KARUSSELLS AUF RUMMELPLÄTZEN
Markus K. Korb



Sie sind nicht auszurotten. Diese kleinen Karussells auf Rummelplätzen. Egal wohin man sich wendet, ob Weihnachtsmarkt, Fischmarkt, Bürgerfest oder Straßenfest - immer stehen sie von Erwachsenenaugen weitgehend unbeachtet in den Ecken von Hofeingängen und warten wie lauernde Raubtiere auf ihre Beute.
Kinder haben eine weitaus bessere Aufnahmefähigkeit. Sie erkennen die Karussells am Rand des Sichtfeldes sofort. Aber ihre Sinne sind nicht für das Erkennen der von ihnen ausgehenden Gefahren geschärft. Wie sonst lässt sich erklären, dass Kinder immer wieder hastig über stark befahrene Straßen rennen und genauso schnell mit gierigem Blick ihre Eltern zu den kleinen Karussells ziehen?
Aber Danni ahnte das Unglück, das mit den Musikfetzen zu ihr herüberwehte wie eine zerrissene Fahne, welche nach zahllosen gewonnenen Schlachten auf einem verrottenden Leichenberg steht. Das Mädchen rümpfte die Nase, denn sie roch die Fäulnis ungezählter Kinderseelen, welche das Fahrgeschäft auf dem Gewissen hatte, aus jeder metallenen Pore seiner gefrästen Nietenlöcher. Der üble Geruch drang auch aus den Ritzen der Schweißnähte. Er tropfte als unsichtbarer Eiter aus den rostzerfressenen Flanken der Pferde, welche von Stangen durchbohrt auf ewig ihre Runden drehen müssen. Kinderschweiß hatte rostige Ringe in die Haltestangen gefressen.
Der Regen fiel hämmernd auf das dünne Blechdach des Karussells, floss am zeltartigen Aufbau ab und tropfte einem Strom von Tränen gleich hinunter. Durch den ringförmigen Regenvorhang stieben die Kinder hinein in das Fahrgeschäft, wo sie sich entweder auf die Pferde mit den angsterfüllten Augen schwangen, oder auf den durchgesessenen Sitzbezügen der Kutschen und anderen Fahrzeugen Platz nahmen.
Die leiernde Orgelmusik brandete durch den Wind verweht mal lauter und mal leiser über den Platz, gleich einem misstönenden Meer, das in übereilten Ebbe und Flutbewegungen schwappte. Niemand außer Danni hörte die dem Tönen beigemischten Schreie längst vergessener Kinderseelen, welche von der Orgelpfeifen zurück in die Luft gequetscht wurden.
Die Frau im Kartenhäuschen sah eigenartig verbraucht hinter der verschmierten Glasscheibe aus. Sie nahm die Münzen, die ihr Dani entgegenstreckte mit faltigen Händen entgegen und händigte ihr im Gegenzug ein paar durch unzählige Kinderhände glattgeriebene Fahrchips aus.
Das Karussell wurde langsamer und stoppte. Die Musikorgel klimperte weiter ihre misstönenden Klänge in die von der Aufregung geröteten Ohren der wartenden Kinder. Als die Drehscheibe zum Stehen gekommen war, eilten die Scharen hinauf und nahmen auf Pferden oder Feuerwehrfahrzeugen Platz. Die Fahrchips wurden von einem übellaunigen Pickelgesicht eingesammelt.
Auch Dani war dabei. Sie saß auf einem der sich auf- und abbewegenden Holzpferde und fühlte die Pein der Tiere als Zittern der Pferdeflanken an der Innenseite ihrer Mädchenschenkel, wie die Tiere durch die unbarmherzige Mechanik des Karussells angetrieben, auf immer ihre Kreise drehen mussten.
Die Musik peitschte sie in einem rauschhaften Zustand vorwärts. Ihre Augen schienen sich in tranceartiger Ekstase zu drehen, wie sie auch während langandauernder Schmerzzustände bei Bettlägerigen auftritt.
Von alldem ahnte Dani mehr, als dass sie es wusste. Sie kannte die Schmerzensschreie ihrer Schwester, welche im Krankenhaus lag - hundert Meter entfernt vom Rummelplatz. Jeden Mittwoch und Sonntag musste Dani die Laute der Pein ertragen und das war mehr, als ihre kleine Seele aushalten konnte. Die einzige Ablenkung war der Ritt auf den Karussellpferden, stets nach dem Krankenbesuch.
Gab es Hoffnung auf Heilung ihrer Schwester? Danis Eltern behaupteten es. Doch deren Lächeln erreichte dabei niemals die Augen. Aber Dani glaubte mit der Kraft der Verzweiflung daran. Irgendwann würde sie mit ihrer Schwester gemeinsam auf den Holzpferden reiten und ihre langen Zöpfe im Fahrtwind schwingen.
Als das Karussell stoppte, warf dies Dani zurück in die Realität. Sie stieg etwas unbeholfen vom Ross und wurde von ihrer Mutter in die Arme genommen. Niemand sah die Träne, welche verstohlen aus Danis Auge kroch und über die Wange rann...

Eines Nachts im August wähnte Dani ihre Eltern schlafend vor dem Fernseher und stieg aus dem Schlafzimmerfenster hinaus auf das moosbegrünte Dach des Elternhauses. Vorsichtig rutschte sie auf allen Vieren über die Ziegel und gelangte zur Regenrinne, wo sie sich bis zum Gartenbaum vorarbeitete.
Einen Ast ergreifend schwang sich das Mädchen hinüber in die Arme ihres blättrigen Freundes und stieg an seiner knorrigen Rinde hinab in das feuchte Gras. Sie nahm den Weg über den niedrigen Zaun, um auf die Straße zu kommen, welche den Berg hinunter zur Innenstadt führte.
Dort lag der Marktplatz in tiefem Dornröschenschlaf. Einzig ein gelangweilter Nachtwächter gähnte müde auf seinem Beobachtungsposten am Rande des Platzes. Die Schaubuden und Fahrgeschäfte träumten ihre unbekannten Maschinenträume und regten sich nicht. Einzig unter den zugezogenen Plastikvorhängen des Karussells rumorte es leise. Dani wollte wissen, was die Pferde in der Nacht träumten. Einzig und allein deshalb war sie heimlich aus ihrem Zimmer geklettert.
Sie schlich über das Pflaster und nutzte dabei die Schatten der Buden als Deckung. Das Mädchen kam am Karussell an und hob vorsichtig die Plane. Erstaunt sah sie, dass sich die Pferde und Fahrzeuge zu einer unhörbaren Musik drehten, welche nur die Vorhänge wie Wind bewegte. Die Mäuler der Pferde schienen glücklich zu grinsen, während diese hoch und herunterschwangen.
Dani beobachtete das Schauspiel fasziniert, wie eine Mücke, die das Licht auf der Veranda eines einsamen Hauses auf dem Land umschwirrt. Endlich wagte sie den Schritt nach vorn und betrat die Drehscheibe.
In diesem Moment stoppte das Fahrgeschäft und die Pferde blieben mitten in ihren Bewegungen hängen. Verwundert registrierte das Mädchen, dass sich eine kindergroße Tür in der Mittelsäule einen Spalt breit geöffnet hatte. Noch nie hatte das Mädchen die Tür bemerkt, zu geschickt war sie durch Bemalung und Form in die Säule eingelassen. Leise schlich Dani näher und zog am Metall des verborgenen Türblattes.
Es schwang nach außen auf. Ein verlorener Strahl des Mondes fiel durch ein Loch in der Plane, das der Wind gerissen hatte. Er fiel durch die kleine Tür hinein in den dahinterliegenden Raum und traf auf eine Metallkonstruktion im Inneren der Säule, welche Dani verwundert als Tretmühle identifizierte. Etwas ähnliches hatte sie in einem Buch ihres Vaters gesehen.
Eine Gewirr aus kindgerecht gearbeiteten Stangen und Pedalen verwob sich zu einem Netz, dessen Antriebskräfte mittels bewundernswert kunstvoll ausgeführten Übersetzungszahnrädern zunächst auf die Säule und von dort aus auf die Drehscheibe übertragen wurden. Auf kleinen Sitzen saßen hoch und tief in diesem Gestängewirrwar augenlose Geschöpfe mit gekrümmten Rücken, deren Hautfarbe davon zeugte, dass sie niemals mehr dem Sonnenlicht ausgesetzt wurden. Sie besaßen blutbesudelte Halsbänder, von denen sich rostige Ketten in die Dunkelheit des Gestänges verloren. Anscheinend waren sie Gefangene, dachte sich Dani. Sklaven der Maschine.
Die ausgemergelten Gestalten glichen Kindern, waren aber ausgezehrt und schwach. Sie bestanden nur noch aus Haut, Knochen und Sehnen, die sich dazu benutzten, die Maschinerie des Karussells zu bewegen, wie sie Dani zeigten, indem sie kräftig in die Pedale traten und das Gestänge in Schwingung versetzten.
Rund um Dani knarrte, schnarrte und vibrierte es. Die Drehscheibe lief an. Eines der Kindergeschöpfe wandte sich Dani zu ohne dabei aufzuhören zu treten. Es besaß einen mit groben Stichen zugenähten Mund. Nur mühsam verstand Dani die Worte, welche es mühsam mit sabberndem Klang im geschundenen Mund formte:
"Komm mit uns! Hier ist immer Freude und Spaß! Das Karussell dreht sich immer weiter, ohne Ende. Wir treiben es an und werden durch es angetrieben - immer weiter, ohne Ende."
Dani dachte an den Globus ihres Vaters und daran, dass auch die Erde sich stets drehte - war auch sie nichts anderes als ein Karussell ohne Ende, ohne Sinn?
Das Letzte, was Dani sah, ehe ihr Kopf von einer Querstrebe, die sich um die Säule mitdrehte, abgerissen wurde, war das Gesicht ihrer Schwester, das ihr aus der Dunkelheit des Gestänges erschwert durch ihren zugenähten Mund qualvoll entgegenlächelte.
Später nahm Dani dankbar den Platz in der Maschinerie ein, der von Anbeginn der Zeit für sie freigehalten worden war.

 

© 2002 Markus K. Korb
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