lichtscheins der Schaufensterauslage, die direkt vor mir lag. Ich kann mir keinen Grund dafür vorstellen, warum ich beschloß, dort zu bleiben; es war, als habe ein seltsames Schicksal mich gerufen und an diesem speziellen Ort deponiert. Hier verschwanden alle Gedanken an die Dunkelheit und das grauenhafte Geheimnis aus meiner Vergangenheit, so daß ich endlich Frieden fand, mich auf das schöne Geschöpf zu konzentrieren, das Lyra war.

Natürlich fand ich ihren Namen erst zu einem späteren Zeitpunkt heraus, wie das in Herzensdingen der Fall zu sein pflegt. Sie stand da, in ein Kleid gehüllt, das ihre Gestalt eng umschloß und die Wohlgeformtheit ihrer reizenden Figur betonte. Sie war so reglos und schweigsam wie der Tod, obwohl ich – vielleicht auf nicht-menschliche Art – feststellte, daß sie eine unbändige Menge an Lebendigkeit besaß. Ich träumte sofort von wildem Herumtollen in tiefen, dunklen Wäldern, Nacktschwimmen in eiskaltem Wasser, heftiger Liebe zwischen Laken aus kühlem Satin – all das mit dieser fantastischen Kreatur.

Das einzige, was ich an dieser Stelle bedauerte, war die Tatsache, daß das Glas des Schaufensters uns trennte, so als lebten wir beide in völlig verschiedenen Welten.

Sie starrte mich an; mit einem verlorenen Blick, direkt in meine Augen. Konzentrierte sie sich wirklich auf mich, oder schaute sie nur durch mich hindurch, in eine andere Welt? Mein Gefühl sagte mir, daß sie mich und nichts anderes ansah. Ihre Wimpern waren so lang wie ihre Fingernägel und kunstvoll über ihre Augäpfel drapiert. Ihre Lippen waren von glänzendem Rot, gespitzt wie zur Einladung zu einem surrealen Kuß, den sie von einem anderen Mund voll glühender Leidenschaft empfangen würde.

Mein Herz konnte nicht mehr wie zuvor sein, nachdem ich solch ein strahlend schönes Geschöpf erblickt hatte.

Jeden Abend kam ich beim ersten Anbruch der Dämmerung hierher, um neben dem Briefkasten auf der kalten, leeren Straße zu stehen. Meine Hingabe war die ganze Zeit über absolut auf Lyra fokussiert. Ich glaubte, daß dieses Gefühl beiderseits vorhanden war, denn ich begann ein merkwürdiges Funkeln wahrzunehmen, das von ihren Augen ausging, und bemerkte eine bizarre Strömung magischer Leidenschaft in der dunklen Luft zwischen uns. Meine Phantasie war zugleich aufregend und schändlich, da ich mir Szenen irrwitzigen Verlangens vorstellte, die Lyra und mich zum Inhalt hatten. Und dann, in der vierten Nacht, die ich gewählt hatte, um neben dem Briefkasten auf der kalten, leeren Straße zu stehen, kam es zu einer Weiterentwicklung.

Ich wurde zum erregten Zeugen des Vorgangs, wie sie, gekleidet in ein exotisches Ensemble aus dünner, cremefarbener Bluse und aberwitzig engem Rock, sich zu bewegen begann und aus dem Schaufenster auf die Eingangstür des Geschäftes zuging. Ich versuchte, ihre Gedanken zu erraten, aber das konnte ich natürlich nicht. Doch fragte ich mich die ganze Zeit über, was ihr wohl im Kopf herumgehen mochte, als ich auf das Rasseln des Türschlosses und den atemberaubenden Anblick lauerte, mit dem die Tür sich langsam nach innen öffnete.

Sie trat heraus in die Nachtluft, und ein Gefühl wie eine ungeheure Ohnmacht explodierte in meinem Herzen. Als sie sich auf Absätzen näherte, die sie auf dem feuchten Straßenpflaster unsicher wanken ließen, sah ich erst, wie unbeschreiblich schön sie wirklich war. Und dann stand sie vor mir, fast unmittelbar vor meinem eigenen zitternden Ich, und ihr bezaubernder Duft wehte durch die Luft zu mir und erfüllte mich mit etwas durch und durch Irrsinnigem.

"Ich bin Lyra", hauchte sie.

Ich nannte ihr meinen Namen, an den ich mich gerade noch rechtzeitig erinnerte. Was für ein Wrack ich war! Und dann nahm sie meine Hand in die ihre und bat mich, ihr den Weg zu zeigen. Dies tat ich nur zu glücklich, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wohin ich sie in dieser erstaunlichen Nacht bringen sollte. Ich war so an das einsame Nacht-Träumen gewöhnt, daß die Gegenwart eines anderen ganz ungewohnt für mich war.

Wir tauschten Fragen und Antworten aus, während wir im kühlen Schein des Mondes spazierengingen. Ich erzählte ihr von der Zeit, als ich siebzehn war, und wieviel ich nach jenem drastischen Vorfall geweint hatte. Ich erzählte ihr von meiner sterblichen Hülle, die in jenem verlassenen Lagerhaus an einer Schlinge schaukelte. All dies erzählte ich ihr, während wir uns dem Schweigen und der Abgeschiedenheit des Parks näherten.

"Aber warum hast du dich dazu entschlossen, dir das Leben zu nehmen?" fragte sie besorgt.

"Wegen etwas, das geschah, als ich siebzehn war", erwiderte ich traurig, "das dunkle Geheimnis aus meiner Vergangenheit. Darum dreht sich alles, es beherrscht mein Leben seit Jahren."

Sie erlaubte mir, sie zu berühren, nachdem wir uns dazu entschlossen hatten, uns auf einer hölzernen Bank auszuruhen, nah an dem glitzernden See. Alle Hemmungen fielen von mir ab, als ich ihre warmen, unmenschlichen Lippen küßte. Es zeigte sich, daß sich all das oberflächliche Gerede erschöpft hatte und Lyra einer Art von Aufmerksamkeiten bedurfte, die intim und körperlich waren. Sie knöpfte ihre Bluse auf und lud mich dazu ein, mit den Handflächen über ihre Brüste zu streichen, die makellos gefertigt waren. Ich war ein wenig überrascht, als ich entdeckte, daß ihre Brüste und ihre Haut erstaunlich echt wirkten, und als sie ihren Rock fallen ließ, um mir ihre Nacktheit zu enthüllen, begann ich wie verrückt zu zittern.

Ich erforschte ihre köstlichen Genitalien, und sie keuchte, als ich meinen eifrigen Finger in ihre glitschig-nasse Öffnung einführte. Irgend etwas erwachte in mir, und nachdem ich meine eigenen Kleider abgestreift hatte, sanken wir in das feuchte Gras, um uns etwas nächtlicher Privatsphäre hinzugeben. Und als ich den Punkt äußerster Entspannung erreichte, jenes Gefühl eines unbeschreiblichen Utopia, da wußte ich, daß mein Tod nie mehr derselbe sein würde wie zuvor.

In der folgenden Nacht eilte ich über das Pflaster, während ich unseren zweiten Augenblick der Verbindung erwartete. Mein Herz hämmerte, als ich den Briefkasten auf jener kalten, leeren Straße erreichte. Dennoch hatte ich das Gefühl, als zerre eine unbekannte dunkle Macht an meinen Gedärmen, als ich die Szenerie in der Schaufensterauslage erblickte.

Sie war da, meine Liebste! Doch war sie nicht allein, zumindest befand sie sich nicht nur in unmenschlicher Gesellschaft, denn direkt neben ihr stand ein Kerl, den ich alsbald als Schaufensterdekorateur identifizierte.

Ich hätte es wissen müssen; ja, ich hätte ahnen sollen, daß jemand, der so zutiefst sinnenhaft war wie Lyra, mehr als einen Bewunderer hatte. Was für ein Narr ich gewesen war! Der Kerl war böse, das konnte ich spüren, ich konnte es in seinen dunklen Augen sehen. Er war ein Verrückter, ein rasender Irrer. Woher ich das wußte? Woran ich sehen konnte, daß er von eifersüchtiger Wut übermannt war? Jeder, der sein Verhalten in diesem Schaufenster beobachten konnte, wäre zu diesem Schluß gekommen.

Als er damit anfing, meine Schöne zu entkleiden, ruhte der Blick seiner sündigen Augen auf mir, durchbohrte mich wie ein furchtbarer Dolch. Er zog ihr rasch das blutrote Kleid aus, das sie vorgeführt hatte, und darunter war sie wiederum nackt, eine Körper voll Pracht und Schönheit. Ich erbebte, als ich das beobachtete, denn ich begriff, daß dem Mann eine böse Absicht innewohnte. Ich hatte recht; oh, wie recht ich hatte! Ich kreischte freiheraus, als ich sah, wie er seine Faust um Lyras rechten Arm ballte und ihn wie einen Zweig abriß. Er tat dies danach auch mit dem linken Arm, und während Tränen in meine Augen stiegen, sah ich einen Ausdruck pursten Schreckens auf Lyras Gesicht treten. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich stürzte vorwärts und trommelte mit den geballten Fäusten auf das Glas des Schaufensters. Doch das Grauen ging noch weiter, als der Schaufensterdekorateur, offenbar übermannt von einer Mischung aus Wahnsinn und Neid, an Lyras Beinen zerrte und sie wie Baumäste abbrach, um sie wie gräßliche Trophäen beiseite zu werfen. Ich brüllte ihn an, aufzuhören, sein übles Tun bleiben zu lassen, aber natürlich schien er vom Teufel besessen zu sein, ein unverbesserlicher, dämonischer Irrer.

Lyra war jetzt nur noch ein Torso, der nackt auf der Leinwand der Schaufensterauslage lag. Ich sah die anderen Puppen mit entsetzten Augen zusehen, vielleicht fürchteten sie, daß sie ebenfalls dem Narren zum Opfer fallen würden. Doch der Schaufensterdekorateur igonierte sie. Statt dessen hielt er seinen Blick starr auf mich gerichtet, während er zur letzten, vernichtenden Tat schritt. Seine allmächtigen Hände packten Lyras Schädel, und mit einem übelkeitserregenden Knacken riß er ihr den Kopf vollständig ab.

Stellt euch vor, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte, stellt es euch nur vor!

Ich brüllte und schrie den Verrückten an, aber dann wurde mir bewußt, daß meine Bitten jetzt keinen Sinn mehr hatten. Inmitten eines wirbelnden Nebels hörte ich, wie die Tür des Ladens aufschwang, und ich stieß einen erschreckend schrillen Schrei aus, als Lyras Kopf heraus und auf mich zu stürzte. Er traf mit einem ekelerregenden Geräusch auf dem Beton auf. Mit einem ekelerregenden Geräusch ... Und für einen Sekundenbruchteil glitten die Erinnerungen an damals, als ich siebzehn war, wieder in mein Hirn zurück.

Wieder einmal war ich von der Dunkelheit zermalmt worden, und ich rollte mich auf dem glitzernden nassen Straßenpflaster zu einer Kugel zusammen und drückte meine widerliche Trophäe an die Brust, während ich im matten Schein des Mondes hemmungslos schluchzte.

TEIL 3: DAS PUPPENHAUS

Meine klarste Erinnerung an das Puppenhaus bestand darin, daß die Tür stets von der anderen Seite verschlossen war, ob ich mich nun innerhalb oder außerhalb des Puppenhauses befand. Alles übrige war verschleiert und unvollkommen. Ich wußte jetzt, daß ich rasch dahinschwand und mich dem Augenblick meiner Auslöschung näherte. Ich war davon überzeugt, daß es richtig sei, dem Puppenhaus einen letzten Besuch abzustatten. Lyras kalten Schädel an die Brust gepreßt, stolperte ich den Weg entlang, der mich zum Friedhof führte. Ich fühlte, wie sich die Schwärze der Nacht über mir zusammenzog, der dunkle Himmel schleimig-nasse Tropfen auf meinen Kopf spie. Ich hob die Hand, um sie abzuwischen, aber ich fühlte nichts. Meine Knochen knirschten und krachten, während ich langsam durch den Nachtnebel ging, und die unheimliche Stille der Straßen suchte meine Gedanken heim.

Als ich endlich den Friedhof erreichte, sank ich auf die Knie und tauchte meine Hände in die feuchte Erde neben dem Familiengrab, kratzte eine Grube aus, groß genug, um den Kopf zu beerdigen. Ich fand, dies sei ein angemessener Platz für meine Liebe, um zur Ruhe gebettet zu werden – oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben war. Ich drückte einen letzten süßen Kuß auf ihre eisigen Lippen, bevor ich den Kopf in die Grube legte und ihn mit Erde bedeckte. Während Tränen über meine Wangen rannen, verließ ich den Friedhof und beschloß, geradewegs zum Puppenhaus zu gehen.

Heimat. Ich betrachtete es nicht mehr wirklich als Heimat. Ich war seit Jahren nicht dort gewesen, denn es war eine schmerzliche Erinnerung an den Vorfall aus meiner Vergangenheit. In meinem Kopf sah ich Vater in weißem Hemd und Hosenträgern, seine Pfeife rauchend, während er uns von der Stufe der Hintertür aus beobachtete. Er hatte immer dieses Lächeln, das Lächeln eines Mannes, der keine Angst vor dem Tod kannte. Und Mutter, ihre starken Arme bis zum Ellbogen in schaumigem, seifigem Wasser, ihre Gesichtszüge vor Konzentration in Falten gelegt. Ich erinnere mich immer noch an ihre wahnsinnigen Schreie an jenem sonnenüberfluteten Nachmittag.

Ich gelangte zum Haus, auch wenn ich die bröckelnden Ziegel und vergitterten Fenster zunächst nicht wiedererkannte. Das Haus war auf mehr als eine Art ruiniert; ein altersschwacher Epitaph für eine Zeit, als die Dinge mehr Sinn machten, als sie es je wirklich getan hatten. Ich stapfte mit schweren Schritten den düsteren Weg hinunter, der zur Rückseite des Hauses führte, und stieß das Tor auf, da ich sah, daß kein Schloß oder Riegel es hielt. Und dann bekam ich das Puppenhaus zu Gesicht.

Ich erzitterte, denn es war genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Nah am Gartenzaun gelegen und an den Rasen geschmiegt (der jetzt übrigens ein grausiges Gewirr von Unrkaut und langem Gras bildete), war das Puppenhaus von der Größe einer kleinen Hütte, groß genug, um einen Erwachsenen hineinkriechen zu lassen. Ich spürte ein Kribbeln in meinem Innern, und unvermittelt raunte ein tödlicher Schauder irgendwo in der Umgebung meines Herzens. Die entsetzliche Erinnerung schien mich noch mehr mitzunehmen, als ich mir vorgestellt hatte.

Ich bückte mich nieder auf das kalte Gras und fingerte an der Tür herum, nur um festzustellen, daß sie verschlossen war. Natürlich von innen, so daß ich nicht einmal in der Lage war, das Schloß zu manipulieren. Es war genau so, wie es immer gewesen war; ein rätselhafter Ort der Verwirrung und Enttäuschung. Ich warf einen Blick rings um mich und entdeckte die einsame Schaukel am anderen Ende des Gartens. Mit einemmal fühlte ich mich schwach bis ins Innerste und sank in einem jämmerlichen Haufen auf dem Boden zusammen. Während die Bewußtlosigkeit mich erfaßte und ich in die Dunkelheit davontrieb, imaginierte ich den gefürchteten Anblick meiner jüngeren Schwester, wie sie mich von der Schaukel aus anstarrte und mir die Frage stellte, die sie mich seit Jahren im Innern meines Kopfes fragte.

"Warum?"

Es kamen keine Antworten, nicht einmal in meiner Un-Schlaflosigkeit. Zahllose Jahre hindurch hatte ich mich abgemüht, eine Lösung zu finden, einen Grund für das entsetzliche Grauen dieses Vorfalls. Ich wollte den Geist meiner jüngeren Schwester wissen lassen, daß ich eine Antwort gefunden hatte, und daß ich wußte, warum es geschehen war. Dennoch, wie alle guten Menschen wissen, ist die Schwärze des Todes noch nie von irgend jemandem verstanden worden.

Ich erwachte und hob meinen Kopf von einer kalten, feuchten Plane. Doch war ich nicht in dem Gras zusammengebrochen, das sich außerhalb des Puppenhauses befand? Jetzt, als ich meine Umgebung matt betrachtete, wurde mir ihre Vertrautheit bewußt, und ich sah, daß ich mich wirklich innerhalb des Hauses befand. Es schien, daß ich während meiner Schlafphase auf mysteriöse Weise in die düstere Beengtheit des winzigen Bauwerks transportiert worden war.

Eine entsetzliche Schwäche hatte Besitz von meinem Körper ergriffen, so daß meine Bewegungen jetzt schleppend und schwerfällig waren. Als meine schwindende Sehkraft sich auf die Düsternis eingestellt hatte, die mich umgab, erschauderte ich beim Anblick einer Kollektion von Plastikpuppen in einer Ecke des Hauses. Es kam mir so vor, als seien sie vorsätzlich und sorgfältig dort plaziert worden — nicht als hätte ein unartiges Kind sie achtlos auf einen Haufen geworfen. Sie waren alle weiblich, wie das bei Kinderpuppen meist der Fall ist. Sie trugen hübsche Kleider aller Farbschattierungen und zeigten stolz ihre weißen Söckchen und schwarzen Pumps. Ich ertappte mich selbst dabei, daß ich lüsterne Voyeursblicke auf das kühle, sonnengebräunte Fleisch dieser Sammlung nackter Beine warf.

Ich kroch langsam über den Boden hinüber zur Tür, wobei ich deutlich das Bellen eines einsamen Hundes in der Ferne hörte. Ich hätte wissen müssen, daß die Tür von außen versperrt sein würde. Doch durch wen? Dies schien immer die vernichtende Frage zu sein, wenn ich im heimatlichen Garten dem Puppenhaus gegenüberstand.

Ich erinnere mich an ein angespanntes Gefühl des Schreckens an diesem Punkt meiner Gefangenschaft im Puppenhaus. Wiederum blickte ich die Puppen an und erzitterte unverhohlen, denn sie schienen mit ihren dunklen, verhaßten Augen wirklich zu mir zurückzustarren. Jede dieser Puppen war in ihren frühen Jahren von meiner jüngeren Schwester geliebt und geehrt worden. Spürten sie vielleicht irgendwie das schamhafte Gefühl der Schuld, das in meiner Seele reifte?

Ich schrak unvermittelt zusammen, denn ich war mir sicher, daß sich eine von ihnen jetzt wirklich bewegte. Es war nur eine leichte Veränderung ihrer Haltung, aber es erschreckte mich dennoch. Die fragliche Puppe schien in einem gespenstischen Augenblick alle Gesetze der Leblosigkeit gebrochen zu haben. Ich konzentrierte weiterhin meine Aufmerksamkeit auf diese unheimliche Brut von Plastikwesen, fokussierte meine Augen auf sie, um jede weitere Bewegung zu erspähen. Aber leider überwältigte mich die Müdigkeit, so daß mir die Augen innerhalb von Sekunden zufielen und ich mich selbst einer erneuten Phase der Bewußtlosigkeit auf jener kalten, feuchten Plane hingegeben fand.

Ich träumte nicht; dessen war ich mir sicher, denn mein Geist war zu diesem Zeitpunkt vollkommen bar jeglicher Träumereien. Doch waren die Ereignisse, die sich während meines Schlafes abspielten, genauso erstaunlich wie die in Träumen. Einige Minuten später bemerkte ich ein gräßliches Zittern, und es wurde schrecklich kalt in dem Puppenhaus. Ich drängte mich enger an die Wand und zerrte an der Plane auf der Suche nach etwas Wärme, und ohne daß ich die Augen öffnete, wußte ich, daß ich jetzt unerklärlicherweise nackt war. Mehr als das; ich spürte eine Vielzahl von leichten, feuchten Berührungen auf meinem Fleisch, ganz so als kröche eine winzige Armee von Regenwürmern über meine Haut. Es war erschreckend, doch zugleich seltsam erregend, und ich legte mich flach auf dem Rücken, um jenem unbekannten Schneckenartigen zu erlauben, über mich hinwegzukriechen.

Ein seltsames Gemurmel verbreitete sich, so als hätten diese Ungeheuerlichkeiten Stimmen, und als ich es hörte, öffnete ich die Augen, nur um vor Verblüffung über den Anblick nach Luft zu schnappen. Die Puppen waren unerklärlicherweise quer durch den Raum geglitten und hatten ihre Kleider ringsherum verstreut, so daß ich die Pracht ihrer Nacktheit bewundern konnte. Sie alle leckten meine Haut mit ihren samtweichen Zungen, die roten Lippen geöffnet und die Augen starr wie in Trance. Diese Empfindung war unvergleichlich sonderbar, und ein wohliges Gefühl der Lust breitete sich in meinem Gebein aus.

Ich richtete meinen Blick auf die erste der Puppen, eine rundliche Gestalt mit blondem Wuschelhaar und tiefen, sinnlichen Augen. Ihre kleinen, babyartigen Finger kneteten und kniffen meine Haut, während ihre glänzende Zunge über meine Schulter glitt. Langsam streckte ich den Arm aus, um ihre birnenförmige Brust zu liebkosen, und drückte sie in meiner Handfläche. Sie fühlte sich äußerst merkwürdig an, wie ein Klumpen nachgiebigen Gelees, und während ich sie drückte, sah ich einen Ausdruck tiefen Entzückens auf ihr Gesicht treten. Dies veranlaßte mich dazu, ihren Körper tiefergehend zu erforschen, und als ich schließlich mit meinen Fingerspitzen ihre feucht-schmatzende Liebesöffnung untersuchte, wurde meine Aufmerksamkeit unvermittelt von einem lauten, kummervollen Schrei außerhalb des Puppenhauses von ihr abgelenkt.

Ich hatte diesen Schrei schon gehört; einmal in der Wirklichkeit, und tausendmal in meiner Erinnerung. Als ich zu dem Fenster des Puppenhauses aufblickte, sah ich, daß jetzt heller Tag war und die Strahlen der Sonne über meine nackte Haut und die fleischhungrigen Puppen flossen. Ich fühlte mich unbeschreiblich schwach, aber ich brachte es zuwege, aufzustehen und mir einen Weg zur Tür zu bahnen. Ich rüttelte an ihrem Riegel, aber natürlich — wie immer — war er von außen verschlossen. Nun konnte ich das Weinen von draußen hören, und Tränen stiegen mir in die Augen, als ich wie ein Häuflein Elend auf der Plane zusammensank. Besiegt und geschlagen wollte ich meine Augen für den Tod schließen, denn er war das einzige, was ich verdiente.

Nun stieg ein Bild vor meinem inneren Auge auf. Ich war siebzehn, und meine jüngere Schwester saß auf der Gartenschaukel, und ich stieß sie an. Sie trug ihr schönes blau-weißes Kleid und kicherte ohne Unterbrechung, völlig verzückt von dem Auf und Ab. Sie rief mir zu:

"Höher! Höher!"

Und immer höher flog sie. Hinauf in den blauen Himmel, blendend vor den weißen Wolken. Mit jedem allmächtigen, spielerischen Stoß meiner Hände gegen ihre zierlichen Schultern flog sie weiter und weiter von mir fort, nur um für den nächsten Stoß zurückzukehren. Sie kicherte immer noch, und ich schien jetzt noch ein Kichern zu hören, das von irgendwoher hinter mir kam. Ich warf einen Blick über meine Schulter zurück und entdeckte eine Handvoll winziger Gesichter am Fenster des Puppenhauses, und alle von ihnen glucksten bei dem Anblick der himmelsstürmenden Bewegungen meiner Schwester. Und dann erinnerte ich mich daran, daß das Puppenhaus von Wesen bewohnt wurde, die nicht menschlich waren.

Als ich mich wieder umwandte, kreischte ich bei dem Anblick meiner jüngeren Schwester auf, die am höchsten Punkt der Schwingung von der Schaukel stürzte. Sie stieß einen grauenhaften schrillen Schrei aus, genau bevor ihr Kopf mit einem widerwärtigen Knacken auf dem Beton aufschlug. Von Panik ergriffen sprang ich hinüber zu ihr und umfing ihren blutenden Kopf mit meinen Armen. Ihre Augen waren ganz glasig, wie die ihrer Puppen. Daran erinnere ich mich deutlich: Ihre Augen waren ganz glasig ...

Nach einer Zeitspanne, die mir wie Stunden erschien, legte ich ihren toten Körper auf den Beton und ging mit schleppenden Schritten hinüber zum Puppenhaus. Ich wußte, daß ich nicht länger hierher gehörte, und daß es an der Zeit für mich war, zu einem anderen Ort hinüberzuwechseln. Meine Auslöschung war nun beinahe abgeschlossen. Ich beugte mich hinunter und sah, daß der Schlüssel im Türschloß steckte. Es war nicht leicht, das zu sehen, da zu meinem Erstaunen Dunkelheit über die Erde herabgesunken war. Ich entriegelte die Tür und öffnete sie.

Im Innern des Hauses sah ich meinen leblosen Körper auf der Plane ausgestreckt, die Haut so bleich wie die Wolken, und ringsumher lagen die Puppen wie tote Babies, nackt und mit glasigen Augen. Zufrieden schloß ich die Tür und verriegelte sie wieder, als ein schrecklicher Wirbelwind auf mich herabfuhr, mich erfaßte und mich mit nebliger Feuchte umhüllte; und ich wurde nach oben gezerrt, bestimmt für ein Nachleben der Dunkelheit und Hölle an jenem Ort, wo niemand atmet.

© Paul Bradshaw
mit freundlicher Genehmigung des Autors
deutsche Erstveröffentlichung: Daedalos 11, Winter 2000
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