CINEMA STRANGE
Christopher Müller



To cigarettes (My lost love)
The night is the hardest time to be alive, she had told him. And four a.m. knows all my secrets.
Poppy Z. Brite

Als Teenager neigte ich zu Depressionen. Für mich war die Welt nur etwas, vor dem man fliehen muss.
Ich begann zunächst mit Alkohol zu fliehen und dann, als die Sechziger voranschritten, mit jeder Art von Droge, die ich bekommen konnte.
Thomas Ligotti (aus einem Interview mit E.M. Angerhuber)

Storm verließ ihre kleine Studentenwohnung, gelangweilt. Es war ein eiskalter Tag im Januar, Sturmwarnung. Ich wollte mich in die Disco begeben. Fühlte mich schrecklich sexy heute. Trug schwarze Stiefel, zerrissene Netzstrümpfe, einen extrem kurzen, schwarzen Lederrock und ein dunkelblaues Samtoberteil, darüber einen dünnen schwarzen Ledermantel. Meine langen schwarzen Haare wehten im Wind...Die anderen Menschen verfolgten Storm mit ihren Blicken. Männer, die plötzlich auf dem Bürgersteig stehenblieben und sie mit gierigen Blicken belästigten. Ich weiss, dass ich gut aussehe, ich muss mir nichts beweisen. Storm stolzierte geradezu durch den mittelalterlichen Stadtkern Braunschweigs. Sie folgte den altertümlichen Gaslaternen - unter ihren Stiefeln bebte das Kopfsteinpflaster. Ihr Ziel war eine Disco namens Tempel X. Lust zum Tanzen hatte sie eigentlich nicht. Noch viel weniger, diese ganzen schwarzen Spinner zu treffen. Nur die Langeweile trieb sie durch die Straßen. Wie üblich, würde sie wohl bereits nach wenigen Minuten die Disco wieder verlassen und frustriert nach Hause gehen. Ich musste bei diesem Sturmwetter einfach das Haus verlassen, im Schein des Vollmonds an die frische Luft. Storm ärgerte sich schon länger darüber, dass all die kleinen Kinos in der Stadt zugemacht hatten, seit das Cinemaxx aufgemacht hatte. Sie war einer dieser Filmfreaks, die schon als Kind einen eigenen Videorecorder besessen hatten. Sie kannte tausend und dreizehn Filmzitate auswendig und quälte ihr Umfeld damit. Mann wusste nie genau, ob sie gerade zitierte oder eigene Worte sprach. Zu jeder Situation fielen ihr die passenden Zitate ein. Am meisten liebte sie David Lynchs Filme. Aber auch alte schwarzweiße Horror-Streifen: Das Kabinett des Dr. Caligari, die Nacht der lebenden Toten und ganz besonders Freaks. Storm studierte Literaturwissenschaft und Anglistik im sechsten Semester. Sie schlief selten um vier Uhr morgens. Seit Mulholland Drive hatte sie keinen guten Kinofilm mehr gesehen. Sie kam schließlich durch eine dunkle, mittelalterliche, ja man könnte sagen kafkaeske Gasse, in der es keine Geschäfte gab. Die Gasse war nicht erleuchtet und auf beiden Seiten erhoben sich dunkle Fachwerkhäuser, die unrenoviert waren, wie man sie noch vielerorts im Osten Deutschlands vorfinden konnte. Die Häuser neigten sich weit nach vorne, schienen zusammenzuwachsen. Daher konnte man den vollen Mond nicht mehr sehen, der heute durch die zerrissenen Sturmwolken leicht grün schimmerte. Sie war diese Gasse schon unzählige Male entlang gegangen. Doch nun fiel ihr etwas auf, rechts neben ihr befand sich ein Eingang, der einem Portal ähnelte, aus dunkelgrün gestrichenem Holz. Eine Tür war nicht zu sehen, nur ein schwerer Vorhang aus dunkelrotem Samt, der die Sicht auf das Innere des Hauses versperrte. Aber im Zwielicht der dunklen Gasse, sah man einen deutlichen Lichtschimmer unter dem Vorhang funkeln. Über dem Portal befand sich eine altmodische Leuchtschrift, die flackerte und laut knisterte. Motten tanzten um die Schriftzeichen. "Cinema Strange" stand dort in grünen Buchstaben geschrieben. Meine Neugier war sofort geweckt. Handelte es sich hierbei um eine alte Spelunke? Ein Restaurant, einen Puff oder ein Kino? Wenn es ein Kino war, also kein Porno-Kino, musste es sehr interessant sein. Ich fuhr mir durch meine schwarzen Haare und spürte wie ein aufregendes Kribbeln durch meinen Leib fuhr. Aus einem Metall-Etui zauberte ich eine Zigarette hervor und flambierte sie, schützend vor dem Sturm hinter meiner Handfläche. Ich sammelte Mut, durch das Portal schreiten zu können...Es stand felsenfest, dass ich nicht mehr in die verdammte Disco gehen würde. Ich rauchte die ganze Zigarette auf - blaue Gauloises. Während der gesamten Zeit passierte kein anderer Mensch, die ansonsten sehr belebte Gasse, die soetwas wie eine Abkürzung war. Von drinnen drang leise Musik nach draußen - eine Mischung aus altem Blues und Zirkusmusik. Meine Vermutung erwies sich als richtig.

Es war nur ein kleiner Schritt durch das Portal, durch den verrauchten, nach Patchuli stinkenden schweren Samtvorhang. Aber es kam mir so vor, als hätte ich mit diesem Schritt achtzig Jahre hinter mir gelassen. Storm war hoffnungslos überfordert, in der kurzen Zeit alle Sinneseindrücke zu verarbeiten. Uralte Plakate, die an den Wänden hingen, Schnitzereien, ein gestreifter Parkettfußboden...Das Foyer erinnerte Storm an die Bühne in der Traumsequenz des Films Eraserhead. Ihr fiel ein kleiner Kassenschalter auf, hinter dem ein glatzköpfiger alter Mann saß. Sollte ich ihn wecken? Er schlummerte so friedlich...Seinen Kopf hatte er auf eine vergilbte Zeitung gebettet. Ich erhaschte einen kurzen Blick, erkannte oben rechts in der Ecke ein Hakenkreuz. Storm ließ ihre Blicke über die unzähligen Plakate, die überall an den Wänden hingen, schweifen und ging mit ihrem Verstand auf Wanderschaft. Das Foyer als überladen zu bezeichnen, wäre maßlos untertrieben. Sie kannte keinen der Filme. Die meisten Filme waren nach der Hauptperson benannt (alle?) und mit reißerischen Untertiteln versehen, die sie sofort wieder vergaß, nachdem sie sie gelesen hatte. Sie ging in Gedanken vertieft ein kleines Stück nach vorn und wurde von einem lauten Geräusch aufgeschreckt, eine Holzdiele war unter ihrem schwarzen langen Stiefel, der immer perfekt gepflegt war, zerbrochen. Der alte Kassierer erwachte zu neuem Leben. Er setzte ein Monokel auf, das ihm an einer langen Kette um den Hals hing, und schaute Storm an. Mit seinem durch das Monokel unwirklich vergrößerten linken Auge, fokussierte er sie, sodass Strom seinen Blick auf der Haut spüren konnte, vergleichbar mit einem Sonnenstrahl aus kaltem Licht. Ich fragte ihn, welcher Film heute gezeigt würde - doch er schien nicht zu verstehen. Mit schlesischem Dialekt sprach er: "Lassen Sie sich überraschen. Der Eintritt ist frei." Diese Worte brachen das Eis. Die Neugierde besiegte die Skepsis in Storm. Sie ging mit selbstsicheren, weit ausholenden Schritten den Flur entlang in das einzige Kino, das sich hinter einem weiteren, roten Vorhang verbarg. Storm betrat einen langgezogenen Raum mit etwa vierzig Sitzplätzen. Es schien gerade soetwas wie die Wochenschau zu laufen. Sie sah das Innere eines deutschen U-Boots - Offiziere, die in der klaustrophobischen Enge Karten spielten und in die Kamera lächelten - sie grinsten nicht, wie Storm erstaunt feststellte. Seltsamerweise hörte sie keinen Ton, außer der selben sonderbaren Musik, die bis nach draußen gedrungen war. Warum hatte man sie im Foyer nicht vernehmen können? So dick waren die Vorhänge nicht. Die Musik war so leise, dass man sie nur mühsam verstehen konnte. Man konnte nicht ausmachen, von wo die Musik herkam, sie schien einfach im Raum zu schweben - wie der blaue Zigarettendunst, der bewegungslos über den dunkelgrünen Sitzen hing. Ich hätte sie eher als giftgrün bezeichnet. Sie waren allesamt dreckig und abgenutzt, bis auf einen in der letzte Reihe, fast in der Mitte, auf den Storm sich setzte. Ich war allein...Als hätte der Filmvorführer auf Storm gewartet, begann in diesem Moment der Hauptfilm. Nun war es stockfinster im Raum. Ein weißer Punkte zuckte über die Leinwand. Flimmern. Unschärfe. Flackern. Ein Haar befand sich zwischen dem Zelluloid und dem Projektor - zuckte wie ein Fisch auf dem trockenen auf der Leinwand hin und her. Der Punkt wuchs und färbte sich rot - zerplatzte super-nova-haft - hinterließ rote Spritzer auf der Leinwand. Die Spritzer flossen zusammen und bildeten Buchstaben. Erst ein S, dann ein T...

S-T-O-R-M...Es traf mich wie der Schlag. Erlaubte sich jemand einen bösen Scherz mit mir? Ich hatte niemandem hier meinen Namen genannt. War es ein Zufall? Außerdem hätte ich eher mit einem Schwarzweißfilm in diesem uralten Kino gerechnet, was mich zusätzlich wunderte. Doch uralt konnte es auch nicht sein, schließlich war ich unzählige Male durch die Gasse gekommen und es war mir nie aufgefallen. Dann folgte der Untertitel des Films: "Untergang des Leidens." Ich musste an die Worte einer Freundin von mir denken, die vor Jahren die Stadt verlassen hatte und zu der ich keinen Kontakt mehr hatte: "Es geschehen sonderbare Dinge ..." Storm bekam es mit der Angst. Eine schreckliche Vorahnung wuchs in ihr, ein Gefühl von Bedrohung und namenlosen Grauen, wie es ihr Lieblingsautor Lovecraft wohl formuliert hätte. Sie widerstand dem Drang, das Kino zu verlassen. Um ihre wachsende Nervosität zu bekämpfen, steckte sie sich eine Zigarette an und starrte dann gebannt auf die Leinwand. Ihrem Freund gegenüber hatte sie es einmal so ausgedrückt, das Rauchen half ihr, weniger nervös zu sein. Worauf er gefragt hatte, seit wann sie nervös war. Seit ich angefangen habe zu rauchen...In der Ecke war ein Nichtraucherschild, trotzdem roch hier drinnen alles nach Nikotin. Storm klammerte sich so fest an den Glimmstengel, als würde ihr Leben davon abhängen, dabei sollten sie einen doch angeblich umbringen. Wenn sie das tun, geht es viel zu langsam...Die Leinwand wurde schwarz und blieb es auch für eine Weile. Leise Schreie kamen aus den Boxen, verzerrt und unmenschlich, trotzdem erinnerten sie einen an Babygeschrei. Dann sah man ein Embryo, das von der Kamera herangezoomt wurde. Es befand sich im Mutterlaib, versuchte zu sprechen, zu schreien, war aber unfähig dazu. Jedesmal wenn es denn Mund öffnete, strömte Flüssigkeit hinein und erstickte alle Laute. Schnitt. Eine ältere Frau hielt ein Baby in der Hand und verzog das Gesicht, hielt das kleine schreiende Etwas möglichst weit von sich weg, wie einen alten stinkenden Fisch. In Erinnerung an meine Kinderfotos stellte ich mit Erschrecken fest, dass es sich um meine eigene Mutter handelte ... Und das Baby, das musste ich sein. Meine Mutter kannte ich nur von alten Schwarzweißfotos - sie hatte sich das Leben genommen, als ich noch sehr klein gewesen war. Ein Fön in der Badewanne, wie klassisch. Die Kamera zoomte auf das Gesicht meiner Mutter zu. Ich sah ihre Abscheu, ihren Hass. In den Augen sah ich keinen Stolz, keine Mutterliebe. Nur Hass. Schnitt. Ich sah nun meinen Vater auf der Leinwand. Überlebensgroß. Er war ein übergewichtiger Mann, mit drei Haaren auf dem viel zu großen Kopf. Er trug eine Hornbrille, die so schmutzig war, dass sie mehr einer Schweißerbrille glich, man fragte sich, ob er überhaupt durch die Gläser schauen konnte. Oder sah er nur alles schwarz dadurch? Ich sah, wie er durch das Haus rannte, verfolgt von einer ruckeligen Handkamera. Er rannte auf mein Kinderzimmer zu. Sein Bierbauch schwabbelte dabei hin und her, die Tür trat er mit roher Gewalt auf. Das Schloss brach auseinander - früher hatte ich mich immer zum Schlafen eingeschlossen, daran erinnerte ich mich in diesem Moment - Ich schlief in einem kleinen Dachzimmer ohne Fenster und die Tür war die einzige Öffnung, durch die Monster und Ungeheuer in mein Zimmer kommen konnten. Die Tapete war alt und schimmlig - unzählige Smilies waren darauf abgebildet, halb vergilbt. Mein Vater riss mit seinen schmierigen ungewaschenen Fingern blitzartig, wie ein Wolf, meine rosa Frottee-Schlafanzughose herunter und peitschte wie besessen im Alkoholrausch mit seinem speckigen Ledergürtel auf meinen zarten Mädchenhintern ein. Als ich anfing zu schreien, schlug er mir ins Gesicht, wobei zwei Milchzähne herausbrachen. Die Kamera fing den Moment perfekt ein. Man konnte auf der Leinwand erkennen, wie die Zähne in Zeitlupe blutspritzend durch das Zimmer flogen. Storm fing im selben Moment an zu schreien, in der selben Tonlage wie das Mädchen auf der Leinwand. Abblende. Filmriss. Storm steckte sich instinktiv eine Zigarette an, ohne darüber nachzudenken. Jeder Handgriff saß. Sie griff nach einem silbernen Fläschchen in ihrer Tasche und spülte den größten Schluck Absynth, den sie jemals zu sich genommen hatte, ihre Kehle herunter. Es war eine importierte Marke, bei der man die high-machende Substanz nicht rausgefiltert hatte. Ein altmodisch gekleideter Mann in einem Trenchcoat und passendem Hut, betrat das Kino, der einem Film-Noir zu entstammen schien. Er setzte sich haargenau vor Storm. Der Film ging in dem Moment weiter, diesmal in schwarzweiß. Ich habe als kleines Mädchen gedacht, vor 1950 sei die ganze Welt farblos gewesen. Sie saß im Klassenraum. Die Uhr tickte laut, bewegte den Zeiger aber nicht. Die Szene war von oben gefilmt - sie bekam ihre erste Deutscharbeit wieder. Sie schlug das Heft auf und stellte mit erschrecken fest, dass sie eine Sechs geschrieben hatte. Da waren Schläge Zuhause vorprogrammiert. "Thema verfehlt. Falsche Weltsicht - im Inhalt. Im Ausdruck und in der Rechtschreibung gut." Die Farben wechselten. Nun war alles in grün gehalten. Der Ton war viel zu laut und verzerrt. Storm mit elf Jahren, wie sie ihrem ersten Freunden einen runterholte, einem sechzehn Jahre alten Hauptschüler - Kettenraucher, der die gleiche Marke rauchte wie ihr Vater und ein ebensolches Faible für Ledergürtel besaß. In diesem Moment fing der Mann vor Storm schallend an zu lachen. Einfach aufstehen und rausgehen - über dieses Stadium war ich jedoch weit hinaus. Ich war an den Sitz gefesselt, konnte nicht aufstehen, starrte gebannt auf die Leinwand. Der Mann vor ihr stank penetrant nach Bier, Schweiß und sogar ein wenig nach Urin, oder bildete sie sich das nur ein? Er knabberte laut Chips und schien sich offensichtlich gut zu amüsieren. Die ächste Szene war in Blautönen gefilmt. In Zeitlupe. Sie zeigte die Vorkommnisse, die vor einem Jahr passiert waren. Storm rannte durch den Stadtpark. Sie trug enganliegende Lackkleidung, sehr gewagt, bei ihrer kurvenreichen Figur unglaublich aufregend. Sie befand sich auf dem Rückweg von der Disco. Ein Mann rannte hinter ihr her. Der Mann, der sie den ganzen Discoabend angestarrt hatte. Um die Vierzig, tätowiert und muskulös. Er holte sie immer weiter ein, denn Storms Schuhe eigneten sich nicht zum Rennen und abstoßen konnte sie sie auch so schnell nicht. Die Vergewaltigungsszenen wurden in jeder Einzelheit und in verschiedenen Kameraperspektiven gezeigt. Voyeuristische Einstellungen wie man sie sonst nur aus japanischen Zeichentrickfilmen kannte. Alles war untermalt mit lauter Industrial-Musik. Als die Szene endlich vorbei war und Storm laut aufatmete, wiederholte sich die Szene, diesmal mit der selben Musik, nur doppelt so laut. So laut, dass es in den Ohren schmerzte. Die Szene lief nun in doppelter Geschwindigkeit ab. Ich hörte ein Geräusch, dass sich wie das Öffnen eines Reißverschlusses anhörte. Schweißperlen blitzten am Nacken des Mannes vor mir auf. Nun wollte Storm wirklich aufstehen und das Kino verlassen. Doch etwas hielt sie. Sie konnte nicht aufstehen. Ihre Augen waren gebannt auf die Leinwand gerichtet, als befände sie sich in der Apparatur aus dem Film Uhrwerk Orange. Das Bild wurde dunkel. Fade out. Die laute Musik ebbte ab, wurde ersetzt durch ihr absolutes Lieblingslied. Das himmlische "Fear" von Sarah McLachlan. Das Bild war verfremdet, in verblassten Farbtönen. Alles wirkte ein wenig verzerrt und unscharf, wie durch Milchglas. Die Kamera fuhr einen Strand entlang - ubschrauberperspektive. Ein Pärchen wurde herangezoomt, das nahe der Brandung verschlungen lag. Schlangennest. Es waren Storm und Aaron, die in dieser Nacht zum ersten Mal miteinander schliefen. Für beide war es das Erstemal. Aber dann fing die Musik an zu leiern. Das Bild verzerrte sich weiter - die Farben vertauschten sich, alles war auf einmal negativ. Fließender Szenenwechsel. Man sah, wie Aaron mit Storm Schluss machte. Darauf ein schneller Schnitt. Aaron schlief mit einer Rothaarigen. Dann ein Schnitt. Aaron schlief mit einer Schwarzhaarigen. Dann ein Schnitt. Aaron schlief mit einer Blondine. Dann ein Schnitt. Aaron schlief mit einem Mann. Dann ein Schnitt...Die Schnitte wurden immer schneller. Schnitt! Schnitt! Schnitt! Bis man irgendwann keine Einzelheiten mehr erkennen konnte und auch die Musik war immer schneller und lauter geworden. Ein furchteinflößendes Crescendo. Noch immer ihr Lieblingslied, schneller und schneller. Bei dieser Szene begann ich zu weinen. Immer heftiger. Geräuschlos. Bis mein ganzes Gesicht nass war und glänzte. Tränen sind die schönste Augenfarbe. Der Mann vor mir war verschwunden. Es war unmöglich zu beschreiben, was Storm in diesem Moment fühlte. Sie war am Ende. Sie saß in ihrem eigenen Alptraum fest. Gefangen in einer namenlosen, alptraumhaften Traumlandschaft, die aus meinem eigenen Verstand erwachsen ist. Doch es war alles zu realistisch - konnte kein Traum sein. Es folgte schließlich der Epilog des Films, dieses Wort wurde von der Hand eines alten Mannes mit einem altertümlichen Schreibgerät, das zu beschreiben müßig wäre, auf die Leinwand geschrieben, in verschnörkelten Lettern. Unter das Wort Epilog schrieb er: "Die Nacht beginnt hier." Ich konnte aufstehen - könnte das Kino verlassen. Ich überlegte. Zitterte am ganzen Leib. Nasser Angstschweiß am ganzen Körper. Salz auf der Zunge. Rote Augen. Zittrige Hände, die nervös nach dem Feuerzeug kramten, ungelenk. Etwas hielt mich hier - ich war noch nicht bereit zu gehen. Womöglich würde sich später alles als Alptraum entpuppen, als Horrortrip oder schlechter Scherz. Aber ich war hier und musste wissen, wie es weiterging. Unter normalen Umständen hätten ihr die nächsten Szenen womöglich gefallen, alles sah so aus wie in einem billig gemachten Horrorfilm. Sie spielte zum Glück nicht mit. Man sah die Stadt von oben. Die Kamera schwebte über der Stadt. Man sah schwarze Wolken, die sich über der Skyline zusammenzogen. In einem Wirbel - direkt über der Stadt. Zwischen den Wolken sah man Blitze zucken, die Wolkenkratzer kitzelten - Bakterien auf den Blitzableitern abtöteten. Man sah einen Mann auf dem höchsten Gebäude der Stadt, dem Nord-LB-Gebäude, stehen. Er schien geisteskrank, was man in einer Nahaufnahme deutlich an seinem Gesichtsausdruck und seinen Augen erkennen konnte. Sein Gesicht im Close-Up. Riesige schwarze Augen. Was er brüllte, konnte man aufgrund des Sturmgetöses nicht verstehen. Dann traf ihn ein dunkelgrüner Blitz. Die Spannung floss durch seinen Körper, ließ ihn hin und her zucken, wie im Wahn, wie in Ekstase. Seine Augenfarbe verwandelte sich, dunkelgrün. Schließlich zog er seinen Mantel und seine Mütze an, die verstreut neben ihm gelegen hatten und eine Befürchtung wurde für Storm schreckliche Gewissheit. Ich erinnerte mich daran, den Schweiß, den Geruch...Übelkeit überkam mich. Ich sprang vom Sessel auf und rannte auf den Ausgang zu. Ich konnte den Film nicht weiter ertragen. Ein Gedanke formierte sich in ihrem Verstand, womöglich war dieser Alptraum, dieser Wahnsinn, nur auf dieses Kino begrenzt. Wenn sie wieder auf der Straße war, würde alles verpuffen, sich normalisieren. Sie wäre von anderen Menschen umgeben. Alles würde verblassen, wie ein Traum, wenn man durch den Wecker geweckt wurde. Nur ein leichtes Grauen würde zurückbleiben, rudimentäre Puzzlesteine des unterbrochenen Alptraumes. Wie vom Leibhaftigen persönlich gehetzt, rannte Storm aus dem Kinosaal. Sie sah nicht mehr, wie der Film weiterlief. Die nächsten Minuten des Filmes zeigten das Innere des Kinos, die Kamera zoomte auf den Mann zu, der vor Storm gesessen hatte - fuhr in seine dunkelgrünen Augen. Man sah seinen widerlichen, dreckigen Körper auf der Leinwand. Jeder Pore der rissigen Haut. Dann fuhr die Kamera durch eine dieser Poren in sein Inneres. Dunkelgrüne Blutkörperchen, dazu schreckliche, verzerrte Musik. Disharmonisch. Hin und wieder rückwärts abgespielt. Ich stürzte an dem alten Mann vorbei, draußen im Foyer. Zertrat mit meinem Stiefel eine noch glühende Zigarette auf dem Parkettboden. Ich riss beinah den Samtvorhang herunter, als ich aus dem Kino herausstürmte. Storm sah nicht mehr, wie die Kamera auf die Stiefel des Mannes im Kino zoomte. Blutige Stiefel. "Du bist knöcheltief im Blut gewatet." Ich rannte durch die Stadt. Wäre ein paarmal beinah gestolpert, rannte eine alte Frau um, die schreiend in den Straßengraben kippte. Storm sah nicht mehr, wie der Mann auf der Leinwand eine Tür aufbrach - mit einem Dietrich und sich in eine Wohnung begab, die Storm sofort erkannt hätte, hätte sie noch im Kino gesessen.

Ich betrete meine Wohnung. Es ist sehr leise, alles wie in Watte eingepackt. Der Sturm hat sich endlich beruhigt. Allein. In Sicherheit. Die Welt habe ich hinter der Tür zurückgelassen. Ein Gedanke: Wie gut täte jetzt ein Vollbad, Rotwein und Kerzenschein...Ein seltsamer Geruch in der Luft. Ich zucke zusammen - schaue gebannt auf meine Hände, die ganz leicht, grün zu schimmern scheinen. Ich greife nach dem Lichtschalter. Ein Knall. Funkenregen. Mich treffen Scherben, schneiden in die zarte Haut meines Gesichts. Ganz langsam - ganz langsam schaue ich an die Decke. Im Zwielicht schimmert alles grünlich. Ich fühle mich an die Reflexionen eines Swimmingpools erinnert. Die Decke scheint sich zu bewegen - im Fluss zu sein. Mich trifft ein klebriger Tropfen an der Stirn - wische ihn mit der Hand ab, betrachte ihn gebannt, wie er über meine Handfläche fließt, als hätte er ein Eigenleben. Er dehnt sich aus und zieht sich wieder zusammen - gleitet meine Lebenslinie entlang, ein wenig wie eine winzige grüne Nacktschnecke. Ich bin zu gebannt, die Angst weicht Neugier. Ich höre die Alarmglocken in meinem Unterbewusstsein nicht. Ich schüttel meine Hand und schaffe es schließlich, den Schleim von mir zu entfernen. Ich hänge den Mantel an die Wand und stelle meine Schuhe ordentlich an ihren Stammplatz. Ich gehe in die Küche und hole eine Taschenlampe, strahle die Decke an - erschrecke mich zu Tode, als mir die lebendige Masse auffällt, die hin und her fließt, Tentakeln bildet und an den Wänden herabläuft. Ich renne zur Tür und bemerke, dass alles eingeschleimt ist. Trotzdem greife ich nach der Klinke - ein Gefühl, als würde man in Wackelpeterpudding greifen, nur sinnlicher, elektrisierender. Meine Nackenhaare stellen sich auf, ich zucke unfreiwillig und breche dann gelähmt in mich zusammen, der Länge nach auf den Fußboden. Ich kann mich nicht rühren. Ich schreie...Ein riesiger Klumpen tropft in meinen Mund, füllt ihn aus, läuft meine Kehle herab, ohne dass ich geschluckt habe - erstickt alle meine Schreie. Ich sehe noch alles unverzerrt. Tentakeln wachsen aus der Decke, tropfen auf mich herab, verwandeln sich im Flug in grün schimmernde Rasierklingen, durchstoßen den Stoff, schneiden in mein Fleisch ...Grün mischt sich mit Rot. Tod ...

"Ich kenne Dich!" "Jeder kennt mich ... mein Gesicht ..." Ich liege in einer (meiner?) Badewanne, gefesselt - unversehrt. Noch? Der Mann beugt sich über mich. Ich schaue ihm in die großen schwarzen Augen. Kontaktlinsen? Er hält eine Spritze in der Hand, spritzt ein wenig der grünen Flüssigkeit darin in mein Gesicht - kichert wie ein kleiner Junge. Ich sehe einen Speichelfaden, sein glattrasiertes Kinn herablaufen. "Weißt du, warum das Kino besser ist als die Realität?" Ich funkle ihn trotzig an, wäre meine Kehle nicht so trocken, ich hätte IHN angespuckt. "Weil es in jedem Kino einen Ausgang gibt! Aber nun genug gespielt. Dieser Trip endet tödlich...Grüß Gott von mir ... Ich werde jetzt gehen, sonst verpasse ich die Spätvorstellung, Storm." The needle tears a hole - the old familiar sting ... Der beste Schuss seit langem ... Kirchenglocken ... eins ... zwei ... drei ... vier ... Ich fließe dahin. Ich treibe. Versinke im moosgrünen Ozean ... Das letzte was ich spüre, sind SEINE Lippen auf meinen. Dann hat das Leid ein Ende.


© 2002 Christopher Müller
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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