ALLTÄGLICHE KURIOSITÄTEN
von Boris Koch


Nur durch Zufall entdeckte Walter Alltägliche Kuriositäten an einem regnerisch kalten Nachmittag in Arkenheims Altstadt. Nur wenige Geschäfte lockten in der Langen Gasse mit ihren Waren; Second-Hand, esoterische Steine, indischer Schmuck und Wasserpfeifen. Drei Stockwerke hoch, beherbergten die verwitterten Gebäude vor allem Wohnungen und wenige Büros. Hinter der westlichen Hausreihe schlossen sich alte, heute oft leerstehende Lagerhallen der einst blühenden Flußschiffahrt an. Walters Blick fiel auf die schmale graue Fassade zu seiner Linken. Vier Stufen führten hinab zu einer schmutzig-gläsernen Tür, auf der sich rissige Buchstaben zu den Worten Alltägliche Kuriositäten zusammengefunden hatten. Die Dunkel verhangenen Scheiben zu beiden Seiten erweckten nicht den Eindruck von Schaufenstern, und doch schien es sich um ein Geschäft zu handeln. Walter öffnete kurz entschlossen die Türe, um sich etwas aufzuwärmen.
Gebrauchsgegenstände aller Art und Unmengen von Plunder besetzten einen großen Teil der Bodenfläche oder balancierten auf den Brettern der ohne erkennbares System verteilten Regale, quollen aus Truhen oder hingen von der hohen Decke, als hätten alle Flohmärkte des Bezirks sich hierhin über den Winter zurück gezogen. Doch kein Verkäufer ließ sich sehen.
Walter holte die Hände aus den Taschen und schob die Kapuze in den Nacken. Dann sah er sich lächelnd um, kindliche Neugier schob seine schwermütigen Gedanken zur Seite. Schon bald stieß er auf drei breite kantige Bücherschränke, wovon zwei mit abgeschabten Notizbüchern und zerknitterten Heften in allen Größen gefüllt waren. Walter zog einen schmalen Band mit rot-schwarzem Rücken heraus und blätterte darin. Das Tagebuch eines Gustav Hofmann von 1983-88. Der Name sagte Walter nichts. Er behielt das Buch in der Linken und Griff nach einem weiteren. Wieder handschriftliche Erinnerungen, diesmal ohne Name und Datum. Drei graue unbeholfene Bände stammten von einer Katharina Michel. Walter stellte alles zurück und suchte weiter, warf oberflächliche Blicke in die einzelnen Aufzeichnungen. Hier hatte jemand die persönlichen Notizen hunderter Männer und Frauen zusammengetragen, doch nicht ein Verfasser schien prominent zu sein. Seltsam, daß sich das verkaufte, die schriftliche Variante der Nachmittagstalkshows, nur ohne permanentes Geschrei. Wer las so etwas?
"Kann ich Ihnen vielleicht helfen?"
Walter zuckte kurz zusammen, dann wandte er sich um. Ein Mann mittleren Alters musterte ihn mit einem dünnen Lächeln. Grünen Augen, sauber gescheiteltes graues Haar, ebenmäßige weiche Gesichtszüge. Er trug eine graue Hose und ein weißes Hemd, dessen hochgekrempelten Ärmel den Blick auf sehnige, stark behaarte Unterarme freigaben.
"Ähm, ich schau nur, aber was sind das für Tagebücher? Ich meine, wie kommt man auf so `ne Idee?"
Das Lächeln des Ladeninhabers wurde breiter, bezog nun sogar die Augen mit ein.
"Ungewöhnlich, nicht? Ist eine Art Hobby von mir. Ich suche sie mir meist aus Nachlässen zusammen. Andere kriege ich direkt von den Verfassern. Seltsam, wie leicht sich manche Menschen von ihren Erinnerungen trennen.
Und dann wird verkauft. Das Interesse für das Privatleben anderer ist unübertroffen. Die Italienreise eines Professors, der Liebeskummer einer Auszubildenden, die Sorgen einer Finanzbeamtin in den Wechseljahren, Träume und Selbstanklage eines Einsamen, Dreiecksgeschichten, Mordphantasien, hier finden Sie alles.
Ein Tagebuch hat keinen Klappentext, es wird nirgends besprochen. Sie lassen sich auf die Katze im Sack ein, im heute üblichen inflationären Wortgebrauch könnte man von intellektuellem Abenteuer sprechen. Come to Diary Country."
Walter war der Mann sympathisch und er ließ sich breit schlagen. Für die letzten 20,-DM in seiner Gesäßtasche erstand er ein dünnes Heft mit gelbem Umschlag.

Seitdem war ein Jahr vergangen. Walter sortierte inzwischen nachts Briefe für die Post. Immer wieder hatte er sich ein weiteres Tagebuch zugelegt, in die Köpfe fremder Menschen gelinst. Mit Thomas, dem Ladenbesitzer, verband ihn eine lose Freundschaft. Oft blieb Walter bei seinen Käufen über eine Stunde in dem kleinen Geschäft und die beiden Männer sprachen über Kino, Politik, Eishockey oder die Schlagzeilen der Tagespresse.
Bei seinem letzten Besuch hatte Walter ein dünnes blaues Heft ausgemacht, dessen saubere Handschrift an einigen Stellen von hektisch erscheinenden Passagen zittriger Worte unterbrochen wurde, die letzen Seiten strahlten gar durchwegs diese Hektik aus. Walter hatte sich eine emotionale Lektüre erhofft.
Und schon die ersten Sätze packten ihn, die teils weitschweifig-lyrische, teils abgehackte Sprache zog ihn in die Aufzeichnungen eines scheinbar Paranoiden, in dessen Vorstellung die Nacht von unförmigen und wabernden Monstern wimmelte.
"Sie wollen mich töten. Kein Ausweg! Die gierigen Kratzgeräusche auf der anderen Seite der Türe, das wandernde Husten in den Wänden... Ich will nicht Sterben! Nicht jetzt, nicht heute! Der lose Fensterladen quietscht schwer im Wind. Etwas Massiges hängt lautlos lachend an ihm und klopft an die Scheibe, jedesmal, wenn es dorthin geweht wird. Was soll ich tun? Das Schloß gibt nach, die Türe schlägt gegen die Wand. Riesige Zähne! Das ewig saugende Maul..."
Mit diesem Abschnitt endete das kleine blaue Heft, ohne je den Namen der Verfasserin preisgegeben zu haben. Was ist mit ihr geschehen? Lebt sie noch? Wenn ja, in welcher Anstalt? Diese Fragen trieben Walter zu Alltägliche Kuriositäten, vielleicht erinnerte sich Thomas ja an den Kauf. Oder handelte es sich um das Manuskript zu einer phantastischen Erzählung? Fiktion, nicht die Realität des Irrsinns. Wer schrieb schon bis zum Tode, selbst wenn dieser nur eingebildet war?

Der dämmrige Laden war verlassen. Walter sah in jeden Winkel, rief zweimal laut. Die Türe in den hinteren Teil des Gebäudes stand eine Handbreit offen.
"Thomas!"
Keine Antwort.
Behutsam drückte Walter sie auf und blickte in einen kurzen, dunklen Flur. Gegenüber schimmerte Licht durch die Ritze zwischen einer weiteren Tür und dem Dielenboden. Schwach drangen undefinierbare Geräusche von irgendwoher in den Gang, Schmatzen und Kratzen, Saugen und Schaben.
"Thomas!"
Wieder erfolgte keine Antwort. Neugierig durchquerte Walter den Flur und öffnete vorsichtig die Türe. Schlagartig umgaben ihn die Geräusche mit unerwarteter Intensität. Hier entstanden die Geräusche, und Walter nahm alles wahr, ohne es wirklich zu fassen oder verarbeiten.
Violette und orange Helligkeit durchzog die gewaltige Halle. Eiserne Rohre und dicke schwarze Kabel wuchsen wie kranke Skulpturen aus Decke und Boden. Wenige Meter vor Walter begannen zwei die gesamte Länge durchmessende Reihen von Schreibtischen. Abgetrennte, teils ausgedorrte Hände schwebten über ihnen und beschrieben aufgeklappte Bücher und Hefte. Bunte Schläuche, die wie Ölpfützen glänzten, führten aus ihnen heraus, umwickelt von bunten Drähten. Sie wanden sich zuckend durch die Halle, und jeder endete im Nacken einer anthropoiden grauen armlosen Kreatur von der Größe eines Achtjährigen mit über dimensioniertem Kopf und aufgerissenem trichterförmigen Mund. Hierher kam das Saugen und das Schmatzen.
Sie waren überall.
Einige standen auf altarähnlichen Steinblöcken und beugten sich über darauf aufgebahrte Tote, deren Verfall unterschiedlich weit fortgeschritten war. Kürzlich verstorbene lagen neben bröckelnden Skeletten. Die Kreaturen hatten ihre grauen Lippen über die Schädel gestülpt. Reglos verharrten sie mit geschlossenen Augen, nur die glänzenden Schläuche in ihren Nacken pulsierten.
Andere turnten auf oberschenkeldicken Rohren oder hatten sich mit gewaltigen Zehen an Stangen oder Drähten festgekrallt oder hingen kopfüber von der Deckenbeleuchtung. Gierig reckten sie alle ihre Schlünde in Richtung der offenen Fenster in Wände und Decke, hinaus in die kalte Dunkelheit, hinaus zu den Menschen. Die Schläuche pulsierten.
Walter floh. Stumm schreiend rannte er durch Arkenheim, das Schmatzen und Saugen der unzähligen Schlünde in den Ohren. Und das Kratzen der Stifte und Federn über die Seiten der unnatürlichen Tagebücher gestohlener Erinnerungen.

© Boris Koch
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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Website: Edition Medusenblut
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