DER BLAUE STERN
E. M. Angerhuber


Ich steige aus dem Zug, der mich in die alte Stadt am Rand des Meeres gebracht hat, und gehe langsam durch ihre wohlbekannten Straßen. Es ist der dreißigste April. Dieser Tag wird in ein paar Stunden vorüber sein, ein neuer Tag und ein neuer Monat beginnen. Ein neues Leben. An diesem Tag vor zehn Jahren endete mein altes Leben, und ein neues begann für mich. Rückblickend erscheint mir die Vergangenheit wie ein gleichförmiger Fluß aus grauen Schattierungen, einlullend und von einer Melancholie, die nostalgische Gefühle weckt. Ich sehne mich nach dieser Vergangenheit wie nach einem aufgegessenen Kuchen oder einer längst getrunkenen Flasche Wein, die vielleicht das Geschenk eines toten Freundes waren. Ebenso unwiederbringlich ist die Vergangenheit und ist doch Teil von mir, von jedem meiner Mitmenschen, die mich in den Straßen der Stadt am Rande des Meeres umgeben.

Das Wetter ist heute abend wechselhaft, und sie hasten mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und in den Taschen vergrabenen Händen an mir vorüber. Teergraue Anzüge, wassergraue Kleider, himmelgraue Mäntel, gekrönt von asphaltgrauen Hüten. Selbst die Frauen haben ihre Regenmützen und Kopftücher tief in die Stirn gezogen und verbergen ihre Gesichter vor den Blicken der Vorübergehenden.

Ich lasse mir Zeit, ich schlendere dahin, betrachte die Passanten und die Auslagen der Geschäfte, die Hände in den Hosentaschen, und fühle die Nachwirkungen meiner Wiederkehr wie einen schwachen elektrischen Strom durch meine Adern fließen. Vor vielen Jahren war hier meine Heimat. Ich bin in dieser Stadt geboren worden. Ich kenne ihre Häuser, ihre Neonzeichen, ihren Himmel, bei Tag und Nacht: den zuckerblauen, von rasenden Wolkenfetzen übersäten Taghimmel, den rötlich-violett drohenden Nachthimmel mit seiner wie angebissen aussehenden Mondsichel. Gegen den Nachthimmel heben sich die vielfarbigen Neonreklamen ab wie ein künstlicher Regenbogen voll leerer Versprechungen. Diese Lichter locken, blinzeln verführerisch, trügen mit ihren aufgesetzten Reklame-Kunstworten, die soviel eingängiger und wahrer klingen als unsere wirkliche schmucklose Sprache. Jetzt wird es langsam Nacht, die Dunkelheit fällt wie ein schmutziges Laken und bedeckt mit ihrem Geruch nach Rauch und Autoabgasen das Kopfsteinpflaster der Hintergassen. Dieses Viertel besteht aus einer Vielzahl enger, gewundener Gassen, die künstlichen Schluchten in dem grau aufragenden Gebirge der Jahrhundertwendehäuser gleichen. Hier klingen die Schritte hohl auf dem unebenen Pflaster und lassen die Wartenden hinter den vorgezogenen Gardinen in stummer Hoffnung erschauern. Aber ich gehe vorüber, an allen diesen Häusern, ich gehe immer nur vorüber. Nirgends bleibe ich stehen, keine Tür öffnet sich mir, nirgendwo verlange ich Einlaß. Meine Fingerspitzen streifen im Vorbeigehen den bröckelnden Verputz der Häuser und das staubbedeckte Blech der Fensterbretter. Dies ist meine Stadt, oder besser: sie war es einmal. Ich bin ihr fremd geworden im Verlauf der Jahre, und dennoch war ich ihr nie wirklich fern. Diese engen Straßen und unschönen Gebäude erfüllten meine nächtlichen Träume bis zum Augenblick des Erwachens. Ich kenne jeden Straßennamen, jede Ecke für geheime Versammlungen, jeden Schlupfwinkel in dem verwirrenden Labyrinth lichtloser Durchgänge, wo der Inhalt der Mülltonnen sich heimlichem Wachstum hingibt.

Die Nacht senkt sich herab wie ein schmutziges Laken, pudert mit ihrem Kohlenstaub die Gesichter der Passanten zu Grau, das sie wie Schaufensterpuppengesichter aussehen läßt. Niemand hebt den Blick, wenn ich vorübergehe, aber ich lächle, obwohl es niemand sieht. Dieses Lächeln gilt den aufflackernden Neonschriften, die sich jetzt eine nach der anderen über den Dächern erheben wie bunte Vögel. Banana Split Bar, lese ich belustigt, Calypso Casino.

Ich kenne diese Bars und Kneipen, diese Spielhallen und Hotels, wo fade Vergnügungen in riesigen Clubsesseln sitzen und warten, daß ein Unbekannter hereinkommt. Nordstern Versicherungen, lese ich und denke an das plumpe steingetäfelte Verwaltungsgebäude mit den mächtigen Flügeltüren und den Reihen lichtloser Fenster. Eine stilisierte rosa Palme zittert fern über einer weiten Wasserfläche, scheint mit ihren Armen gleichenden Wedeln zu winken. Ich stehe am Hafen, habe unbewußt meine Schritte hierher gelenkt. Die schwarzen Wellen einer lichtlosen Flut schwappen mit dem Geruch nach Fisch und Öl an das betonierte Ufer. Und die flackernden Schriftzüge von Schmerztablettenreklame und Lichtspielhäusern vereinigen sich in der Tiefe zu einem sprühenden Teppich von Lichtpunkten wie ein gesunkener Schatz funkelnder Juwelen. Dort unten, am Fuß der Treppe, verborgen in einem alten Abwasserkanal, liegt das Boot bereit und wartet auf mich wie jedes Jahr.

Ich betrete seinen unsicheren Boden, löse die Kette von dem in die Mauer eingelassenen Haltering, setze mich und greife nach den Rudern. Es ist nur ein schmales und kleines Boot, das unbemerkt durch die engen Kanäle gleiten kann, wenn man es mit vorsichtigen und leisen Ruderschlägen vorwärts treibt. Ich rudere langsam, mit gleichförmigen Bewegungen, in sanftem Vergessen. Meine Augen, die ich, den Kopf in den Nacken geworfen, zum Himmel richte, nehmen wie gläserne Murmeln die Spiegelungen der Lichter und Neonreklamen auf. Weit in der Ferne, hinter einem Wall schwerer und ungefüger Bauten, blinkt verlockend und süß das Zeichen, das ich von allen am meisten liebe. Es entzieht sich in Abständen meinem Blick hinter Schornsteinen und Antennen, spielt ein aufreizendes Versteckspiel mit mir. Der blaue Stern. Ich habe nie herausgefunden, wofür dieses Zeichen steht, das ohne Worte - nur ein leeres, hübsches Symbol - vor dem geballten Wolkengebirge der Nacht flimmert. Es ist ein stilisierter Stern, fünf dicke, lange Zacken, dazwischen dünnere und kürzere, wie ein Seestern fast, ein Haarstern oder vielleicht eine Seeanemone. Seine Farbe ist kristallklar wie einst, vor all den Jahren.

Ich ziehe ruhig die Riemen durch das nächtliche Wasser und lasse es zu, daß die Ströme von Vergangenheit und Gegenwart sich mit dem Gefühl der sinnenbetäubenden Wiederholung aller Zyklen in meinem Innern kreuzen. Ich schließe die Augen halb, ich lausche auf die Stimmen der Vergangenheit, wie sie in jener Nacht auf diesem Wasser lachten und scherzten, ein tändelndes Spiel leichtfertiger Jugend. Ich erinnere mich an ihren Namen. Ja, ich erinnere mich an ihren Namen …

Heute ist der dreißigste April. Noch eine Stunde oder vielleicht zwei: dann wird dieser Tag enden, dann wird ein neuer Tag, ein neuer Monat beginnen, vielleicht sogar ein gänzlich neues Leben. Ich flüstere Sinnlosigkeiten wie ein sanftmütiger Narr in die Böen des Nachtwinds und lenke mein Boot an jenem steinernen Ufer entlang, dorthin, wo der blaue Stern zwinkert und lockt. Auch damals haben wir ihn so gesehen, kobaltblau vor dem schwärzlichen Himmel: Wir fanden seinen Anblick so schön, daß wir beschlossen, auf ihn zuzufahren, gleichgültig, wohin er uns führen würde. Aus irgend einem Grund waren wir davon überzeugt, daß sich eine wunderbare neue Bar, ein faszinierender Nachtclub hinter diesem hübschen Sternchen verbergen mußte. Es konnte unmöglich eine Reklame für Kopfschmerztabletten oder Babynahrung sein. Wir saßen damals in einem Ruderboot, ganz ähnlich dem, in welchem ich jetzt dahingleite. Wir waren zu viert. Das Lachen der Mädchen perlte wie Champagner in dem stickigen Kelch der um uns aufragenden Häuser.

Es war aufregend und nicht ganz einfach, dem blauen Stern zu folgen, der sich wie ein kokettes junges Ding hinter Häusern und Schornsteinen verbarg, nur um im nächsten Moment an unerwarteter Stelle wieder grell hervorzuspringen. Der blaue Stern narrte uns, spielte mit uns wie ein Kätzchen mit einer Handvoll Flaumfedern. Wir ließen uns treiben und fanden das Ufer, an dem die blaue Wunderblume blühte. Es war ein breites, mit Steinfliesen belegtes Ufer vor einem ehemals prachtvollen Gebäude, das vielleicht in früheren Zeiten einen großen Verlag, eine staatliche Einrichtung oder ein Museum beherbergt haben mochte. Aber schon zu jener Zeit stand das Gebäude leer. Die unteren Fenster und Türen waren zugenagelt, der steinerne Koloß ragte dunkel über uns in den Himmel. Die gepflasterte Uferpromenade war erleuchtet, wenngleich hier und dort eine der schmiedeeisernen Laternen erloschen war, ohne daß jemand die Notwendigkeit verspürte, sie zu ersetzen. Offenbar betrat kaum jemals ein Mensch die Promenade. Als wir an Land gingen, standen wir einige Augenblicke staunend da. Der blaue Stern hatte sich unseren Blicken halb entzogen, er blinkte hoch über dem Dach der eindrucksvollen Ruine. Bis heute ist mir die Bedeutung dieses Sterns nicht klar geworden. Handelt es sich um eine einfache Neonreklame oder um ein heimliches Signal, eine chiffrierte Botschaft für den winzigen Teil der Bevölkerung, der sie zu lesen versteht?

Ich lege meine Ruder aus den Händen und steige an das Ufer, stehe still und schaue herab auf die ehemals glatten Fliesen, zwischen denen jetzt Moos in dicken Streifen wuchert. Dann richte ich mich auf und spähe angestrengt hoch, suche mit den Augen den blauen Stern, der mir nur ein paar seiner flirrenden Zacken zeigen will. So bist du zurückgekehrt, scheint er zu sagen. Ich verstehe seine Sprache mit einemmal. Ich werde nie begreifen, wozu er geschaffen wurde und warum er dort leuchtet; aber er weiß ganz genau über mich Bescheid. Er kennt mein Herz. Schlimmer noch: er kennt die Vergangenheit. Erinnere dich, sagt er mit einem sardonischen Lächeln, der hübsche blaue Stern. (Ich bin sicher, er würde sardonisch lächeln, wenn dies im Bereich des Möglichen läge.) Und: ja, ich erinnere mich. Ich finde auf Anhieb die Ritze zwischen den Brettern, die den Seiteneingang der Ruine verschließen. Ich stecke meinen Finger in das Astloch und ziehe das Brett beiseite, und dann schlüpfe ich hinein. Genau wie wir es damals getan haben, wir vier. Das Lachen der Mädchen perlte wie Prosecco in dem schalen Kelch der Ruine, die uns umschloß.

Mein Feuerzeug muß genügen, um mir Licht zu spenden, damit ich jenen vergessenen Ort wiederfinde, an den ich mich immer nur am dreißigsten April jedes Jahres erinnern kann. Es treibt mich, in diese Stadt zu fahren, und ich gebe dem Drang nach, ungeduldig, beinahe mißmutig, und halte für Nostalgie oder Heimweh, was mich hierher treibt. Aber wenn der blaue Stern endlich zu mir spricht, entsinne ich mich wieder der wahren Gründe … Ich taste mich durch staubbedeckte, unratübersäte Flure und hallende Treppenhäuser. Die winzige Flamme meines Feuerzeugs genügt nicht, um die ungeheure Höhe der Decken dieser römischen Ruine zu beleuchten. Ein Haus wie für einen König, und doch ist es verlassen und liegt schon seit so vielen Jahren unbenutzt, vergessen, vielleicht verschmäht im stillsten Winkel dieser alten Stadt. Es gibt eine Hintertreppe, die ich suche, eine enge, gewundene Holzstiege, die in einen Turm oder Erker führt, wo wir vier uns damals unbeobachtet und sicher glaubten. Wir stiegen hinauf, hinter vorgehaltenen Händen kichernd, während der billige Wein aus den angebrochenen Flaschen über unsere Kleider schwappte. Wir waren jung. Wir brauchten keine Bar, keinen Nachtclub, um uns zu amüsieren. Wir waren dort angekommen, wohin uns der blaue Stern geführt hatte.

Vom Dachbodenfenster der Turmstube hofften wir ihn aus der Nähe sehen zu können. Wir konnten ihn sehen. Ich erinnere mich, wie wir uns auf Zehenspitzen an der winzigen Dachbodenluke drängten, um einen Blick auf den blauen Stern zu erhaschen. Und das flammende Zeichen stand vor uns über dem Dach, auf einem Gerippe rostiger Stahlträger balancierend wie eine Spinne, hoch aufgereckt zum bösartigen Glühen des nachtvioletten Himmels und der hinter Wolken verborgenen Mondsichel, die in jeder jener Nächte Spuren wie von Zähnen trug. Wir spürten den Stolz des blauen Sterns und seinen unbeugsamen Willen, sich nicht in den Ruin seines Hauses hinabziehen zu lassen, und uns beschlich eine Ahnung, welch verborgene und unwirkliche Ströme - ganz anders als gewöhnliche Elektrizität - dieses geheime Zeichen mit so intensiver Leuchtkraft speisten.

Hier bin ich, blauer Stern, ich gehe hinüber zu der Dachluke, ich sehe hinaus, ich grüße dich, ich entrichte dir meinen Tribut. Laß mich doch endlich vergessen. Warum läßt du mich nicht vergessen, woran ich mich nicht erinnern mag? Warum muß ich diesen Schmerz alle Jahre wieder an diesem verfluchten Tag fühlen?

Dort in der Ecke zwischen uralten Möbeln und noch älteren Zeitungen sehe ich ihren vertrauten Umriß, ihre wohlbekannte Form. Sie hat sich in all den Jahren, die ich hierher zurückkommen muß, nicht verändert. Der blaue Stern leuchtet mir den Weg. Sein Schimmer ist hier so hell, daß ich mein Feuerzeug nicht brauche. Ich taste mich vorsichtig hinüber und knie neben ihr nieder. Ihr Gesicht ist klein und runzelig wie ein vertrockneter Apfel, das Gesicht einer uralten ägyptischen Mumie. Sonderbar; sie liegt erst seit zehn Jahren hier. Aber ich weiß, daß es nicht das Klima war, das sie an diesem Ort zu mumienhafter Haltbarkeit dehydrierte, sondern etwas vollkommen anderes. Ich setze mich neben sie, ich streichle ihre dürre Affenpfote, deren Haut so pergamentdünn knistert, daß ich fürchte, sie könnte unter meinen vorsichtigen Fingerspitzen zerreißen. Ihre Augen haben sich geöffnet, glänzen durchscheinend wie Kindermurmeln. Ich habe Angst vor diesem Blick. In seiner stummen Anklage liegt das Wissen um alles, was ich damals getan - oder besser: was ich zu tun versäumt habe.

"Ich erinnere mich an jenen Abend", sage ich besänftigend zu ihr und kann nicht verhindern, obwohl es mir unsagbar peinlich ist, daß eine winzige Träne auf ihre vertrocknete Mumienhand fällt. An jenem Abend tranken wir zu viert billigen Rotwein aus Zweiliterflaschen. Die Mädchen trugen jene weiten, gebauschten Röcke, die so eine schmale Taille und hübsche Waden machen. Morris und ich wetteiferten mit den Weinflaschen. Wir waren bald ziemlich betrunken; wir tanzten und sangen, bis uns schwindelig wurde. Dann küßte ich Leila hinter einem Haufen altehrwürdigen Gerümpels. Dort fühlte ich zum ersten Mal die feuchte Innenseite ihrer Lippen und vergaß, daß Morris und Tina auch noch da waren. Tina lachte und sagte, daß sie uns zwei Turteltauben jetzt lieber allein ließe; wir würden uns schon nicht langweilen. Leila und ich lachten über ihren anzüglichen Ton. Als wir die Schritte der beiden über die schmale Treppe abwärts poltern hörten, umarmten wir uns erneut, und ich legte Leila auf einen Stapel alter Zeitungen. Denselben Stapel, der jetzt ihre mumifizierte, leblose Form stützt. Aber sie ist nicht tot; sie kann nicht tot sein, sie beobachtet mich mit ihren anklagenden Augen, die in der schwarzen Ruine eines Gesichts wie bleiche Kindermurmeln glänzen. Sie spiegeln den Schimmer des blauen Sterns, ihre ehemals so hübschen blauen Augen. Sie hatte Augen von derselben Farbe wie der zuckerige Sommerhimmel; von derselben Farbe wie der blaue Stern. Diesen Stern zu sehen, heißt: in Leilas Augen zu sehen. Leilas tote Augen brennen in meinem Innern wie das Zugeständnis einer unfaßbaren Schuld. Ich habe sie damals einfach im Stich gelassen.

Uns war nicht aufgefallen, daß das Licht des blauen Sterns schwächer geworden war, denn wir küßten uns auf einem Stapel alter Zeitungen. Ich hielt Leila im Arm, und der billige Rotweingeschmack auf ihren Lippen vermischte sich mit dem süßen, authentischen Aroma ihrer Jugend. Wir sahen nicht, was sich draußen vor dem Dachfenster abspielte. Daß der blaue Stern dunkler geworden war, daß er allmählich die Farbe wechselte, von leuchtendem Kobaltblau hin zu jenem bösartigen Rotviolett, in dem die Kelche gewisser tropischer Orchideen glühen. Wir bemerkten nicht die dünnen, schwarzen Fäden, die sich vom Dachfenster aus auf uns zu wanden und ringelten, bis sie Leilas Fuß erreichten. Auch jetzt noch umschließen diese schwarzen Kabel, sproßähnliche Ausläufer des Gerüstes, auf dem der blaue Stern thront, ihre Füße und Beine bis zu den Hüften. Ich wagte es nicht, sie abzureißen, denn sie bohrten sich innerhalb von Sekunden in Leilas Fleisch, verwuchsen mit ihren Blutgefäßen. Sie schrie und kreischte vor Entsetzen, bäumte sich auf, wehrte sich strampelnd. Aber nur für kurze Zeit. Dann erschlaffte ihr Körper, sank zurück in das Bett aus Zeitungen, und die grauenvolle Verwandlung setzte ein. Der blaue Stern entzog ihr die Energie, die er braucht, um in all den Nächten so hell zu leuchten, und ließ sie als eingeschrumpfte Mumie zurück. Ich lag in der am weitesten entfernten Ecke der Dachkammer und zitterte mit in den Mund gestopften Fäusten, bis der Morgen anbrach.

Es wäre sicher ohnehin nicht möglich, die schwarzen Kabel aus ihrem Fleisch zu lösen. Aber davon abgesehen habe ich nie gewagt, Hand daran zu legen. Ich habe Angst vor ihr, vor dem blauen Stern, vor dem fremden und gräßlichen Ding, das er aus ihr gemacht hat. Ich bin schuldig an Leilas Tod. Ich habe sie schmählich im Stich gelassen. Sie ist tot und doch nicht tot; ihre leuchtenden Augäpfel mustern mich mit einem spöttischen und anklagenden Ausdruck, als wolle sie sagen: "Na, du trauriger Held? Erinnerst du dich noch an mich? Denkst du daran, wie du deine Hand unter meinen Rock geschoben hast, wie du jene heimlichen Stellen berührtest, die jetzt dem blauen Stern gehören?"

Ich kann nicht verhindern, daß eine winzige Träne auf die Pergamenthaut ihrer Wange fällt. Ich beuge mich über sie und flüstere in ihr Ohr: "Auf bald. Ich komme wieder. Am dreißigsten April, in einem Jahr. Ich werde dich nicht vergessen." Dann verlasse ich das stille Haus mit seinem Geheimnis, die alte Stadt mit ihren brackigen Kanälen, ich fahre mit dem Morgenzug gen Süden, kehre heim in mein neues Leben, in meine wirkliche Existenz. Aber mit den Blicken suche ich sehnsüchtig und von einer namenlosen Wehmut erfüllt am Horizont nach dem Blau jenes Sterns und dem Blau ihrer Augen.

© E. M. Angerhuber
"Der Blaue Stern" erschien zuerst im Mai 2000 in Soledad # 2
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