PROFESSOR TOVIC - DER ENTSEELER
Daniel Schenkel


Seit ich denken kann, war mein ganzes Leben auf die Vermeidung von Gefühlen ausgerichtet. Ich verabscheute die emotionalen Achterbahnfahrten zutiefst, zu denen mich die Welt regelmäßig zwang und versuchte aller Kraft, diesen Qualen zu entkommen. Doch trotz all der chemischen Substanzen und Selbstkasteiungen, mit denen ich mich marterte, blieb noch etwas übrig, ein unausrottbarer Rest Menschlichkeit, den ich nicht loszuwerden vermochte.
Mit den Jahren wuchs meine Verzweiflung und ich plante bereits, meiner verhassten Existenz ein Ende zu bereiten, als ich, auf einem meiner ziellosen Spaziergänge durch die alte verfallene Stadt in der ich damals lebte, das Plakat entdeckte. Es war nicht besonders groß und klebte auf der Schaufensterscheibe eines verlassenen Geschäftes, von denen es in der Innenstadt so viele gab. Seine Farbe war in grellem Neongelb gehalten und die Schriftzüge darauf erinnerten mich in ihrer orientalischen Verschlungenheit an die Werbung für einen Jahrmarktszauberer oder Wahrsager.
"Sind Sie der ständigen Höhen und Tiefen des Lebens überdrüssig?", fragte das Plakat. "Sehnen Sie sich nach einem Leben der Kontemplation und der Ausgeglichenheit? Ihnen kann geholfen werden! Professor Tovic hilft Ihnen, Ihre Gefühlswelt in den Griff zu bekommen. Suchen Sie seine Praxis noch heute auf und bereits am nächsten Tag werden Sie von Ihren Sorgen und Ängsten für immer erlöst sein."
Das Plakat erschien mir wie die Offenbarung einer gnädigen Schicksalsgöttin. Tränen der Freude liefen über meine Wangen, als ich den Text las und beschloss, den Mann, dieses Genie, das mich von allem was ich so sehr verabscheute für immer erlösen würde, unverzüglich aufzusuchen. Die Adresse, die auf dem Plakat angegeben wurde, sagte mir nichts, aber zurück in meiner Wohnung konsultierte ich einen Stadtplan. Obwohl der Tag schon ziemlich vorgerückt war, entschied ich, sofort aufzubrechen. Ich war nicht mehr imstande, auch nur noch eine Nacht länger zu warten. Jede Minute, in der ich noch von Emotionen und Menschlichkeit gepeinigt wurde, war mir zur Qual geworden.
Professor Tovics Praxis befand sich laut meinem Stadtplan im Industrieviertel der Stadt, einem heruntergekommenen, ständig nach Rauch und Chemikalien stinkenden Ort, den ich noch nie zuvor in meinem Leben betreten hatte. Ich nahm einen Bus, der in die entsprechende Richtung fuhr und stieg an einer Haltestelle in der ungefähren Nähe der Praxis aus.
Trotz meiner Karte war es nicht leicht den Professor zu finden. Im bereits schwindenden Licht verwandelten sich die Straßen des Bezirks in ein wirres, übelriechendes Labyrinth, in dem mir nur sehr selten Menschen begegneten. Es schien mir, als würden die Leute sich beeilen das Gebiet nach Sonnenuntergang zu verlassen, als sei es Menschen nicht erlaubt, sich hier zur nächtlichen Stunde noch aufzuhalten.
Nach gut zwei Stunden des Umherirrens, erreichte ich endlich die Praxis von Professor Tovic. Das Häuschen lag im Windschatten eines klotzigen Fabrikgebäudes, dessen dunkle Fenster mich an das Starren eines wilden Tieres erinnerten. Tovics Domizil sah so alt und windschief aus, dass ich vermutete, es sei schon hier gewesen, als der Industriebezirk noch unschuldiges Ackerland gewesen war. Kein Schild verkündete die Anwesenheit einer Praxis, aber die Hausnummer stimmte und so klopfte ich an.
Ich wartete gut zehn Minuten in denen sich nichts rührte. Vergeblich versuchte ich durch ein Fenster in das Innere des Hauses zu spähen. Die Scheiben waren derartig von Ruß verdunkelt, dass ich nicht das Geringste erkennen konnte.
Nachdem ich nochmals geklopft und keine Reaktion erhalten hatte, wollte ich bereits tief enttäuscht meinen Rückweg antreten, doch gerade in dem Moment wurde die Tür von einem alten, weißhaarigen Mann geöffnet. Er trug einen Arztkittel, der an mehreren Stellen deutliche Flicken aufwies, darüber stand ungepflegtes Haar wild nach allen Seiten ab.
"Was wollen Sie?", fuhr er mich an. "Die Praxis ist für heute geschlossen."
"Professor Tovic, bitte, ich habe so lange nach Ihnen gesucht." Ich zweifelte keine Sekunde daran, den Mann vor mir zu haben, der die Fähigkeit besaß, meinem Leiden ein Ende zu bereiten. "Ich sah das Plakat und bitte Sie um Hilfe. Der Preis spielt keine Rolle."
Der Professor warf mir einen undeutbaren Blick zu, der mir nicht sonderlich gefiel. Dann gab er sich anscheinend einen inneren Ruck und sagte: "Nun gut, vielleicht kann Ihnen heute noch geholfen werden. Kommen Sie herein!"
Ich dankte ihm überschwänglich für seinen Großmut und folgte ihm in das Innere seiner Praxis. Der Anblick, der sich meinen Augen dort darbot, ließ mich beinahe wieder umkehren. Was hatte ich erwartet? Ich weiß es nicht mehr und habe es wohl auch damals nicht recht gewusst. Jedenfalls hatte ich nicht überall Schmutz und Staub, zerbrochenes Glas auf dem Boden und uralte, morsche Möbel erwartet. Es war mir unmöglich zu sagen, wie viele Räume die Praxis eigentlich besaß. Der übereinandergestapelte, undefinierbare Plunder schien auf merkwürdige Art den Raum zu verzerren, so dass ich lediglich ein kaleidoskopartiges dunkles Chaos wahrnahm, durch das mich der Professor winkte.
"Setzen Sie sich dort hin!" Er zeigte auf einen wackeligen Holzstuhl mit unterschiedlich langen Beinen. Ich tat wie mir geheißen und wartete geduldig, während Tovic geräuschvoll in der Finsternis herumkramte.
"Die Behandlung dauert nicht sehr lange, ist aber nicht unkompliziert", hörte ich seine Stimme aus der Dunkelheit. "Es gibt gewisse Risiken, die ich zu beachten habe und deshalb mag Ihnen der Preis ein wenig hoch erscheinen."
Als Tovic wieder in meinem Blickfeld auftauchte, hielt er in der rechten Hand ein schmuddeliges Scheckbuch, während ich in seiner linken eine Art Zange erkennen konnte.
"Ich habe die erforderliche Summe bereits eingetragen. Sie brauchen nur noch zu unterschreiben."
Der Betrag war wirklich kein Pappenstiel, doch ich unterschrieb den Scheck ohne mit der Wimper zu zucken. Geld bedeutete mir nichts, erst recht nicht, wenn ich mir damit Ruhe und Frieden für den Rest meines Lebens erkaufte.
"Also gut." Der Professor räusperte sich wie ein Festredner kurz bevor ihm das Wort erteilt wird. "Lehnen Sie sich zurück und öffnen Sie den Mund. Vielleicht wird es etwas weh tun, aber der Schmerz wird bald nachlassen, das versichere ich Ihnen."
Ich tat was er verlangte. Daraufhin hob der alte Mann mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm niemals zugetraut hätte, die Hand und rammte mir die Zange blitzschnell durch den geöffneten Mund in den Hals.
Der Schmerz war so stark, dass ich nicht einmal schreien konnte. Lediglich ein klägliches Stöhnen entfuhr mir, während Tränen über meine Wangen liefen. Trotzdem bewegte ich mich nicht, sondern ließ zu, dass Tovic mit seinem Folterinstrument in meinem Körper herumfuhrwerkte.
Schließlich zog der Professor die Zange wieder aus meinem Mund. Ich hustete und würgte und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Halb ohnmächtig, in zusammengekrümmter Haltung kauernd, hörte ich, wie Tovic erneut in der Müllhalde herumfuhrwerkte, die er seine Praxis nannte. Dann kehrte der Professor an meine Seite zurück.
"So, es ist vollbracht. Die Schmerzen sollten in den nächsten Stunden nachlassen. Falls Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich bin ein alter Mann und der Tag war recht lang."
Er geleitete mich zur Tür, die er hinter mir abschloss. Ich war von den Schmerzen so benommen, dass mich nicht einmal über diesen raschen Abschied wundern konnte. Wie ein Schlafwandler taumelnd erreichte ich die Bushaltestelle, von der aus ich zurück in die Innenstadt fuhr.
Tatsächlich ließ der brüllende Schmerz in meinem Brustkorb bald nach. Zurück blieb ein Gefühl angenehmer Taubheit, das sich von meinem Solar Plexus aus bald über den ganzen Körper ausbreitete. Meine Sinne waren nicht betroffen, ich konnte immer noch genau so gut hören, sehen und riechen wie zuvor, doch lösten die Eindrücke im Gehirn keine Reaktion aus. Ich war in ein Stadium der Gleichgültigkeit geraten, auf das ich nicht einmal in den kühnsten Träumen dunkler Nächte zu hoffen gewagt hätte. Doch ich war unfähig darüber Freude zu empfinden. Eigentlich war ich unfähig, überhaupt etwas zu empfinden.
Zurück in meiner schäbigen kleinen Wohnung legte ich mich auf mein Bett und schloss die Augen, da ich den vagen Drang nach Ruhe verspürte.
Der Schlaf aber kam nicht.
Ich lag einfach nur da, starrte gegen die dunklen Innenseiten meiner Lider und spürte die absolute Leere in mir. Nach einiger Zeit stand ich wieder auf, da ich einsah, dass Schlaf wohl etwas war, das mir in meiner neuen Existenzform verwehrt bleiben würde. Den Rest der Nacht verbrachte ich vor dem Fenster, die Straßenszenerie beobachtend.
Während der nächsten Tage wurde die Leere in mir immer stärker. Bald war ich nicht mehr fähig, einer zielgerichteten Tätigkeit nachzugehen, denn das Nichts in meinem Brustkorb ließ jede Aktivität überflüssig erscheinen. Selbst das Essen fiel mir schwer und so beendete ich die Mahlzeiten meistens nach nur wenigen Bissen. Lesen, einen Kinofilm ansehen oder einfach nur einen bestimmten Ort in der Stadt aufzusuchen, erforderte ungeheure Willensstärke.
Ich war zu einem wandelnden Leichnam geworden. Die Behandlung des Professor Tovic hatte mich auf eine schreckliche Art kastriert und trotz meines faktisch nicht mehr vorhandenen Gefühlslebens, begann ich bald ein unbeschreibliches Grauen zu empfinden. Dieses Grauen wurde lebensbestimmend für mich, da ich keine anderen Empfindungen mehr kannte. Erneut spielte ich mit dem Gedanken, das Ende meiner Existenz herbeizuführen, aber eine nicht zu erklärende Sicherheit, dass dies mein Problem nur noch verschlimmern würde, hielt mich von diesem endgültigen Schritt ab.
Mir blieb nur eine einzige Möglichkeit: Ich musste Tovic erneut aufsuchen und ihn bitten, seine Behandlung rückgängig zu machen.
Ich brauchte sehr lange für diesen Entschluss, aber schließlich machte ich mich auf den Weg. Bevor ich in den Bus stieg, der mich in das Industrieviertel bringen würde, erstand ich in einem Haushaltswarenladen etwas, das mir, wie ich glaubte, noch von nutzen sein konnte.
Auch dieses Mal hatte ich große Schwierigkeiten, die Praxis zu finden, aber anders als bei meinem ersten Versuch, wurde ich nicht ungeduldig. In meinem abgestumpften Zustand hätte ich wahrscheinlich, ohne einen Anflug von Resignation, jahrelang auf der Suche nach Tovic durch das Viertel irren können.
Nach etwa einem halben Tag fand ich die Praxis im Windschatten des klotzigen Fabrikgebäudes wieder. Erneut musste ich mehrmals klopfen, bis mir geöffnet wurde. Auch der Professor hatte sich nicht verändert; er war immer noch so zerzaust und ungepflegt wie bei meinem ersten Besuch.
"Was wollen Sie denn?", knurrte er, als ich mich an ihm vorbei in das dunkle Chaos der Praxis schob.
Ich wollte ihm sagen, dass er seine Behandlung rückgängig machen solle und zwar schnell, doch zu meiner Überraschung drang aus meiner Kehle nur ein klägliches Krächzen. Ich versuchte erneut das Wort an Tovic zu richten, jedoch ohne Erfolg. Seit der Behandlung hatte ich kein Wort mehr gesprochen, einfach weil es dafür keine Veranlassung gegeben hatte. Jetzt erst lernte ich eine weitere Nebenwirkung von Tovics Kur kennen: Seine scheußliche Zange musste meine Stimmbänder zerstört haben.
"Ich kann mir schon denken. Sie wollen alles wieder rückgängig machen, was?" Tovic schloss die Tür hinter sich. "Tja, mein lieber Freund, leider muss ich Sie enttäuschen. Der Prozess ist unumkehrbar."
Ich krächzte protestierend, doch der Professor zuckte nur in zynischer Gleichgültigkeit mit den Achseln. "Kommen Sie, kommen Sie! Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen."
Er bedeutete mir, ihm zu folgen und ich wankte ihm tatsächlich hintendrein, tiefer in das Innere der chaotischen Praxis.
In einer Ecke stand ein Regal mit grünen Glasflaschen, das mir bei meinem ersten Besuch nicht aufgefallen war. In jeder dieser Flaschen befand sich amorphes, blassrötliches Ding, von dem ein schwaches Leuchten ausging. Nachdem sich meine Augen einigermaßen an das schlechte Licht aus den verborgenen Lampen gewöhnt hatten, konnte ich die Namen auf den Flaschenetiketten lesen. Ich war nicht einmal besonders überrascht, als mein Blick auf meinen eigenen Namen fiel.
"Sehen Sie! Alles fein säuberlich herausgeschabt. Ein Wiedereinsetzen ist definitiv nicht möglich. Das wäre in etwa so, als würden Sie Ihren herausgeschnittenen Blinddarm verspeisen, in der Hoffung, dass er im Körper schon wieder am richtigen Platz festwachsen wird."
Als ich nach der Flasche greifen wollte, die meinen Namen trug, schlug Tovic meine Hand grob beiseite.
"Nein, nein, keine Chance, mein Herr! Das sind nun meine Studienobjekte. Die gebe ich nicht wieder her. Ich habe hier noch so viel zu erforschen. Wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages der bedeutendste Wissenschaftler aller Zeiten sein."
Gleichgültig zog ich das im Haushaltswarenladen erworbene Fleischermesser aus der Innentasche meines Mantels hervor. Tovic erbleichte, als sein Blick auf die lange breite Klinge fiel. Er wollte sich ducken, aber ich war viel zu schnell für ihn. Ich stieß das Messer durch seinen Brustkorb und zog nach unten, schlitzte ihm den Bauch auf, so dass sich seine Gedärme als graurote Masse auf den Boden ergossen.
Der Professor keuchte und fiel wild mit den Armen rudernd nach hinten, wobei er das Regal mit sich riss. Mit dem Krachen splitternden Holzes begrub es Tovic. Die Flaschen zerbarsten klirrend auf dem Boden. Ihr Inhalt begann an der frischen Luft zu zischen und zu dampfen und löste sich schließlich in kleine, merkwürdig riechende Wolken auf.
Für eine ganze Weile konnte ich, emotionslos wie ich durch Tovics Behandlung geworden war, nur dastehen und die Szenerie betrachten. Langsam dämmerte mir, dass ich das, was der Professor mir genommen hatte, nie wieder zurückerhalten würde, dass ich für den Rest meiner armseligen Tage das Leben eines Scheintoten führen würde.
Ich ließ die Leiche liegen wo sie war und schloss die Tür der Praxis hinter mir. Mittlerweile war es Nacht geworden und selbst durch den smogverhangenen Himmel des Industrieviertels waren die Sterne gut zu erkennen. Den ganzen Heimweg über meinte ich, ein höhnisches Lachen aus den kalten Weiten des Himmels zu hören, das die Menschheit im Allgemeinen und mich im Besonderen verspottete.


© Daniel Schenkel 2001
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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