DIE EWIG FALLENDE KLINGE
John B. Ford


- Thomas Ligotti gewidmet -

Es gibt kein Entkommen vor einem Geist, der tief in deinen eigenen schneiden kann. Von der Zeit an, als ich ein kleines Kind war, wurde ich von solch einem Geist heimgesucht; es ist dies ein ewiger Fluch, und ich bemerkte sehr schnell, daß er meine Seele immer weiter quälen würde, wenn mein armseliger Leib schon längst erkaltet war. Denn ich werde für immer das Zischen jener grausamen Klinge hören, die durch die Luft schneidet ... Mrs. Widderson war die Art Frau, die durch die Alpträume von Kindern aufblühte. Doch hatte sich ihr unheilvoller Einfluß durch das unsichtbare Netz der Verderbtheit, das sie jede Nacht verbreitete, auch auf die Geister von Erwachsenen ausgedehnt. Es gab nie eine Erklärung dafür, warum man ein Kind zu ihrem Haus brachte; nie eine Erklärung, warum die Mutter des Kindes es immer für genau eine Stunde in ihrer Obhut ließ. Vielleicht breitete sich ein schwarzes Miasma von ihrem schlafenden Geist aus und befleckte die Träume der Mütter mit den Farbtönen rosenduftender Alpträume, die sie Schwarz für Weiß nehmen ließ. Oder sind auch diese Gedanken nur das Produkt meines eigenen abnormalen Verstandes? Ich hatte keine Ahnung, wohin meine Mutter mich an jenem bewölkten Tag brachte, nur daß wir uns jetzt der verrufenen Südseite der Stadt näherten. Furcht ergriff mich, als wir die Zivilisation hinter uns ließen und in diesen Bezirk tauchten, den ich bislang nur in den unglücklichsten meiner Alpträume besucht hatte. Sogar die Konstruktion der Gebäude, die ich betrachtete, schien sinister an diesem übel beleumundeten Ort; aber jetzt ruft meine lang zurückliegende Erinnerung an diese Häuser mit kapuzenartigen Dachvorsprüngen und Miniaturtürmen nurmehr den erstaunlichsten Vergleich mit den dunkelsten Schöpfungen von Lovecraft und Ligotti in mir wach. Meine Mutter lächelte, als sie meine Hand so fest umklammerte; sie lächelte, als wandelte sie in einer Trance höchsten Entzückens. Vielleicht lief sie durch den Sonnenschein eines schönen Sommertages, dessen einziges Geräusch aus dem Gesang der Vögel und dem reizenden Gluckern klarer Bäche bestand? Welcher Ton auch immer ihre hübschen Ohren erfüllte, es waren sicher nicht meine entsetzten Protestschreie. Das schwarze Miasma hatte ihr Gehirn durchdrungen.

***

Die Trance meiner Mutter lenkte uns zu einem Haus mit geschlossenen Fensterläden, das auf seltsame Art einer Kirche ähnelte. Mit dem Verstand eines Siebenjährigen taufte ich es sofort das Schwarze Haus, da dies nicht allein mit der Farbe des zerbröckelnden Mauerwerks korrespondierte, sondern auch mit dem allgegenwärtigen unheilverkündenden Gefühl, das es für meinen empfänglichen Geist ausstrahlte. Ich hob den Blick für ein paar Sekunden und studierte rasch seinen dämonischen Turm, der sich wie zum Spott über die Miniaturtürme der anderen Häuser gerade emporreckte, um sich in das Grau des Himmels zu bohren. Als ich den Blick wieder senkte, sah ich die kalte Gestalt Mrs. Widdersons wartend vor uns in der sargförmigen Eingangstür stehen. Meine Mutter führte mich den Gartenweg entlang auf sie zu und sprach dann vollkommen automatisch diese Worte: "Ich habe Johnnie hergebracht, damit er für Sie spielt."
Die kalte Hand von Mrs. Widderson schoß pfeilschnell nach vorn und packte mein Handgelenk, dann zog sie mich in das düstere Haus, ohne ein Wort des Grußes an mich oder meine Mutter zu richten. Bevor die sargförmige Tür wieder geschlossen wurde, erhaschte ich einen kurzen Blick auf meine Mutter draußen. Sie ging schon wieder den Gartenweg hinunter und schien höchst zufrieden mit sich selbst. Mrs. Widderson führte mich einen schmalen Korridor entlang, der nur von dem schwachen Glühen einer Wandleuchte hier und da erhellt wurde. Von Zeit zu Zeit füllte sich mein Kopf mit bösen, alten Stimmen, die alle gleichzeitig redeten -- dieselben Worte im selben Tonfall. "Siehst du, wie wir den Nebel für all die Schlafenden ausatmen, mein Liebling?"
Ich äußerte die Antwort nur stumm in meinem Kopf. "Ich will es nicht sehen, Mrs. Widderson -- bitte lassen Sie Ihre Zwillingsschwestern sterben."

***

Der Raum, den wir betraten, war rund, aber ziemlich klein. Rings-herum stand eine Reihe Kindern ähnelnder Schaufensterpuppen, und alle hielten sich an den Händen wie in einem jugendlichen Spiel. Der Kopf jeder Puppe bestand ganz aus Kristall und wurde von innen durch eine einzige schwarze Kerze erleuchtet. Rauchwolken stiegen von den Kerzen durch eine sargförmigen Öffnung am Scheitel jedes zerbrechlichen Kopfes. Meine Augen blickten gebannt auf eine Auswahl von Spielsachen, die auf dem Fußboden in der Mitte des Raums verstreut lagen, und dorthin setzte Mrs. Widderson mich, nur um sich danach zu einem hölzernen Schaukelstuhl zu begeben, dessen Vorderseite auf die Spielsachen gerichtet war. Ich nahm jetzt meinen Mut zusammen, um sie zum erstenmal gründlich zu betrachten, und fühlte mich sogleich verwirrt von ihrem weißen Kleid mit hellroten Rosen darauf, denn es schien so gar nicht zu ihrem grausamen Charakter zu passen. Mit ihren dunklen Augen schien Mrs. Widderson tief in meine Seele zu blicken, und dann sagte sie mit ihrer hohen, aber äußerst respekteinflößenden Stimme zu mir: "Ich werde dir beim Spielen zusehen!"
Als würden meine Hände von einem eigenen Willen gelenkt, begannen sie mit Puppen, Spielzeugautos, Aufziehlokomotiven, Wasserfarben und Wachsmalkreiden zu spielen. Die Zeit wurde zu einem Jubelschrei endlosen Vergnügens für mich; ich fühlte nun, daß ich eine Million unterschiedlicher Szenen ausagierte, die von anderen Leben herstammten, die zu weniger als einem Viertel gelebt worden waren -- so als ob ich einige auserwählte Lebenszeiten durch die Bewegungen meiner eigenen kindlichen Hände aussortierte. Und doch war ich mir während dieser gesamten Zeitspanne äußerst bewußt, daß Mrs. Widderson jedes winzige Detail meines Spiels beobachtete. Sie war voll hämischer, stiller Freude, und das Schaukeln ihres Stuhles wirkte wie eine fortgesetztes Nicken von Wohlgefallen und Ermutigung.
"Du machst das sehr gut, mein Liebling!" sagten diese bösen, alten Stimmen in meinem Kopf.

***

Das Schaukeln ihres Stuhles wurde langsamer, und bald erhob sich Mrs. Widderson und ging zu einer Ecke hinüber, die von der Dunkelheit verhüllt wurde. Sie bückte sich, hob ein unsichtbares Objekt auf, kam dann zu mir herüber und setzte es vor mir auf den Boden. Meine Augen richteten sich nun auf dasn äußerst kunstvolle Modell einer Guillotine, komplett bis hin zu einer gefährlich scharfen Klinge. Mrs. Widderson sammelte die Puppen auf, mit denen ich zuvor gespielt hatte, und stellte sie aufrecht in einem kleinen Kreis vor mich hin.
"Jetzt schlag ihnen die Köpfe ab!" sagte sie in derselben hohen und doch respekteinflößenden Stimme. Auf der Stelle verschwand die Unschuld meines kindlichen Alters, und ich packte die mir am nächsten stehende Puppe, um ihren Kopf fest in den rotbefleckten Haltering der Guillotine zu spannen. Dann begann ich mit der rechten Hand eine kleine hölzerne Kurbel zu drehen und sah mit wachsender Faszination und Erregung die Klinge höhersteigen. Während ich die Kurbel weiter drehte, sah ich, wie die Klinge durch eine Auslassung im oberen Ende des hölzernen Rahmens hinausglitt, bis sie fast zur vollen Länge hervorragte. Nun bemerkte ich, daß ihre Oberseite auf eine Art schräg abgeschliffen war, die es gestattete, die Handfläche sicher daraufzulegen und so all den nötigen Druck für eine dramatische Exekution auszuüben. Mein Kopf füllte sich plötzlich mit Grausamkeit und Finsternis, und mit der rechten Hand drückte ich in brutaler Weise die Klinge nieder. Ein zufriedenstellender, dumpfer Laut ertönte, als der hölzerne Hals der Puppe gerade durchgeschnitten wurde, aber in der gleichen Sekunde drang ein schriller Schrei an meine Ohren, dem unverzüglich das Geräusch berstenden Glases folgte, und meine Augen sahen, wie das Licht schwächer wurde. Als ich die Schaufensterpuppen ansah, die im Kreis rings um den Raum aufgestellt waren, erkannte ich, daß der kristallene Kopf einer Puppe auf den Boden gefallen und zerbrochen war. Die schwarze Kerze, die vorher darin gebrannt hatte, war nun erloschen. Zuerst fand ich, daß diese zweite Enthauptung sehr schockierend war, aber dann verschwand all meine Besorgtheit mit einemmal -- denn es war ja nur ein Spiel.
"Du machst das sehr gut, mein Liebling!" sagten diese bösen, alten Stimmen in meinem Kopf. Rasch wählte ich eine zweite Puppe für meine faszinierende Enthauptungsparty, spannte ihren Kopf in den rotbefleckten Haltering und durchlief das äußerste Vergnügen des Hochkurbelns der Klinge bis zu ihrer tödlichen Stellung. Wiederum drückte ich die Klinge mit grausamem Entzücken hinunter, und dieses Mal waren der finale Aufprall, kombiniert mit dem gräßlichen Schrei und dem Geräusch splitternden Glases ... die süßeste Musik in meinen Ohren.

***

Doch ging mit jeder Enthauptung eine größere Verdunkelung des Raumes einher, so daß bald nur eine einzige Schaufensterpuppe mit kristallenem Kopf und intakter Kerze übrig war. Ich konnte die Guillotine jetzt kaum noch erkennen, aber das weiße Gesicht von Mrs. Widderson starrte sinister aus der Finsternis auf mich. Ich zögerte einen Moment lang, denn ich fürchtete die absolute Dunkelheit, von der ich wußte, daß sie mich nach der letzten Enthauptung umgeben würde. Dennoch schien ein bösartiges Fieber meinen Kopf ergriffen zu haben, so daß ich danach verlangte, den Schrei der letzten Puppe und das Geräusch berstenden Glases zu hören. Aber als die finale Enthauptung schließlich vollzogen wurde und der grauenvolle Schrei in meinen Ohren erstorben war, füllte sich die absolute Dunkelheit um mich her augenblicklich mit Verrat und unsichtbarer Bedrohung.
Bald darauf hörte ich, wie Mrs. Widderson herumlief. Es fiel mir auf, daß sie von dem Mangel an Licht überhaupt nicht beeinträchtigt wurde und sich jetzt irgendeiner sinistren Aktivität hingab. In den darauffolgenden Sekunden wurde ich mir dessen gewahr, daß sie schweigend neben mich getreten war und jetzt dicht bei mir stand, denn über meinen ganzen Körper regierte nunmehr eine entsetzliche Kälte. Unvermittelt packte sie meine Hand und hielt sie mit Gewalt offen, während sie schnell eine unsichtbare Substanz auf meine Handfläche und Finger schmierte. Als sie damit fertig war, führte sie die Prozedur schnell auch an meiner anderen Hand durch. Ich blieb mit ausgestreckten Händen stehen, als sie damit fertig war; aber ich fühlte mich jetzt schockiert und schuldig, als sei ich ihr Komplize in einem abscheulichen Verbrechen geworden. Am Rand des Raumes hörte ich eine Tür knarrend aufgehen und konnte das schwache Licht der Wandleuchten sehen. Diese Möglichkeit zur Flucht reichte aus, um mich aus meiner erstarrten Haltung zu erlösen. Ich ging schnell den düster erleuchteten Korridor hinunter, die ganze Zeit über besessen von der Angst, daß Mrs. Widderson verborgen in der Dunkelheit eines Schattens stehen mochte. Aber zuletzt entkam ich dem Bösen des Schwarzen Hauses und lief durch die sargförmige Tür genau in die Arme meiner Mutter.
"Ich hoffe, du warst ein lieber Junge für Mrs. Widderson, Johnnie? Ich kann an deinen Händen sehen, daß du eifrig gemalt hast -- und es ist ganz offensichtlich, daß Rot immer noch deine Lieblingsfarbe ist!"

***

Es gibt keinen sicheren Ort vor einem Geist, der tief in deinen eigenen schneiden kann. Obwohl ich geglaubt hatte, daß meine Rückkehr nach Hause das Ende der entsetzlichen Folter bedeuten würde, erreichte ich mit jedem Schritt, den ich in Richtung meines eigenen Heims ging, nichts weiter als meine sichere Gefangenschaft in einem Netz nicht enden wollenden Grauens. In jener Nacht, nachdem Mutter mich geküßt und mir "Süße Träume" gewünscht hatte, spürte ich, wie das schwarze Miasma die Dunkelheit meines Schlafzimmers durchdrang. Ich versuchte verzweifelt, den Schlaf zu bekämpfen und seine heimliche Gegenwart aus meinem Gehirn auszuschließen, aber mein Bewußtsein wurde schließlich von einem Willen, der weitaus größer was als der meine, in das dunkle Vergessen getrieben, und ich fand heraus, daß Mrs. Widderson meine Ankunft geduldig im Reich des Alptraums erwartete. Sie blickte in demselben düster beleuchteten Raum des Schwarzen Hauses auf mich herab, die Augen spöttisch und voller Haß. Wir waren alle in einem kleinen Kreis aufgestellt, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen -- und nur ein kleines Stück vor uns war die Guillotine. Ich starrte angstvoll auf das lebensgroße Abbild meines wachen Selbst, das neben der Guillotine kniete, und dann angstvoll zurück auf die entsetzten Gesichter meiner jungen Freunde, die jetzt den über Zügen der Puppen zu liegen schienen. Ich sah meine eigene riesenhafte Hand in der Luft schweben, sah den Ausdruck von Erregung und Grausamkeit auf meinem eigenen lebensgroßen Gesicht. Der erste meiner Freunde wurde aus dem kleinen Kreis entfernt, und alles, was ich tun konnte, war hilflos zuzusehen, als die erste Enthauptung nochmals vollzogen wurde und ich sie von meinem neuen Blickwinkel aus beobachtete. Einer nach dem anderen wurden meine jungen Freunde aus dem Kreis gehoben, und der Raum wurde mit jedem Aufschlag der Klinge und jedem Schrei, den ich hörte, ein bißchen dunkler. Und schließlich kam der Zeitpunkt, als ich allein auf dem Boden stand und meine Seele meinem wachen Selbst zuschrie, mir einen schnellen Tod zu schenken. Aber als ich das Gesicht meines wachen Ich studierte, sah ich dort nur ein Zögern wegen der Furcht vor der Dunkelheit, die es bald umgeben wurde ...
Und doch erlag der Geist meines wachen Ich einem bösartigen Fieber, so daß ich mit einer einzigen eifrigen Bewegung von meiner eigenen Hand aufgeschnappt und mein hölzerner Kopf in den rotbefleckten Haltering der Guillotine gesteckt wurde. Dann hörte ich das Geräusch, als die hölzerne Kurbel gedreht wurde, und wußte, daß die Klinge im Rahmen der Guillotine emporstieg. Plötzlich hörte ich, wie das Geräusch des Kurbelns aussetzte, und aus dem Augenwinkel sah ich mein waches Ich eine Hand ausstrecken, um den Druck anzuwenden, der nötig war, um eine höchst dramatische Exekution durchzuführen. Dann hörte ich die Klinge fallen! Und doch hörte ich im selben Augenblick die Stimme von Mrs. Widderson und die Worte, die mich in alle Ewigkeit verdammen würden: "Wach auf!"

***

Ich erkannte rasch, daß die Bedrohung der ewig fallenden Klinge mir für den Rest meines Lebens erhalten bleiben würde, und ich hatte auch keinen Zweifel daran, daß sie sich bis in den verfluchten Tod hinein ausbreiten würde, der mich jenseits dessen erwartete. Im wachen Leben und allen Stunden des Schlafes wurde ich gemartert von dem unvergleichlichen Grauen, das ich in jenem Augenblick erfuhr, wenn die Klinge sich auf den Verdammten herabsenkt. Ich war ein Mensch, durchtränkt von Angst, kaum in der Lage, mein Leben zu leben, so groß war die Macht jenes Grauens, das in meinen Verstand gedrungen war. Und doch war dies noch nicht genug, um die Eine, die diesen Fluch auf mich gelegt hatte, zu befriedigen -- denn vor kurzem, als ich schon in erwachsenem Alter war, wurde ich erneut getrieben, dem Schwarzen Haus einen Besuch abzustatten. Ich erinnerte mich noch daran, daß die Südseite der Stadt nach dem Verschwinden meiner jungen Freunde verlassen worden war; ich erinnerte mich an die Gerüchte, die Mrs. Widdersons Tod ein paar Jahre später nach sich zog, und ich kannte auch das jüngere zwielichtige Gerede, daß das Haus in vielerlei "merkwürdiger Art" heimgesucht werde. Ich wußte aber auch, daß andere behaupteten, das Haus sei nur von seinem Ruf geschwärzt, und daß seine eigentümlichen Geräusche und Verschleierungen nichts weiter als Zeichen für seinen Verfall seien. Ich wußte all diese Dinge und mußte dennoch an jenen Ort zurückkehren.
Und obwohl ich auf ewig verflucht war mit der höchsten Angst, die nur jene erfahren, die den Augenblick kennen, in dem die Klinge sich auf den Verdammten herabsenkt, zwang ich mich dennoch dazu, mich unter die verrufenen Straßen und sinistren Gebäude der Südseite der Stadt zu wagen. Und bei meiner Rückkehr fand ich heraus, daß die kapuzenartigen Dachvorsprünge und Miniaturtürme der Häuser immer noch allen engen Gassen ihren dunklen Reiz aufzwangen, während der Wind hermetische Geheimnisse der Vergangenheit seufzte, welche die Düsternis all jener uralten und unsichtbaren Bewohner verrieten. Diesmal hatte mein unaufhörlicher Zustand der Ängstlichkeit meine Sinne so sehr geschärft, daß ich dieser Bewohner gewahr wurde. Ich fühlte, daß sie aus dämmrigen, stillen Räumen herausspähten, und ich stellte mir vor, wie ihre zerfallenen Lungen die Luft der Verdammnis einsaugten, während ihre schwarzen Gehirne durch all die endlosen Äonen der Zeit hindurch Komplotte schmiedeten. Doch war meine Furcht vor der ewig fallenden Klinge inzwischen so groß, daß ich feststellte, daß ich keine Angst mehr vor den Dingen empfand, die diese verrufene Gegend mir einzureden versuchte: ich trug bereits den größten aller Schrecken auf meinen Schultern und konnte deshalb ohne bewußte Anstrengung jede andere Art von Furcht an mir abgleiten lassen. Trotzdem schnitt eine Art intensiven Mißfallens oder Unwohlseins in meine Seele, als ich um die Ecke jener besonderen Straße bog und den bedrohlichen Anblick des Schwarzen Hauses vor mir sah. Wollte man die Art dieses Unwohlseins mit einem sauren Geschmack oder einem unheilbringenden Bestandteil in einem verdorbenen Essen gleichsetzen, so wäre der einzig akkurate Vergleich der mit Gift.
Wieder einmal erblickte ich den dämonischen Turm des Schwarzen Hauses und bemerkte sogleich, daß die Seuche der Zeit seine sargförmigen Dachziegel an hochgelegenen Stellen gelockert und zerstört hatte. Aber das Gefühl der Bedrohung, das mich auf dem Fuße hätte umkehren lassen sollen, war jetzt vollkommen verdeckt durch das ewige Grauen vor der fallenden Klinge. Ich ging weiter, überquerte das Kopfsteinpflaster der Straße und ging denselben Gartenweg hinauf, den meine Mutter mich vor all diesen Jahren entlanggeführt hatte. Das Mauerwerk des Hauses hatte ebenfalls stark zu zerfallen begonnen, wie ich sah; und mir kam der bizarre Gedanke, daß die Haufen von Schutt und zerbrochenen Dachziegeln sich zum Zeichen des Willens dieses Hauses gelöst hatten, seinen bösen Einfluß auch auf Bezirke jenseits der Südseite der Stadt auszudehnen. Bald gelangte ich an dieselbe sargförmige Tür, die ich als Kind durchschritten hatte, auch wenn sie jetzt leicht offen stand und mir den Einblick auf die mitternächtliche Schwärze gewährte, die dahinter regierte. Ich riß ein Streichholz an, trat ein paar Schritte ins Innere des Hauses und sah mich bei dem schwachen Lichtschein um, den das Streichholz bot. Ich konnte kein Anzeichen von Bewohntheit entdecken, nicht einmal einen Hinweis darauf, daß das Haus früher einmal bewohnt gewesen war. Als ich einen weiteren Schritt voranging, rollte etwas unter meinem Fuß weg. Beim Schein eines neuen Streichholzes bückte ich mich zum Boden und sah, daß es sich bei dem Etwas um eine zu einem Viertel heruntergebrannte schwarze Kerze handelte. Also zündete ich die Kerze an und durchsuchte mit ihrer Hilfe sorgfältig die Dunkelheit des Schwarzen Hauses, obschon ich kein Anzeichen für den Korridor, den Mrs. Widderson mich damals hinuntergebracht hatte, entdecken konnte. Aber es gab auch keine Möbelstücke in dem dunklen Haus, und während all der Zeit, die ich darin herumlief, gelangte ich an keine innere Wand. Dennoch fühlte ich mit jeder verstreichenden Minute, die ich im Schwarzen Haus blieb, wie ein beträchtlicher Anteil meiner körperlichen Kraft von mir genommen wurde und ein unbekanntes dunkles Gift ihren Platz einnahm.

***

In einem kleinen Bereich im Zentrum des Hauses fand ich die Treppe. Ihre gewundenen Stufen schienen nicht mehr als Blöcke purer Schwärze zu sein, und doch weigerte sich diese, dem Glanz des Kerzenlichts zu weichen. Als ich die Treppe hinaufzusteigen begann, ergriff eine grausame Kombination aus Kälte und Müdigkeit meinen Körper, während jene fernen Stimmen aus meiner Kindheit Einzug in meinen Kopf hielten.
"Du machst das sehr gut, mein Liebling -- sehr gut!" Mir wurde nun bewußt, daß es sich nur um das Innere des Turmes des Schwarzen Hauses handeln konnte, in dem ich höherstieg, und obwohl der Grad der Kälte zunahm, je höher ich gelangte, trieb mich eine unbekannte dunkle Macht doch immer weiter. Bald fühlte ich mich so schwach, daß ich kaum weitersteigen konnte, doch die Dunkelheit um mich herum wurde nun von vielen sargförmigen Flecken vagen Lichts durchbrochen. Nun wußte ich, daß ich mich der Spitze des Turmes näherte -- dem Ort, wo viele der schwarzen Dachpfannen fehlten. Mein Gesicht einer dieser länglichen Öffnungen nähernd, ließ ich meinen Blick über die Südseite der Stadt wandern. Die Abenddämmerung senkte sich gerade über alle Bezirke, und ich wußte, daß es klug gewesen wäre, sich vor der hereinbrechenden Nacht zu fürchten ... wenn ich mich nur hätte fürchten können ... Innerhalb kürzester Zeit gelangte ich nun vor eine Tür von reinster Schwärze, und als ich sie durchschritt, trat ich in einen kreisrunden Raum voll schlummernder Alpträume.

***

In der Mitte des Raumes saß die Leiche von Mrs. Widderson. Der Schaukelstuhl, in dem sie saß, ähnelte der bizarren Variation eines aufrechtstehenden Sarges; auf dem Boden vor ihr befand sich ein kleiner Kreis von Kerzen, jede davon schwarz, unangezündet und zu einem Viertel heruntergebrannt. Rings um den Raum herum lagen, die Gesichter nach oben, kreisförmig angeordnete Körper in schwarzen Leichentüchern, deren Hände sich im Tod für immer umeinander geschlossen hatten. Die Gesichter aller dieser Toten glichen aufs genaueste dem Gesicht von Mrs. Widderson, und während ich sie anstarrte, begannen sich ihre bleichen Lippen in perfekter Eintracht zu bewegen.
"Wir waren schon immer tot, mein Liebling, ebenso wie jene, die sich uns nun angeschlossen haben." In der nächsten Sekunde flammte der Kreis von Kerzen vor der Leiche von Mrs. Widderson auf und warf eine Myriade flackernder Schatten über ihr böses Gesicht -- und gleich darauf öffneten sich ihre dunklen Augen, um tief in meine Seele hineinzublicken. Auf ihrem toten Gesicht formte sich ein Grinsen reinsten Hasses, das sich mit einem Ausdruck der Schadenfreude mischte, als sie langsam die Hände hob, um mir ihre blutroten Handflächen zu zeigen. Als ich einen Schritt zurücktrat, sank ich augenblicklich in die Schwärze der Tür und stürzte zu Boden, als mein Körper die äußerste Dunkelheit und Kälte des Schwarzen Hauses wie die Überdosis einer Droge in sich aufnahm.

***

Mein Bewußtsein kehrte nur sehr langsam zurück, denn nun schien sogar meine Seele durch diese äußerste Kälte erfroren zu sein. Als ich die Augen öffnete, sah ich das von Haß erfüllte Gesicht von Mrs. Widderson auf mich herunterblicken und mich im Licht der einzigen schwarzen Kerze mustern, die sie in der Hand hielt. Als ich nach ihrem weißen Kleid mit den hellroten Rosen Ausschau hielt, sah ich, daß sie nichts weiter als ihre eigene teigig-fahle Haut trug, die an vielen Stellen mit blutroten Flecken verschmiert war.
"Ich freue mich, daß du in den Kreis meiner Freunde eingetreten bist!" sagte sie. Da wußte ich, daß ich auf dem Boden in ihrem kreisrunden Raum in dem Turm lag, und daß meine eigene Seele sich mit den allumfassenden Seelen ihrer Zwillingsschwestern verbunden hatte. Mrs. Widderson hob mit einer unvermittelten Bewegung die schwarze Kerze an ihre Lippen, blies die Flamme aus, bald begann die ewig fallende Klinge mit ihrer nimmerendenden Marter. Als ich zu schreien anfing, schrie ich mit den vereinten Stimmen der Zwillingsschwestern; das schwarze Miasma quoll aus unseren Mündern und füllte den kreisrunden Raum aus, und dann fiel es nach draußen durch die Öffnungen im oberen Viertel des dämonischen Turmes, wo die Dachziegel fehlten. Im Schutz der Dunkelheit der Nacht breitete es sich in alle Richtungen aus nahm an rosenduftender Intensität zu, während es aufs neue danach strebte, die Bezirke jenseits der Südseite der Stadt zu erreichen.

(c) John B. Ford "The Eternally Descending Blade"
erschien zuerst 2000 auf der Thomas Ligotti Online-Website und wurde uns mit freundlicher Genehmigung des Autors zur Verfügung gestellt.
In Deutschland erschienen: Soledad # 3 INCOGNITAVILLE Januar 2001 (vergriffen)
Übersetzung: M. Angerhuber
eMail des Autors:
Kein Teil dieser Veröffentlichung (einschließlich Grafiken) darf ohne schriftliche Erlaubnis des Herausgebers oder Autors reproduziert oder übertragen werden, egal in welcher Form oder durch welche Hilfsmittel, elektronische oder mechanische, einschließlich Photokopie, Tonaufnahmen oder Speicherung auf derzeit bekannten oder zukünftig entwickelten Datenträgersystemen.