To cigarettes (My lost love)
The night is the hardest time to be alive, she had told
him. And four a.m. knows all my secrets.
Poppy Z. Brite
Als Teenager neigte ich zu Depressionen. Für mich war die Welt nur etwas, vor dem man fliehen muss.
Ich begann zunächst mit Alkohol zu fliehen und dann, als die Sechziger voranschritten, mit jeder Art von Droge, die ich bekommen konnte.
Thomas Ligotti (aus einem Interview mit E.M. Angerhuber)
Storm verließ ihre kleine Studentenwohnung, gelangweilt. Es war ein eiskalter Tag im Januar, Sturmwarnung. Ich wollte mich in die Disco begeben. Fühlte mich schrecklich sexy heute. Trug schwarze Stiefel, zerrissene
Netzstrümpfe, einen extrem kurzen, schwarzen Lederrock und ein dunkelblaues Samtoberteil, darüber einen dünnen schwarzen Ledermantel. Meine langen schwarzen Haare wehten im Wind...Die anderen Menschen verfolgten Storm mit ihren Blicken. Männer, die plötzlich auf dem Bürgersteig stehenblieben und sie mit gierigen Blicken belästigten. Ich weiss, dass ich gut aussehe, ich muss mir nichts beweisen. Storm stolzierte geradezu durch den mittelalterlichen Stadtkern Braunschweigs. Sie folgte den altertümlichen
Gaslaternen - unter ihren Stiefeln bebte das Kopfsteinpflaster. Ihr Ziel war eine Disco namens Tempel X. Lust zum Tanzen hatte sie eigentlich nicht. Noch viel weniger, diese ganzen schwarzen Spinner zu treffen. Nur die Langeweile trieb sie durch die Straßen. Wie üblich, würde sie wohl bereits nach wenigen Minuten die Disco wieder verlassen und frustriert nach Hause gehen. Ich musste bei diesem Sturmwetter einfach das Haus verlassen, im Schein des Vollmonds an die frische Luft. Storm ärgerte sich schon länger darüber, dass
all die kleinen Kinos in der Stadt zugemacht hatten, seit das Cinemaxx aufgemacht hatte. Sie war einer dieser Filmfreaks, die schon als Kind einen eigenen Videorecorder besessen hatten. Sie kannte tausend und dreizehn Filmzitate auswendig und quälte ihr Umfeld damit. Mann wusste nie genau, ob sie gerade zitierte oder eigene Worte sprach. Zu jeder Situation fielen ihr die passenden Zitate ein. Am meisten liebte sie David Lynchs Filme. Aber auch alte schwarzweiße Horror-Streifen: Das Kabinett des Dr. Caligari, die Nacht der lebenden Toten und ganz besonders Freaks. Storm studierte Literaturwissenschaft und Anglistik im sechsten Semester. Sie schlief selten um vier Uhr morgens. Seit Mulholland Drive hatte sie keinen guten Kinofilm mehr gesehen. Sie kam schließlich durch eine dunkle, mittelalterliche, ja man könnte sagen kafkaeske Gasse, in der es keine Geschäfte gab.
Die Gasse war nicht erleuchtet und auf beiden Seiten erhoben sich dunkle Fachwerkhäuser, die unrenoviert waren, wie man sie noch vielerorts im Osten Deutschlands vorfinden konnte. Die Häuser neigten sich weit nach vorne, schienen zusammenzuwachsen. Daher konnte man den vollen Mond nicht mehr sehen, der heute durch die zerrissenen Sturmwolken leicht grün schimmerte. Sie war diese Gasse schon unzählige Male entlang gegangen. Doch nun fiel ihr etwas auf, rechts neben ihr befand sich ein Eingang, der einem Portal ähnelte, aus dunkelgrün gestrichenem Holz. Eine Tür war nicht zu sehen, nur ein schwerer Vorhang aus dunkelrotem Samt,
der die Sicht auf das Innere des Hauses versperrte. Aber im Zwielicht der dunklen Gasse, sah man einen deutlichen Lichtschimmer unter dem Vorhang funkeln. Über dem Portal befand sich eine altmodische Leuchtschrift, die flackerte und laut knisterte. Motten tanzten um die Schriftzeichen. "Cinema Strange" stand dort in grünen Buchstaben geschrieben. Meine Neugier war sofort geweckt. Handelte es sich hierbei um eine alte Spelunke? Ein Restaurant, einen Puff oder ein Kino? Wenn es ein Kino war, also kein Porno-Kino, musste es sehr interessant sein. Ich fuhr mir durch meine schwarzen Haare und spürte wie ein aufregendes Kribbeln durch meinen Leib fuhr. Aus einem Metall-Etui zauberte ich eine Zigarette hervor und flambierte sie, schützend vor dem Sturm hinter meiner Handfläche. Ich sammelte Mut, durch das Portal schreiten zu können...Es stand felsenfest, dass ich nicht mehr in die verdammte Disco gehen würde. Ich rauchte die ganze Zigarette auf - blaue Gauloises. Während der gesamten Zeit passierte kein anderer Mensch, die ansonsten sehr belebte Gasse, die soetwas wie eine Abkürzung war. Von drinnen drang leise Musik nach draußen - eine
Mischung aus altem Blues und Zirkusmusik. Meine Vermutung erwies sich als richtig.
Es war nur ein kleiner Schritt durch das Portal, durch den verrauchten, nach Patchuli stinkenden schweren Samtvorhang. Aber es kam mir so vor, als hätte ich mit diesem Schritt achtzig Jahre hinter mir gelassen. Storm war hoffnungslos überfordert, in der kurzen Zeit alle Sinneseindrücke zu verarbeiten. Uralte Plakate, die an den Wänden hingen, Schnitzereien, ein gestreifter Parkettfußboden...Das Foyer erinnerte Storm an die Bühne in der Traumsequenz des Films Eraserhead. Ihr fiel ein kleiner Kassenschalter auf, hinter dem ein glatzköpfiger alter Mann saß. Sollte ich ihn wecken? Er schlummerte so friedlich...Seinen Kopf hatte er auf eine vergilbte Zeitung gebettet. Ich erhaschte einen kurzen Blick, erkannte oben rechts in der Ecke ein Hakenkreuz. Storm ließ ihre Blicke über die unzähligen Plakate, die überall an den Wänden hingen, schweifen und ging mit ihrem Verstand auf Wanderschaft. Das Foyer als überladen zu
bezeichnen, wäre maßlos untertrieben. Sie kannte keinen der Filme. Die meisten Filme waren nach der Hauptperson benannt (alle?) und mit reißerischen Untertiteln versehen, die sie sofort wieder vergaß, nachdem sie sie gelesen hatte. Sie ging in Gedanken vertieft ein kleines Stück nach vorn und wurde
von einem lauten Geräusch aufgeschreckt, eine Holzdiele war unter ihrem schwarzen langen Stiefel, der immer perfekt gepflegt war, zerbrochen. Der alte Kassierer erwachte zu neuem Leben. Er setzte ein Monokel auf, das ihm an einer langen Kette um den Hals hing, und schaute Storm an. Mit seinem durch das Monokel unwirklich vergrößerten linken Auge, fokussierte er sie, sodass Strom seinen Blick auf der Haut spüren konnte, vergleichbar mit einem Sonnenstrahl aus kaltem Licht. Ich fragte ihn, welcher Film heute gezeigt würde - doch er schien nicht zu verstehen. Mit schlesischem Dialekt sprach er: "Lassen Sie sich überraschen. Der Eintritt ist frei." Diese Worte brachen das Eis. Die Neugierde besiegte die Skepsis in Storm. Sie ging mit selbstsicheren, weit ausholenden Schritten den Flur entlang in das einzige Kino, das sich hinter einem
weiteren, roten Vorhang verbarg. Storm betrat einen langgezogenen Raum mit etwa vierzig Sitzplätzen. Es schien gerade soetwas wie die Wochenschau zu laufen. Sie sah das Innere eines deutschen U-Boots - Offiziere, die in der klaustrophobischen Enge Karten spielten und in die Kamera lächelten - sie grinsten nicht, wie Storm erstaunt feststellte. Seltsamerweise hörte sie keinen Ton, außer der selben sonderbaren Musik, die bis nach draußen gedrungen war. Warum hatte man sie im Foyer nicht vernehmen können? So dick waren die Vorhänge nicht. Die Musik war so leise, dass man sie nur mühsam verstehen konnte. Man konnte nicht ausmachen, von wo die Musik herkam, sie schien einfach im Raum zu schweben - wie der blaue Zigarettendunst, der bewegungslos über den dunkelgrünen Sitzen hing. Ich hätte sie eher als giftgrün bezeichnet. Sie waren allesamt dreckig und abgenutzt, bis auf einen in der letzte Reihe, fast in der Mitte, auf den Storm sich setzte. Ich war allein...Als hätte der Filmvorführer auf Storm gewartet, begann in diesem Moment der Hauptfilm. Nun war es stockfinster im Raum. Ein weißer Punkte zuckte über die
Leinwand. Flimmern. Unschärfe. Flackern. Ein Haar befand sich zwischen dem Zelluloid und dem Projektor - zuckte wie ein Fisch auf dem trockenen auf der Leinwand hin und her. Der Punkt wuchs und färbte sich rot - zerplatzte super-nova-haft - hinterließ rote Spritzer auf der Leinwand. Die Spritzer flossen zusammen
und bildeten Buchstaben. Erst ein S, dann ein T...
S-T-O-R-M...Es traf mich wie der Schlag. Erlaubte sich jemand einen bösen
Scherz mit mir? Ich hatte niemandem hier meinen Namen genannt. War es ein Zufall?
Außerdem hätte ich eher mit einem Schwarzweißfilm in diesem uralten
Kino gerechnet, was mich zusätzlich wunderte. Doch uralt konnte es auch nicht
sein, schließlich war ich unzählige Male durch die Gasse gekommen und
es war mir nie aufgefallen. Dann folgte der Untertitel des Films: "Untergang
des Leidens." Ich musste an die Worte einer Freundin von mir denken, die
vor Jahren die Stadt verlassen hatte und zu der ich keinen Kontakt mehr hatte:
"Es geschehen sonderbare Dinge ..." Storm bekam es mit der Angst.
Eine schreckliche Vorahnung wuchs in ihr, ein Gefühl von Bedrohung und namenlosen
Grauen, wie es ihr Lieblingsautor Lovecraft wohl formuliert hätte. Sie widerstand
dem Drang, das Kino zu verlassen. Um ihre wachsende Nervosität zu bekämpfen,
steckte sie sich eine Zigarette an und starrte dann gebannt auf die Leinwand.
Ihrem Freund gegenüber hatte sie es einmal so ausgedrückt, das Rauchen
half ihr, weniger nervös zu sein. Worauf er gefragt hatte, seit wann sie
nervös war. Seit ich angefangen habe zu rauchen...In der Ecke war
ein Nichtraucherschild, trotzdem roch hier drinnen alles nach Nikotin. Storm klammerte
sich so fest an den Glimmstengel, als würde ihr Leben davon abhängen,
dabei sollten sie einen doch angeblich umbringen. Wenn sie das tun, geht es
viel zu langsam...Die Leinwand wurde schwarz und blieb es auch für eine
Weile. Leise Schreie kamen aus den Boxen, verzerrt und unmenschlich, trotzdem
erinnerten sie einen an Babygeschrei. Dann sah man ein Embryo, das von der Kamera
herangezoomt wurde. Es befand sich im Mutterlaib, versuchte zu sprechen, zu schreien,
war aber unfähig dazu. Jedesmal wenn es denn Mund öffnete, strömte
Flüssigkeit hinein und erstickte alle Laute. Schnitt. Eine ältere Frau
hielt ein Baby in der Hand und verzog das Gesicht, hielt das kleine schreiende
Etwas möglichst weit von sich weg, wie einen alten stinkenden Fisch. In
Erinnerung an meine Kinderfotos stellte ich mit Erschrecken fest, dass es sich
um meine eigene Mutter handelte ... Und das Baby, das musste ich sein. Meine Mutter
kannte ich nur von alten Schwarzweißfotos - sie hatte sich das Leben genommen,
als ich noch sehr klein gewesen war. Ein Fön in der Badewanne, wie klassisch.
Die Kamera zoomte auf das Gesicht meiner Mutter zu. Ich sah ihre Abscheu, ihren
Hass. In den Augen sah ich keinen Stolz, keine Mutterliebe. Nur Hass. Schnitt.
Ich sah nun meinen Vater auf der Leinwand. Überlebensgroß. Er war
ein übergewichtiger Mann, mit drei Haaren auf dem viel zu großen Kopf.
Er trug eine Hornbrille, die so schmutzig war, dass sie mehr einer Schweißerbrille
glich, man fragte sich, ob er überhaupt durch die Gläser schauen konnte.
Oder sah er nur alles schwarz dadurch? Ich sah, wie er durch das Haus rannte,
verfolgt von einer ruckeligen Handkamera. Er rannte auf mein Kinderzimmer zu.
Sein Bierbauch schwabbelte dabei hin und her, die Tür trat er mit roher Gewalt
auf. Das Schloss brach auseinander - früher hatte ich mich immer zum Schlafen
eingeschlossen, daran erinnerte ich mich in diesem Moment - Ich schlief in einem
kleinen Dachzimmer ohne Fenster und die Tür war die einzige Öffnung,
durch die Monster und Ungeheuer in mein Zimmer kommen konnten. Die Tapete war
alt und schimmlig - unzählige Smilies waren darauf abgebildet, halb vergilbt.
Mein Vater riss mit seinen schmierigen ungewaschenen Fingern blitzartig, wie ein
Wolf, meine rosa Frottee-Schlafanzughose herunter und peitschte wie besessen im
Alkoholrausch mit seinem speckigen Ledergürtel auf meinen zarten Mädchenhintern
ein. Als ich anfing zu schreien, schlug er mir ins Gesicht, wobei zwei Milchzähne
herausbrachen. Die Kamera fing den Moment perfekt ein. Man konnte auf der
Leinwand erkennen, wie die Zähne in Zeitlupe blutspritzend durch das Zimmer
flogen. Storm fing im selben Moment an zu schreien, in der selben Tonlage wie
das Mädchen auf der Leinwand. Abblende. Filmriss. Storm steckte sich instinktiv
eine Zigarette an, ohne darüber nachzudenken. Jeder Handgriff saß.
Sie griff nach einem silbernen Fläschchen in ihrer Tasche und spülte
den größten Schluck Absynth, den sie jemals zu sich genommen hatte,
ihre Kehle herunter. Es war eine importierte Marke, bei der man die high-machende
Substanz nicht rausgefiltert hatte. Ein altmodisch gekleideter Mann in einem Trenchcoat
und passendem Hut, betrat das Kino, der einem Film-Noir zu entstammen schien.
Er setzte sich haargenau vor Storm. Der Film ging in dem Moment weiter, diesmal
in schwarzweiß. Ich habe als kleines Mädchen gedacht, vor 1950 sei
die ganze Welt farblos gewesen. Sie saß im Klassenraum. Die Uhr tickte
laut, bewegte den Zeiger aber nicht. Die Szene war von oben gefilmt - sie bekam
ihre erste Deutscharbeit wieder. Sie schlug das Heft auf und stellte mit erschrecken
fest, dass sie eine Sechs geschrieben hatte. Da waren Schläge Zuhause vorprogrammiert.
"Thema verfehlt. Falsche Weltsicht - im Inhalt. Im Ausdruck und in der Rechtschreibung
gut." Die Farben wechselten. Nun war alles in grün gehalten. Der Ton
war viel zu laut und verzerrt. Storm mit elf Jahren, wie sie ihrem ersten Freunden
einen runterholte, einem sechzehn Jahre alten Hauptschüler - Kettenraucher,
der die gleiche Marke rauchte wie ihr Vater und ein ebensolches Faible für
Ledergürtel besaß. In diesem Moment fing der Mann vor Storm schallend
an zu lachen. Einfach aufstehen und rausgehen - über dieses Stadium war
ich jedoch weit hinaus. Ich war an den Sitz gefesselt, konnte nicht aufstehen,
starrte gebannt auf die Leinwand. Der Mann vor ihr stank penetrant nach Bier,
Schweiß und sogar ein wenig nach Urin, oder bildete sie sich das nur ein?
Er knabberte laut Chips und schien sich offensichtlich gut zu amüsieren.
Die ächste Szene war in Blautönen gefilmt. In Zeitlupe. Sie zeigte die
Vorkommnisse, die vor einem Jahr passiert waren. Storm rannte durch den Stadtpark.
Sie trug enganliegende Lackkleidung, sehr gewagt, bei ihrer kurvenreichen Figur
unglaublich aufregend. Sie befand sich auf dem Rückweg von der Disco. Ein
Mann rannte hinter ihr her. Der Mann, der sie den ganzen Discoabend angestarrt
hatte. Um die Vierzig, tätowiert und muskulös. Er holte sie immer weiter
ein, denn Storms Schuhe eigneten sich nicht zum Rennen und abstoßen konnte
sie sie auch so schnell nicht. Die Vergewaltigungsszenen wurden in jeder Einzelheit
und in verschiedenen Kameraperspektiven gezeigt. Voyeuristische Einstellungen
wie man sie sonst nur aus japanischen Zeichentrickfilmen kannte. Alles war untermalt
mit lauter Industrial-Musik. Als die Szene endlich vorbei war und Storm laut aufatmete,
wiederholte sich die Szene, diesmal mit der selben Musik, nur doppelt so laut.
So laut, dass es in den Ohren schmerzte. Die Szene lief nun in doppelter Geschwindigkeit
ab. Ich hörte ein Geräusch, dass sich wie das Öffnen eines Reißverschlusses
anhörte. Schweißperlen blitzten am Nacken des Mannes vor mir auf. Nun
wollte Storm wirklich aufstehen und das Kino verlassen. Doch etwas hielt sie.
Sie konnte nicht aufstehen. Ihre Augen waren gebannt auf die Leinwand gerichtet,
als befände sie sich in der Apparatur aus dem Film Uhrwerk Orange. Das Bild
wurde dunkel. Fade out. Die laute Musik ebbte ab, wurde ersetzt durch ihr absolutes
Lieblingslied. Das himmlische "Fear" von Sarah McLachlan. Das Bild war
verfremdet, in verblassten Farbtönen. Alles wirkte ein wenig verzerrt und
unscharf, wie durch Milchglas. Die Kamera fuhr einen Strand entlang - ubschrauberperspektive.
Ein Pärchen wurde herangezoomt, das nahe der Brandung verschlungen lag. Schlangennest.
Es waren Storm und Aaron, die in dieser Nacht zum ersten Mal miteinander schliefen.
Für beide war es das Erstemal. Aber dann fing die Musik an zu leiern. Das
Bild verzerrte sich weiter - die Farben vertauschten sich, alles war auf einmal
negativ. Fließender Szenenwechsel. Man sah, wie Aaron mit Storm Schluss
machte. Darauf ein schneller Schnitt. Aaron schlief mit einer Rothaarigen. Dann
ein Schnitt. Aaron schlief mit einer Schwarzhaarigen. Dann ein Schnitt. Aaron
schlief mit einer Blondine. Dann ein Schnitt. Aaron schlief mit einem Mann. Dann
ein Schnitt...Die Schnitte wurden immer schneller. Schnitt! Schnitt! Schnitt!
Bis man irgendwann keine Einzelheiten mehr erkennen konnte und auch die Musik
war immer schneller und lauter geworden. Ein furchteinflößendes Crescendo.
Noch immer ihr Lieblingslied, schneller und schneller. Bei dieser Szene begann
ich zu weinen. Immer heftiger. Geräuschlos. Bis mein ganzes Gesicht
nass war und glänzte. Tränen sind die schönste Augenfarbe. Der
Mann vor mir war verschwunden. Es war unmöglich zu beschreiben, was Storm
in diesem Moment fühlte. Sie war am Ende. Sie saß in ihrem eigenen
Alptraum fest. Gefangen in einer namenlosen, alptraumhaften Traumlandschaft,
die aus meinem eigenen Verstand erwachsen ist. Doch es war alles zu realistisch
- konnte kein Traum sein. Es folgte schließlich der Epilog des Films, dieses
Wort wurde von der Hand eines alten Mannes mit einem altertümlichen Schreibgerät,
das zu beschreiben müßig wäre, auf die Leinwand geschrieben, in
verschnörkelten Lettern. Unter das Wort Epilog schrieb er: "Die Nacht
beginnt hier." Ich konnte aufstehen - könnte das Kino verlassen.
Ich überlegte. Zitterte am ganzen Leib. Nasser Angstschweiß am
ganzen Körper. Salz auf der Zunge. Rote Augen. Zittrige Hände, die nervös
nach dem Feuerzeug kramten, ungelenk. Etwas hielt mich hier - ich war noch
nicht bereit zu gehen. Womöglich würde sich später alles als Alptraum
entpuppen, als Horrortrip oder schlechter Scherz. Aber ich war hier und musste
wissen, wie es weiterging. Unter normalen Umständen hätten ihr die
nächsten Szenen womöglich gefallen, alles sah so aus wie in einem billig
gemachten Horrorfilm. Sie spielte zum Glück nicht mit. Man sah die Stadt
von oben. Die Kamera schwebte über der Stadt. Man sah schwarze Wolken, die
sich über der Skyline zusammenzogen. In einem Wirbel - direkt über der
Stadt. Zwischen den Wolken sah man Blitze zucken, die Wolkenkratzer kitzelten
- Bakterien auf den Blitzableitern abtöteten. Man sah einen Mann auf dem
höchsten Gebäude der Stadt, dem Nord-LB-Gebäude, stehen. Er schien
geisteskrank, was man in einer Nahaufnahme deutlich an seinem Gesichtsausdruck
und seinen Augen erkennen konnte. Sein Gesicht im Close-Up. Riesige schwarze Augen.
Was er brüllte, konnte man aufgrund des Sturmgetöses nicht verstehen.
Dann traf ihn ein dunkelgrüner Blitz. Die Spannung floss durch seinen Körper,
ließ ihn hin und her zucken, wie im Wahn, wie in Ekstase. Seine Augenfarbe
verwandelte sich, dunkelgrün. Schließlich zog er seinen Mantel und
seine Mütze an, die verstreut neben ihm gelegen hatten und eine Befürchtung
wurde für Storm schreckliche Gewissheit. Ich erinnerte mich daran, den
Schweiß, den Geruch...Übelkeit überkam mich. Ich sprang vom Sessel
auf und rannte auf den Ausgang zu. Ich konnte den Film nicht weiter ertragen.
Ein Gedanke formierte sich in ihrem Verstand, womöglich war dieser Alptraum,
dieser Wahnsinn, nur auf dieses Kino begrenzt. Wenn sie wieder auf der Straße
war, würde alles verpuffen, sich normalisieren. Sie wäre von anderen
Menschen umgeben. Alles würde verblassen, wie ein Traum, wenn man durch den
Wecker geweckt wurde. Nur ein leichtes Grauen würde zurückbleiben, rudimentäre
Puzzlesteine des unterbrochenen Alptraumes. Wie vom Leibhaftigen persönlich
gehetzt, rannte Storm aus dem Kinosaal. Sie sah nicht mehr, wie der Film weiterlief.
Die nächsten Minuten des Filmes zeigten das Innere des Kinos, die Kamera
zoomte auf den Mann zu, der vor Storm gesessen hatte - fuhr in seine dunkelgrünen
Augen. Man sah seinen widerlichen, dreckigen Körper auf der Leinwand. Jeder
Pore der rissigen Haut. Dann fuhr die Kamera durch eine dieser Poren in sein Inneres.
Dunkelgrüne Blutkörperchen, dazu schreckliche, verzerrte Musik. Disharmonisch.
Hin und wieder rückwärts abgespielt. Ich stürzte an dem alten
Mann vorbei, draußen im Foyer. Zertrat mit meinem Stiefel eine noch glühende
Zigarette auf dem Parkettboden. Ich riss beinah den Samtvorhang herunter, als
ich aus dem Kino herausstürmte. Storm sah nicht mehr, wie die Kamera
auf die Stiefel des Mannes im Kino zoomte. Blutige Stiefel. "Du bist knöcheltief
im Blut gewatet." Ich rannte durch die Stadt. Wäre ein paarmal beinah
gestolpert, rannte eine alte Frau um, die schreiend in den Straßengraben
kippte. Storm sah nicht mehr, wie der Mann auf der Leinwand eine Tür
aufbrach - mit einem Dietrich und sich in eine Wohnung begab, die Storm sofort
erkannt hätte, hätte sie noch im Kino gesessen.
Ich betrete meine Wohnung. Es ist sehr leise, alles wie in Watte eingepackt.
Der Sturm hat sich endlich beruhigt. Allein. In Sicherheit. Die Welt habe ich
hinter der Tür zurückgelassen. Ein Gedanke: Wie gut täte jetzt
ein Vollbad, Rotwein und Kerzenschein...Ein seltsamer Geruch in der Luft. Ich
zucke zusammen - schaue gebannt auf meine Hände, die ganz leicht, grün
zu schimmern scheinen. Ich greife nach dem Lichtschalter. Ein Knall. Funkenregen.
Mich treffen Scherben, schneiden in die zarte Haut meines Gesichts. Ganz langsam
- ganz langsam schaue ich an die Decke. Im Zwielicht schimmert alles grünlich.
Ich fühle mich an die Reflexionen eines Swimmingpools erinnert. Die Decke
scheint sich zu bewegen - im Fluss zu sein. Mich trifft ein klebriger Tropfen
an der Stirn - wische ihn mit der Hand ab, betrachte ihn gebannt, wie er über
meine Handfläche fließt, als hätte er ein Eigenleben. Er dehnt
sich aus und zieht sich wieder zusammen - gleitet meine Lebenslinie entlang, ein
wenig wie eine winzige grüne Nacktschnecke. Ich bin zu gebannt, die Angst
weicht Neugier. Ich höre die Alarmglocken in meinem Unterbewusstsein nicht.
Ich schüttel meine Hand und schaffe es schließlich, den Schleim von
mir zu entfernen. Ich hänge den Mantel an die Wand und stelle meine Schuhe
ordentlich an ihren Stammplatz. Ich gehe in die Küche und hole eine Taschenlampe,
strahle die Decke an - erschrecke mich zu Tode, als mir die lebendige Masse auffällt,
die hin und her fließt, Tentakeln bildet und an den Wänden herabläuft.
Ich renne zur Tür und bemerke, dass alles eingeschleimt ist. Trotzdem greife
ich nach der Klinke - ein Gefühl, als würde man in Wackelpeterpudding
greifen, nur sinnlicher, elektrisierender. Meine Nackenhaare stellen sich auf,
ich zucke unfreiwillig und breche dann gelähmt in mich zusammen, der Länge
nach auf den Fußboden. Ich kann mich nicht rühren. Ich schreie...Ein
riesiger Klumpen tropft in meinen Mund, füllt ihn aus, läuft meine Kehle
herab, ohne dass ich geschluckt habe - erstickt alle meine Schreie. Ich sehe noch
alles unverzerrt. Tentakeln wachsen aus der Decke, tropfen auf mich herab, verwandeln
sich im Flug in grün schimmernde Rasierklingen, durchstoßen den Stoff,
schneiden in mein Fleisch ...Grün mischt sich mit Rot. Tod ...
"Ich kenne Dich!" "Jeder kennt mich ... mein Gesicht ..."
Ich liege in einer (meiner?) Badewanne, gefesselt - unversehrt. Noch? Der Mann
beugt sich über mich. Ich schaue ihm in die großen schwarzen Augen.
Kontaktlinsen? Er hält eine Spritze in der Hand, spritzt ein wenig der grünen
Flüssigkeit darin in mein Gesicht - kichert wie ein kleiner Junge. Ich sehe
einen Speichelfaden, sein glattrasiertes Kinn herablaufen. "Weißt du,
warum das Kino besser ist als die Realität?" Ich funkle ihn trotzig
an, wäre meine Kehle nicht so trocken, ich hätte IHN angespuckt. "Weil
es in jedem Kino einen Ausgang gibt! Aber nun genug gespielt. Dieser Trip endet
tödlich...Grüß Gott von mir ... Ich werde jetzt gehen, sonst verpasse
ich die Spätvorstellung, Storm." The needle tears a hole - the old familiar
sting ... Der beste Schuss seit langem ... Kirchenglocken ... eins ... zwei ...
drei ... vier ... Ich fließe dahin. Ich treibe. Versinke im moosgrünen
Ozean ... Das letzte was ich spüre, sind SEINE Lippen auf meinen. Dann hat
das Leid ein Ende.
© 2002 Christopher Müller
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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