DAS NACHTBUCH
Eddie M. Angerhuber


Thomas Ligotti gewidmet

Wieder eine jener endlosen, sinnlosen, inhaltslosen Stunden. Was würde ich dafür geben, wenn ihre Kette endlich abreißen wollte, aber ich fürchte, daß man mir diesen Gefallen nicht tun wird.
Für mich gibt es keine Erlösung.
In undurchdringlichem Dunkel knie ich vor dem Katheder, auf dem das schwarze Buch liegt, und taste mit den Fingerspitzen über seine Seiten. Meine Fingerspitzen müssen mir hier die Augen ersetzen, denn kein Lichtstrahl fällt in meine Behausung. Behausung? Dieser Raum gleicht eher einer Zelle als einer Wohnung. Keine Möbel befinden sich darin außer dem Pult, dessen Oberfläche von zahllosen Berührungen geglättet ist und abgerundete Formen angenommen hat, und der grob behauenen Kiste auf dem Boden. Hat die Zeit die Kanten des Katheders abgeschliffen, oder waren es Zehntausende von Kinderhänden, die in diese Schulbank eingesperrt ihre frühen Jahre fristeten?
Ah, die Phantasie schlägt Haken und bildet sonderbare Labyrinthe, wenn sie zuviel Muße und keinerlei äußerliche Eindrücke hat, um sich abzulenken.
Die Finsternis schluckt nicht nur alles Licht, sondern auch die leisen Töne, die ich von mir gebe. Das Schleifen meines Gewands ist nur noch ein Flüstern in der schwarzen Tiefe des Raums, der um mich herum seine Grenzen verloren hat und sich ins Unendliche auszudehnen scheint. Sonderbare Echos hallen in meinem Kopf -- unirdisch, wie Gesänge oder ferne, unverständliche Gebete. Aber sie haben keine Stimme, um sich bemerkbar zu machen.
Anfangs habe ich auf den Knien vor der Tür gelegen, mir die Fingernägel an ihrem Holz abgebrochen und gefleht, daß er mir die Freiheit wiederschenken solle. Bitte, bitte, laß mich hinaus, ich kann es hier nicht mehr aushalten! Ich kann das Eingesperrtsein und die Leere nicht ertragen, die mich umgibt und mein Inneres ausfüllt. Ich bin wie eine hohle Frucht, in der die Würmer eine Kammer geschaffen haben, deren Ausdehnung widersinnige Größen erreicht hat; nur das Echo meines Weinens ist hier zu hören. Und selbst das schon lange nicht mehr.
Auch wenn die Tränen nicht wirklich versiegen können, unterbricht sich ihr Strom doch nach einer Weile, wenn selbst die Trauer jeden Sinn verloren und zur bloßen Charade verkommen ist.
Du wirst niemals mehr das Licht des Tages erblicken, flüstert das Nachtbuch. Diesen Titel habe ich ihm gegeben, da mir sein wahrer Titel unbekannt ist. Die ersten seiner Seiten tragen krude Kritzeleien, die ich in Ermangelung äußerlicher Beleuchtung blind dorthin geschrieben habe. Ich weiß nicht mehr, was ich geschrieben habe, doch können diese Zeichen eigentlich nur eine Bedeutung haben: laß mich hinaus -- hinaus -- hinaus. Nimm mir die Kette ab, die mich an diesen groben Holzklotz in der Mitte des Zimmers fesselt, öffne die Fenster, laß mich wieder freie Luft atmen!
Aber vor der Tür antwortet mir nur sein leises Lachen, oder zur Abwechslung ein leises Schluchzen. Ich weiß manchmal nicht, ob er lacht oder weint, so sehr gleichen sich die Töne, die seine dem Sprechen entwöhnte Kehle erzeugt.
Vielleicht erinnert auch er sich an die Tage, die vor dieser zeitlosen Zeit der Erniedrigung waren. Ja, ich bin mir sogar sicher, er erinnert sich. Warum sollte er mich sonst festhalten? Er könnte mich gehen lassen, wenn er sich nicht erinnern würde. Er könnte aufhören, mich zu quälen.
Einmal alle vierundzwanzig Stunden höre ich seinen Schritt vor der Tür innehalten, und ich lausche angestrengt, bis das Klirren des Schlüssels die angespannten Membranen meiner Trommelfelle trifft. Ich erkenne sein zerstreutes Tasten und Fingern, ich weiß, daß er Mühe hat, das Schloß zu finden -- wie jeden Tag. Seine Augen sind schwach, und seine Hände zittern. Auch wenn seine Silhouette im Gegenlicht, das zu grell für meine Augen durch die jetzt offene Tür fällt, gesichtslos scheint, erinnere ich mich doch an seine Züge und weiß, daß sein Gesicht sich im Lauf der Jahre mit Runzeln bedeckt hat, daß Bitterkeit und Lethargie tiefe, zynische Falten um seinen Mund herum gegraben haben. Wie hast du dich verändert, mein Geliebter.
Ich weiß, daß ich mich gar nicht verändert habe. Auch wenn du es mir nicht jede Nacht aufs Neue sagen würdest, ich kann die Stagnation meiner Körperzyklen fühlen. In meiner Brust herrscht die Stille des Todes; das Zucken und Stampfen des Fleisches ist längst verstummt. Nicht einmal du kannst dir vorstellen, alter Freund, wie sich diese Stille anhört. Nicht einmal du weißt, wie es ist, wenn man eigentlich längst Futter für die Würmer sein sollte und statt dessen immer noch aufrecht steht.
Nachdem du die Kette gelöst hast, die mein Fußgelenk an den Holzklotz in der Mitte meines Zimmers fesselt, hebst du den Kerzenleuchter und leuchtest mir ins Gesicht. Meine Augen schmerzen.
"Komm, Adelaide. Wir wollen zu abend essen."
Meine Hand auf die deine gestüzt, folge ich dir die langen, widerhallenden Flure unseres Domizils hinunter. Dies ist ein altes Haus, und das zyklopische Steingemäuer, das seine Wände und Böden bildet, ist vom Zahn der Zeit und den Füßen unendlich vieler Ratten und Mäuse zerfressen, die durch seine Gänge gehuscht sind. Prächtige purpurrote Gobelins mit Goldstickerei wehen in den Wänden in einem ewigen Luftzug, der durch einen künstlichen Windhauch erzeugt wird, den dein morbider Geist ersonnen hat, um dieses Haus deiner düsteren Stimmung anzugleichen.
In der Ferne der mondlosen, grenzenlosen Nacht höre ich die klagenden Töne der Tiere, die wie wir beide an ihrer Existenz leiden.
Zu leben, das heißt: zu leiden. Alle Wesen tragen den Stempel der Verderbnis und des Todes vom Zeitpunkt ihrer Geburt an. Allen Wesen ist der Same des Wurms mit in die Wiege gelegt, die nach Ablauf ihrer Zeit zum Grab wird ... nur mich scheint die Zeit vergessen zu haben. Ah, wenn diese Stunden doch enden könnten.
Meine Haare sind im Lauf der Zeit so lang gewachsen, daß sie wie eine ebenholzfarbene Schleppe, mit Silber durchsponnen, auf dem Boden hinter mir hergleiten. Mein weißes Kleid ist im Lauf der Jahre grau geworden und brüchig wie ein Leichenhemd. Es war das Kleid, das ich an jenem Tag trug ... an jenem Tag vor vielen Jahren.
Dieses Datum steht unauslöschlich in meinen Geist gegraben; es ist die leidvollste Erinnerung, die ich in mir hege wie eine schwarze Rose mit Dornen, die sich in das Fleisch meines Herzens gegraben haben und mich mit ihrer unablässigen Zärtlichkeit quälen.
Zu leben, das heißt: zu leiden; dies las ich in den Seiten des Nachtbuches, die keine Zeichen tragen, die leeren Seiten eines Folianten, der vielleicht einst dazu dienen sollte, meine Geschichte in sich aufzunehmen ... aber ich habe vergessen, wie es ist zu schreiben; wenn ich auch nicht vergessen kann, wie es ist zu lesen und zu träumen.
Denn seltsame Töne habe ich gehört in der ewigen Nacht, die meine Klause erfüllt, wo nie ein Lichtstrahl durch die zugenagelten Fenster hereindringt, wo die Zeit stillzustehen scheint und nicht einmal die Ratten sich die Mühe machen, mich zu besuchen. Ich habe ihnen nichts zu bieten.
Die Dinge, die ich im Lauf der Zeit auf den unbeschriebenen Seiten des Nachtbuches entdeckt habe, bestätigen mich in meiner Auffassung von der Welt im allgemeinen und dem Leben im besonderen.
Ein ewiger Winter, so steht dort geschrieben, soll die Erde bedecken und all das miserable Leben von ihr löschen, das sich windet und kriecht und unter Schmerzen gebiert und stirbt, nur um neue Generationen von Schleim, Blut und Knochen hervorzubringen. Ewiger Winter, der die Antithese zum jährlich wiederkehrenden Frühling bildet -- die Gnade der Endlichkeit; und endlich soll Vergessen über alle Dinge kommen, die auch nur am kürzesten Aufenthalt auf dieser Welt zu leiden haben.
Denn eine ewige Folter stellt der Aufenthalt hienieden dar, der zerfressen ist vom Aussatz der Krankheit, der Fäulnis und der allmählichen Zersetzung, die in dem Augenblick beginnt, wenn das Leben aus dem Mutterleib kriecht.
Am Anfang bin ich verzweifelt an den Dingen, die ich im Nachtbuch las: denn sie erschienen mir grausam, unmenschlich und zynisch über alles Maß. Aber je länger ich (von dir, Lieber, glaube nicht, daß ich das vergessen hätte) dazu verurteilt war, in dieser finsteren Kammer zu vegetieren, desto eingänger erschienen mir seine würdevollen Phrasen -- desto mehr gingen seine gemessenen Stanzen in mein eigenes Fleisch und Blut über, und ich wurde schließlich eins mit dem Nachtbuch.
Die Dinge, die ich auf seinen unbeschriebenen Seiten las, stehen jetzt mit flammenden Zeichen auf die Wände meines Herzens geschrieben -- wenn das auch das einzige Feuer ist, das ich in meiner kalten Nachtwelt fühle.
"Bitte, Adelaide", sagt er zu mir und öffnet die Tür zur Linken, um mir den Vortritt zu lassen wie ein Herr einer Dame. Und während ich hindurchschreite, beobachte ich sein Gesicht aus dem Augenwinkel und frage mich, woher dieser Wahnsinn kam, der ihn jetzt dazu verdammt, mich zu ewigem Warten im Dunkeln zu verdammen.
Die lange Tafel vor dem riesigen Kamin mit den steinernen Greifen ist gedeckt. Wie jeden Abend hat er gelbe Bienenwachskerzen aufgesteckt, und drei venezianische Glasschalen quellen über vor Rosen. Er erinnert sich, daß ich Rosen von allen Blumen immer am liebsten hatte -- früher. Woher sollte er auch wissen, daß ich in der ewigen Nacht meiner Zelle eine Zuneigung zu weißen Lilien gefaßt habe, die ich früher nicht leiden mochte? Warum ich sie nicht leiden mochte? Weil sie mich stets an das Grab erinnerten. Das Grab, das so viele Schrecken für mich bereitzuhalten schien -- weitaus mehr, als es wirklich besitzt.
Denn eigentlich ist nur das Grab frei von Schrecken, als einziges von allen Dingen, die jedem Lebewesen auf Erden bevorstehen mögen. Denn das Grab ist von allen Dingen das einzig verläßliche und unverrückbare, das jedem Wesen gleichermaßen vorherbestimmt ist. Nur das Grab allein lügt nicht.
Selbst die Liebe, glaubt mir! ist nicht frei von Schrecken. Sie ist in Wirklichkeit sogar einer der größten Schrecken, eine der schlimmsten Prüfungen, denen wir unterworfen werden. Aber erst spät habe ich das herausgefunden, erst jetzt, da ich weiß, daß allein seine Besitzgier und seine Unfähigkeit, mich loszulassen, ihn dazu verurteilt, mich in meinem jammervollen Stadium zu belassen. Nur sein Egoismus und seine als Zuneigung getarnte Anhänglichkeit, die in Wahrheit nichts weiter ist als mangelnde Kraft, sein Schicksal allein zu tragen und die Sinnlosigkeit des Lebens zu akzeptieren. Schon so lange täuscht er sich mit der Idee, ich könne ihm dabei helfen. Ich, von allen geschundenen Wesen auf Erden ausgerechnet ich! Ich bin nicht einmal dazu in der Lage, mir selbst zu helfen.
Aber vielleicht, so meditiere ich, während ich über die Länge der Tafel hinweg sein ausgezehrtes und von Exzessen verwüstetes Gesicht mustere, vielleicht wird sich das eines Tages ändern.
O ja, ich bin mir dessen sogar gewiß, wenn ich näher darüber nachdenke. Ich muß mich nur an den Gedanken gewöhnen, das ist alles. Er ist mir fremd geworden im Lauf der Zeit, aber ich fühle seinen winzigen Abglanz in einem Winkel meines Innern. Einen winzigen Abglanz nur, wie der Schimmer einer einzelnen Kerze im Gewölbe einer Kathedrale.
Rosen bedecken den Tisch, an dessen Ende Allan sein Gesicht in den Händen vergräbt.
Ich habe ihm keine Vorwürfe gemacht, er macht sie sich selbst. Ich täusche mich nicht darüber hinweg, daß auch er leidet -- mehr vielleicht sogar als ich.
Aber meine Augen haben schon lang die Fähigkeit zur Milde verloren, und ich betrachte ihn nur schweigend, während ich mit den Händen die geschnitzten Löwenköpfe streichle, die die Lehnen meines Sessels zieren.
"Du weißt doch", sagt er schließlich, als er sich wieder gefangen hat. "Du weißt doch, daß ich dir nie Böses wollte -- nicht wahr, du weißt es, Liebste? Sage es mir, rede endlich. Sitz doch nicht nur so da und starre mich nicht länger an mit diesen vorwurfsvollen Augen!"
Nein, Allan -- ich habe dir keinen Vorwurf gemacht. Du machst ihn dir selbst. Du weißt, daß es nicht recht ist, was du tust, aber ich weiß, daß du nicht anders handeln kannst.
Er tritt hinter mich und schenkt mir ein aus einem großen Krug, als wäre er mein Diener. Wir haben schon lang keine wirklichen Diener mehr. Der rote Wein gluckert in mein hohes Kristallglas und bricht das Licht der Kerzen mit seinem spröden Gefunkel und wirft einen unscharfen blutfarbenen Fleck auf das weiße Tafellinnen.
"Trink, Adelaide! Stoß mit mir an! Auf diese Nacht -- auf alle Nächte, die noch folgen mögen."
Oh, Allan. Warum täuschst du dich so sehr über deine eigenen Empfindungen hinweg? Wenn du mir gegenüber schon nicht ehrlich sein kannst, kannst du nicht wenigstens versuchen, zu dir selbst ehrlich zu sein? Aber ich weiß, du kannst nicht anders handeln. Wie alle lebenden Geschöpfe wirst auch du beherrscht von Wünschen, Begierden und Trieben, die stärker sind als du.
Die Flüssigkeit in meinem Glas ist kalt und sauer, sie zieht mir den Mund zusammen. Ich mag diese flüssige Fäulnis nicht länger trinken, ich stelle das Glas beiseite, mich ekelt vor seinem Inhalt.
"Trink doch", nötigt er mich.
"Ich will diesen Wein nicht mehr trinken, Allan", sage ich. "Ich trinke ihn seit Jahren Abend für Abend, er schmeckt mir nicht mehr."
"Oh, Adelaide."
Mit seinem stumpfen Blick hängt er wie stets an meinem Mund, wenn ich spreche. Ich weiß, daß ihn meine Zähne faszinieren. Seit ... jenem Tag, als es damals geschah, hat ihn eine morbide Faszination für meine Zähne ergriffen. Vielleicht, weil mein Zahnfleisch so geschrumpt ist, daß sie jetzt länger erscheinen ... vielleicht, weil der jahrelange Mangel an fester Nahrung sie so scharf und spitz hat werden lassen.
"Was hast du heute in deinem Buch gelesen?" fragt er schließlich.
"Nur eines: daß kein Licht mehr meine Augen füllen soll, und daß sie schwarz geworden sind, um der Nacht ganz anzugehören." Und als ich meinen Blick hebe, um ihm in die Augen zu schauen, sehe ich, wie er vor mir zurückzuckt.
"Tatsächlich", murmelt er. Verwirrt fährt er sich mit der Hand über die Stirn, auf der sich fiebrige Schweißtropfen auszubreiten beginnen. Es ist wohl Zeit für eine neue Dosis seiner Droge, ohne die er sein Dasein nicht ertragen könnte. Tu dir keinen Zwang an, Bruder. Trink nur. Ich verachte dich nicht -- nicht mehr, als die Toten die Lebenden verachten. Ich hasse dich nicht, ich will nur nicht mehr warten. Ebenso wie ich damals nicht mehr warten wollte.
"Wird alles wahr, was du in deinem Buch liest?" fragt er.
"Bis jetzt ist nichts davon wahr geworden", sage ich. "Denn ich lese darin nur das, was eigentlich schon längst wahr sein sollte, was jedes Geschöpf auf dieser Welt wissen sollte, denn jedes Geschöpf trägt sein eigenes Nachtbuch in sich."
Ich sehe, daß ihn meine Worte mit Grauen erfüllen, aber auch wenn ich es hasse, ihn leiden zu sehen, so kann ich doch nicht anders, als die Wahrheit zu sagen. Und die Wahrheit ist, daß er es ist, der die Schuld an meiner Situation trägt. Ich kann nicht umhin, es ihm zu sagen. Aber natürlich verstehe ich auch, daß er protestieren muß.
"Nein, nein! Du verwechselst da etwas. Weißt du nicht mehr, daß du es warst, die den dunklen Fremden suchte, obwohl ich dir davon abgeraten habe? Ich habe nie gewollt, daß du zu ihm gehst."
Der dunkle Fremde, ja. Ich wußte, daß das kommen würde. Und es ist wahr, was Allan sagt. Ich war es, die den dunklen Fremden aufsuchte, nachdem wir diesen letzten aller Bälle in unserem Haus gaben.
Keiner wußte, woher der dunkle Fremde kam oder wer ihn eingeladen hatte. Er war plötzlich da, er tauchte auf unter der Reihe von Lampions, die wir in die Äste der Bäume gehängt hatten und die wie eine Perlenschnur aus flackernden Lichtpunkten die Dunkelheit durchschnitten, schwache Leuchtbojen auf dem schimmernden Tuch der Unendlichkeit. Er war ganz plötzlich da, er trat aus der Nacht auf uns zu und grüßte uns höflich. Man sah, daß er ein Gentleman war; und wir fanden keine Worte, um ihm das Bleiben zu verbieten. Wir duldeten ihn, oder besser gesagt: du hast ihn geduldet, denn mir war seine Gegenwart gar nicht unangenehm. Ich tanzte mit ihm immer häufiger bis zum Morgengrauen. Als der Tag gerade anbrach, waren wir die letzten, die sich noch im Ballsaal drehten. Seltsamerweise verspürte ich in seiner Nähe gar keine Müdigkeit -- ganz anders als sonst, denn meine Krankheit hätte mich schon vor Stunden ermüden lassen müssen. Mein Taschentuch war in jener Nacht jedoch rein geblieben, nicht der winzigste Blutfleck verunzierte sein Weiß.
Ja, ich erinnere mich noch gut daran, wie es war, in den Armen des dunklen Fremden zu liegen. Wie seine schwarzen Augen sich in die meinen bohrten -- wie Dolche, doch war ihr Stich eher süß als schmerzhaft. Und so schwelgte ich noch in der Verzückung, die sein süßer Stich mir zugefügt hatte, als du in das Zimmer kamst und uns so sahst.
Natürlich, ich weiß, du konntest nicht anders, als den dunklen Fremden des Hauses zu verweisen. Jeder hätte so gehandelt wie du. Aber später, als ich begann, mich zu verändern -- da hätte dir klar sein müssen, was geschehen war, und du hättest davon Abstand nehmen müssen, mich zu deiner Gefangenen zu machen und mich durch diese abscheuliche Kette um mein Fußgelenk zu demütigen.
Spätestens als mein Husten aufhörte und ich keine Müdigkeit mehr kannte, aber auch als das Sonnenlicht meinen Augen weh zu tun begann und ich mich hinter die zugezogenen Vorhänge meines Schlafzimmers flüchtete, hättest du wissen müssen, was zu tun war.
Der dunkle Fremde hatte seine Spur auf meiner Haut hinterlassen wie ein Schandmal, das mich von allen meiner Mitmenschen unterschied.
Ich war nicht mehr die Adelaide, die du von frühester Kindheit an gekannt hattest.
Du hättest es wissen müssen, Allan.
Jetzt ist es zu spät für Reue.
Als er mich zurückgebracht hat in meinen Kerker, füge ich mich, wie ich es immer getan habe. Ich lasse mir die Kette um den Fuß legen, ich steige in die rohe Kiste, die in der Mitte meines Zimmers auf mich wartet. Ich lausche darauf, daß er den Deckel schließt und die doppelt negative Nacht in der Kiste im düsteren Zimmer mich umfängt. Dort ist die Stille so vollkommen und tief, daß ich das Flüstern des Nachtbuchs auf dem Katheder bis in meine Kiste hören kann -- und ich weiß, was heute auf seinen Seiten geschrieben stehen wird. Ich kann jeden seiner Buchstaben hören. Leise Stimmen steigen in meinem Innern auf; sie klingen wie Gesänge oder ferne, fast unhörbare Anrufungen.
Und im dunkelsten Dunkel lese ich das Buch ohne Wort:
Einstmals bricht der ewige Winter über deine Seele herein, und dein Hunger nach Befreiung wird das Mitleid überwiegen, das du für ihn empfindest. Dann wirst du nicht länger Hühnerblut trinken. Du wirst nach dem einen, dem wahren Blut gieren ... denn es gibt nichts Süßeres als das Blut eines Bruders, dessen Herz seit Jahren von der Hoffnungslosigkeit unerwiderter Zuneigung vergiftet wurde. Und im dunkelsten Dunkel lies das Wort: dann werden alle Fenster und alle Schlösser sich öffnen vor dir, und das Licht der aufgehenden Sonne wird das Tafelsilber auf deinem Tisch vergolden und dich baden in einer Fontäne der Wärme, wie du sie nie zuvor gespürt hast und nie wieder spüren wirst.
Denn für die Angehörigen deiner Art ist der Sonnenaufgang wie das Feuer vom HErrn -- und in seinem Schein sollst du die einzige Wahrheit erkennen, die in das Buch deines Fleisches geschrieben wurde.

© 2002 Monika Angerhuber
Originalveröffentlichung
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