DIE KÄLTE JENSEITS DER TRÄUME
Michael Siefener


Er trat aus seinem Traum heraus und befand sich in der kalten Stadt. Erstaunt erhob er sich von den harten, kalten Stufen und sah sich um. Eine Dunkelheit, die aus der Unendlichkeit des Himmels herbeizuwehen schien, küßte den scheidenden Tag. Erste Lichter dämmerten wie träumende Seelen über den Spitzen der schwindelnd hohen Gebäude, waren wie ein vages Ziel für die stählernen und gläsernen Finger, zu dem sie sich bei jedem Einbruch der Dämmerung erneut auf den Weg machten - fort von den kalten Straßen, von den kalten Plätzen, von den kalten Träumen, mit denen ihre Fundamente gefesselt waren. Er sah, daß alles in dieser Stadt nach oben strebte; selbst die Passanten, gefangen im pulsierenden Strom der Straße, schienen die Blicke sehnsuchtsvoll in den sich schwärzenden Himmel zu senken.
Warum war er hier? Wer hatte ihm gesagt, daß er hier etwas über den toten Künstler erfahren konnte? War es jemand aus seinem Traum gewesen? Aus welchem Traum?
Jemand kam auf ihn zu; er trug einen grauen Anzug und hatte schwarzes, glattes Haar und Augen, in denen sich die Seele der Sterne spiegelte. "Ich freue mich, daß sie gekommen sind", sagte dieser Mann mit unbeteiligter, kalter Stimme.
"Wie haben Sie mich erkannt?"
Der graue Mann lächelte. "Wie hätte ich Sie nicht erkennen sollen?" Er streckte die Hand aus. "Ich kenne Sie beide. Kommen Sie."
Der graue Mann führte ihn durch die Gedärme der kalten Stadt. Ihn fröstelte; er zog den Kragen seines schwarzen Mantels enger und verkroch sich tiefer in sich selbst. Die Menschen, die ihnen hier begegneten, waren grell und schienen gar nicht zu dieser Stadt zu passen. Sie waren wie Viren, huschten umher, verbissen sich in die Häuser, drangen in Türporen ein, wühlten das Innerste auf, entzündeten es, so daß es immer wieder grellgelbes Licht hinaus auf die Straße spie.
Ein Platz lag wie ein Magen im Sternenlicht. Er bewegte sich, zuckte; es waren vielleicht nur die Platanen, deren letzte, schwarz gewordene Blätter im Wind wogten.
"Hier hinunter." Der graue Mann zeigte in die Erde. Eine Metro-Station? Nein. Es war ein Tunnel, ein Tunnelsystem, ein Labyrinth. Wie konnte er es wagen, diesem fremden grauen Mann zu folgen?
Die verästelten Gänge, durch die sie liefen, waren von denselben Menschen bevölkert wie draußen, wie oben, wie in der Nacht. Hier war Tag. Neontag. Ewig. Weiße Kacheln. Kalte Kacheln. Und grelle, huschende Farben davor. Die Passanten hielten den Blick starr auf den schmutzigen Boden gerichtet.
"Wie ist er gestorben?" fragte er leise aus seinem schwarzen Mantel heraus.
"Wer?"
"Der Künstler."
"Sie werden es begreifen, wenn sie es sehen." Der graue Mann ging immer schneller; er lief beinahe. Nahmen diese Tunnel denn nie ein Ende? Die Wände waren nicht mehr gekachelt. Bloßer Beton bäumte sich auf und verlor sich hoch oben in Schwärze. Wie aus dem Nichts hingen an langen Kabeln nackte Glühbirnen herab. Einige brannten, einige waren tot. Einige flackerten. Auch in den Betonwänden flackerte es. Es phosphoreszierte. Ablagerungen, Schwefel, wegen der Feuchtigkeit, dachte er. Das Flackern zog nicht nur seine Blicke an, sondern auch seine Gedanken.
"Der Leichnam des Künstlers - warum ist er verschwunden?" fragte er flüsternd.
"Sie werden es sehen. Und dann werden Sie es verstehen." Er spürte, wie ihn ein fauliger, warmer Luftzug von vorn anwehte. Lebenswarm. Menschenwarm. Er begann in seinem schwarzen Mantel zu schwitzen.
"Sehen Sie dort hinten die Nische? Da ist es. Gehen Sie nur hin, trauen Sie sich", sagte der graue Mann.
Er sah die Nische im Licht der Glühbirnen und der flackernden Wände. Rasch ging er auf sie zu. Etwas lag dort auf dem harten, kalten Boden. Jemand. Er bückte sich. Es war der verschwundene, verschollene Leichnam des Künstlers. Und dieser Leichnam trug das Gesicht desjenigen, der sich nun über ihn beugte. Er sprang entsetzt hoch und wirbelte herum. "Was...?"
Der graue Mann war nicht mehr da.
Die Wärme wurde unerträglich. Er zog den schwarzen Mantel aus. Und sah erstaunt, daß er darunter einen grauen Anzug trug. Er strich sich mit einem Lächeln, das aus plötzlicher Erkenntnis geboren war, über das glatte, schwarze Haar und berührte den reglosen, kalten Körper unter sich. Der Körper zitterte, und der Künstler hob traumverloren den Kopf.
Ihre Blicke begegnete sich. Der graue Mann half dem toten Künstler, sich zu erheben, und dann führte er ihn endlos weit hinauf hinter die flackernde, ahnungssatte Dunkelheit.
Die Kälte jenseits der Träume verschlang sie.

© Michael Siefener, 2000
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